Orchestra | Von Renold Quade

„Tråg mi, Wind“ für Blasorchester

Wolken
Foto: Bernd Hildebrandt auf Pixabay

Die steirische Mundartdichterin Brigitte Hubmann schrieb den Text für das berührende „Tråg mi, Wind“, bevor sie im Oktober 2010 verstarb. Ein Stück, das mittlerweile nicht mehr aus dem Repertoire von Chören wegzudenken ist und das auch als Fassung für Blasorchester oder variable Bläserbesetzung zugänglich ist. Wir stellen das Werk von Christian Dreo vor, arrangiert von Fritz Winter und Manfred Hirtenlehner

Dass besondere Chorsätze sich gut eignen können von Bläsern interpretiert zu werden, dass wissen wir nicht erst seit ­Werken wie „Sleep“ von Eric Whitacre. Natürlich sind auch schon die Choralsätze von Johann Sebastian Bach oder „Denn er hat seinen Engeln befohlen“ von Felix Mendelssohn Bartholdy beredte Zeugen davon, dass eine Registrierung mit Bläsern seine tragende Wirkung nicht verfehlt. 

Zudem, und nicht zuletzt auch darum, sind es die ständigen Entwicklungen harmonischer Satzkunst, die zu Farbenspielen, gerade mit Bläsern, einladen. Aus den Wurzeln von Johann Sebastian Bach, Schritt für Schritt weitergedacht in den ihm folgenden Epochen, bis hin zu heutigen Einflüssen aus Jazz, Rock und Pop, und neuerdings auch beachtenswert mit aktuellen Strömungen aus der Volksmusik, geben auch Chorwerke somit gerne einmal Gedanken Nahrung, anders eingewandet zu werden. 

Ein Phänomen, das aber nicht nur für Chorsätze gilt. Solche Gedanken waren und sind bei Bläsern schon immer gut angelegt gewesen, denn Neugier und Vielfalt waren und sind hier stets sehr ausgeprägt. So ist es längst gepflegte Praxis, musikalischen Aussagen, die originär einer anderen Besetzung angedacht waren, mit unterschiedlichen Bläserinstrumentationen eine neue anregende und nuancierte Klangwirkung zu eröffnen und zu erlauben.

Der Komponist

Der österreichische Pianist, Organist und Komponist Christian Dreo, Jahrgang 1958, findet den Schwerpunkt seiner kompositorischen Arbeit in der Chormusik. Ein besonderes Augenmerk legt er darauf, neue singbare Literatur für den Laienchor zu schaffen und konzentriert sich dabei gerne auf das Genre der geistlichen Musik. Ebenso verfasst er Unterrichtsliteratur für junge Musiker. „Singen ist die intimste Form des Musizierens. Und das Zusammen-Singen in einem Chor die schönste Form gemeinsamen Musikmachens. Ich bin seit 55 Jahren in einem Chor, von der Volksschule bis zum Profichor, als Sänger, als Chorleiter, als Referent und als Jurymitglied. Ich habe alle Facetten des Chorsingens erlebt. Und bin immer noch fasziniert und begeistert!“

Von 1998 bis 2011 war Dreo Domkapellmeister am Dom St. Martin zu Eisenstadt und leitete dort den Domchor. Der Burgenländische Chorverband berief ihn zum Landeschorleiter, von 2000 bis 2022 stand er dem Landesjugendchor des Verbandes vor. Darüber hinaus verfügt er, nicht nur aus seinen Erkenntnissen als Instrumentallehrer an diversen Gymnasien heraus, über reichhaltige Erfahrung im Umgang mit unterschiedlichsten Formationen, von Streichquartett, über Blaskapelle, Tanzmusik, bis zum Orchester. 

Die Arrangeure

Der Posaunist Fritz Winter, hauptberuflich zu Hause am Staatstheater Gärtnerplatz in München, ist nicht nur ein bekanntes Gesicht bei German Brass, er schätzt auch die gepflegte Volksmusik. Als geistiger Vater des Quintetts „Die Schlenkerer“ spielt er dort nicht nur mit Leidenschaft Basstrompete und Tenorhorn, er probiert, arrangiert und komponiert vielfältige „bodenständige Blasmusik für Lippen, die dafür gemacht wurden“. Als diplomierter Sportlehrer ist er zudem gerne in der Natur unterwegs.

Manfred Hirtenlehner stammt aus Niederösterreich und ist seit dem 6. Lebensjahr auf verschiedensten Instrumenten unterwegs. Schnell wurde er Mitglied in mehreren Blasmusikkapellen und begann schließlich auch das Komponieren und Arrangieren für diverse Besetzungen. Nach Kursen am oberösterreichischen Landesmusikschulwerk nahm er in Mannheim ein Studium für Blasorchesterleitung auf. Seit 2015 ist er Kapellmeister der Stadtmusikkapelle Waidhofen an der Ybbs. Darüber hinaus war und ist er als Multi-Instrumentalist ein gefragter Musiker und umtriebig mit den unterschiedlichsten Formationen unterwegs. Als besonnenen Optimisten weist ihn ein Eintrag auf der Homepage der „Woodstock Academy“ aus. Motto: „Ois wird guad, oans noch dem aundan …“

Die Idee

„Brigitte (Gitti) Hubmann zum Gedenken“ würdigt eine Fußnote in der Chorausgabe des „Cedition-Musikverlages Christian Dreo“ das Schaffen der Dichterin: „Es ist etwas Besonderes, wenn eine einzelne Dichterin von allen Komponisten der Liederwerkstatt vertont wird. Wenn ihre Texte Zuhörer wie Musikschaffende gleichermaßen ansprechen. Wenn es einer Mundartdichterin gelingt, so zu schreiben, dass man als Komponist nicht umhinkann, ihre Worte in Musik umzusetzen. Brigitte Hubmann war diese Literatin. In positivstem Sinne einfach, schlicht und bescheiden und trotzdem tiefgründig hat sie es verstanden, ihre Seelenwelt in gereimte Worte zu fassen, auf eine Weise, die keinerlei Rücksicht auf Zeitgeist genommen hat und wahrscheinlich auch deshalb zeitlos sind. Ihre Gedichte haben, über ihren Tod hinaus, Kraft, Seele und Herzenswärme. Ihr ist dieses Lied gewidmet.“ 

Fritz Winter hörte dieses Lied von der Gesangsgruppe LALÀ (veröffentlicht 2014 auf der CD „Hoamat/Art“) und er war sehr fasziniert von dieser Interpretation, bei der seine geschätzte Kollegin Ilia Staple den Sopran sang. So fasziniert, dass er im Jahr 2018, zu seiner eigenen Hochzeit, eine Version für Blechbläserquartett arrangierte. „Auch wenn das Notenbild eher leicht aussieht, die Phrasen, die Verzögerungen und die Atembögen verlangen jedem Musiker, und noch viel intensiver jedem Ensemble, so einiges ab.“ Später, 2021, zu Beginn der Coronazeit, suchte sein Quintett „Die Schlenkerer“ noch nach einem stimmungsvollen langsamen Stück für ihr CD-Projekt „Zamm“. Man war sich schnell einig, hier wieder anzusetzen zu wollen.

Die Werkinfos des Verlages „Woodstock Music“ erklären über das Zustandekommen ihrer Arrangements unter anderem: „Eine Melodie, die traurig und tröstend, wohlig und herzzerreißend zugleich ist. Ein Stück, das mittlerweile nicht mehr aus dem Repertoire von Chören wegzudenken ist und das in dieser Ausgabe und auch als Fassung für Blasorchester oder variable Bläserbesetzung zugänglich wird.“

Aufbau und Instrumentation

Bislang zielen meine Betrachtungen sehr stark auf Belange ab, die intensiv auf das Wort fokussiert sind. Darauf liegt aber sicher auch die ganze Orientierung der Musik. Sie präsentiert ein in Intensitäten wechselndes großes Rubato, welches grundsätzlich in ruhigen Halben gedacht ist. Je nach Versmaß im Zweihalbe- oder Dreihalbetakt, oder an den „Fünferstellen“ halt gemischt. Das Chorlied legt, als vergleichsweise schlichtem Ausgangspunkt, lediglich einen vierstimmigen Satz, Sopran, Alt, Tenor und Bass, zugrunde. Dieser ist ohne Frage aber von besonderer Gestalt. 

Als es Fritz Winter in den Fingern juckte, eine Version für sein Quintett zu schaffen, übernahm er als Gerüst zunächst einmal, in der Originaltonart, diesen Satz wörtlich in den oberen vier Stimmen seines Ensembles. Die Basstuba setzte er dann, an von ihm als besonders intensiv empfundenen Stellen, immer wieder verteilt auf etwa die Hälfte der möglichen Takte des Stückes, klangsteigernd ein. Sie unterstützt selbstverständlich die Basslage, dabei sind die Oktavlagen wohl überlegt. Mal bewusst öffnend in die Tiefe, mal klangfärbend näher an die Ausgangsoktav.

Die Stimmkreuzungen an den beiden (dissonanten Tenor/Bass-) Textstellen »Land« empfindet er ebenfalls nach. Ab Takt 19 schwebt ihm bei den dort folgenden sechs halben Notenwerten eher eine Aufteilung in zweimal drei als in dreimal zwei vor. »Es ist mein Versuch, dem Text einen Rhythmus zugeben, vergleichbar halt mit Ansätzen, die man zum Beispiel im Zusammenhang mit einem gregorianischen Choral anwendet.« Zum Schluss belässt er es nicht beim offenen »Sixte ajoutée«. Er fügt, wie die Gruppe LALÀ, der offenen Subdominate mit großer Sexte einen weiteren Takt mit Tonika als Schlussakkord hinzu. 

Eng am Original von „Tråg mi“

Das Arrangement für großes Blasorchester ist ebenfalls sehr eng an das Original von Christian Dreo angelehnt. Es nutzt aber zudem, wohl den Gepflogenheiten des Blasorchestergenres mehr oder weniger sinnvoll geschuldet, ein kleines Extra. Winter und Hirtenlehner lassen es sich nicht nehmen, eine 16taktige Einleitung vorwegzustellen. Sie tritt an, den Duktus des „Liedes“ vorzubereiten. Aus einem Quintorgelpunkt heraus, die Partitur auffüllend und wieder reduzierend, formulieren vier kleine Phrasen aus der Motivik der Liedzeilen erste Stimmungsbilder. In dieser Länge durchaus üppig. Die Einleitung sollte sicher eher sehr defensiv angegangen werden, um den eigentlichen Spannungsbogen des Liedes nicht vorwegzunehmen. Pianissimo mit kleinen crescendi ist angegeben. Der Einleitung ist somit vor dem Hintergrund eigentlich nur »vorwärmen«  zu wollen und zu sollen, eine besonders wache und sensible Beachtung zu schenken.

Ab Takt 17 setzt das Lied ein. Es folgt explizit dem Chorsatz von Christian Dreo und empfindet diesen bewusst nach. Die Möglichkeit einer gemeinsamen Aufführung von Chor und Orchester ist also leicht möglich, mit dem Hinweis, dass der Chorsatz im Original einen Halbton tiefer gesetzt ist. 

Viele nuancierende Möglichkeiten der Orchestrierung

Mit über 30 Stimmen ergeben sich naturgemäß viele nuancierende Möglichkeiten der Orchestrierung. Zusätze, wie etwa ggf. neue Nebenstimmen, akkordische Klangteppiche oder sonstige Additive werden nicht eingeflochten. Warum auch, sie würden den Fluss und die intensive Wirkung von Konsonanzen, Dissonanzen, Auflösungen, Bluenotes, halt Färbungen aller Art, nur stören. Stattdessen nutzt das Arrangement, wie eine Orgel registrierend, je nach Aussagenuance die vielen Farbpaletten des Orchesters. So wird etwa die von Sehnsucht bestimmte Kernaussage „Tråg mi“ in der Hauptsache schlicht in milden Mittellagen abgebildet. Die mehr erzählenden Teile blühen eher stärker im Tutti auf. Dies geschieht durchweg in unkritischen Lagen. Das Orchester sollte immer in der Lage sein, unaufdringlich, aber auch voluminös, präzise und deutlich, aber auch warm und demütig zu klingen. Auch hier wird am Ende auf einen Schlussakkord in der Tonika nicht verzichtet. 

Der Einstufung „Schwierigkeitsgrad: B (Mittelstufe)“ kann man in beiden Bearbeitungen, was rein die handwerklich zu erledigenden Aufgaben betrifft, folgen. Aber wir wissen ja längst, dass nicht nur die Tonhöhe, sondern auch die Phrase, die Abstimmung, die Balance und die damit verbundenen klanglichen Herausforderung die Musik ausmachen. Da bedarf es eines gesteigerten Engagements und wertiger Fähigkeiten. 

Fazit

Als ich die Orchesterversion einem jungen Orchester im Rheinland vorstellte, war ich durchaus unsicher, wie ein für sie definitiv erster Kontakt mit dieser Art zu musizieren ankommen würde. Nur kurz habe ich mit ein paar Worten die Thematik Tod und Hoffnung angerissen und darum gebeten, möglichst ohne Härten einfach dem Klang und dem Phrasenempfinden atmenden Raum zu geben. „Zeigt große, aufeinander achtgebende Geschlossenheit und nutzt viel Luft im Sinne von großem Volumen.“ Es sei im Grunde ein Choral, aber eben nicht streng nach Johann Sebastian Bach.

Nach zwei, drei Anläufen brauchte ich nicht mehr viel zu erklären. Die Musik übernahm „selbstklingend“ die Regie. Nützlich und sinnstiftend zur besseren Orientierung war dann die ein oder anderer Ergänzung von Phrasierungsbögen, Atemzeichen und kleine Markierung zu eher gefühlten ritardandi und Fermaten. „Ne, toll, sehr schön, macht Spaß. Das hat mich sofort angepackt“. So die Reaktion eines jungen Tubisten, im Tenor mit dem Orchester, auf meine Frage, ob wir das weiterverfolgen sollten. 

Ganz ehrlich, auch wenn zum Beispiel „Weisen blasen“ nun mal an und für sich keine Domäne im Rheinland ist, bereichert diese Facette internationaler Musikpflege omnipräsent alle wichtigen Eigenschaften, die Musiker sich grundsätzlich zu eigen machen sollten. Du genießt es zu atmen, zu hören, zu fühlen und Gemeinschaft zu erleben. Diese Botschaft schwingt hier intensiv mit.