Wenn man Matthias Schriefl das erste Mal begegnet, denkt man sich: »Was für ein Chaot!« Ganz falsch liegt man nicht, denn der 1981 geborene Trompeter liebt das Chaos. Aber er liebt auch die Struktur. Wie geht denn das zusammen? Wir haben uns mit Matthias Schriefl unterhalten.
Eines deiner Projekte heißt »Shreefpunk«, das mal als »Enfant terrible des deutschen Jazz« bezeichnet wurde. Ein Enfant terrible ist laut Lexikon ein »unkonventioneller Mensch, der dazu neigt, andere Menschen durch sein Verhalten zu provozieren und zu schockieren«. Letzteres möchte ich dir gar nicht unterstellen, dass Shreefpunk unkonventionell ist, schon eher. Braucht man sowohl das Chaos als auch die Struktur, die Kreativität wie die Disziplin?
Vor kurzem erschien ein Porträt über mich bei Trumpetscout, überschrieben mit »Punk und enfant penible« (trumpetscout.de). Vielleicht trifft diese Bezeichnung, frei übersetzt »penibler Punk«, besser auf meine Band Shreefpunk und auf mich zu. Ich habe eine sehr klare und detaillierte musikalische Vorstellung, liebe es aber auch, den Zufall mitspielen zu lassen.
Diese beide Eigenschaften von mir stellen keinen Widerspruch für mich dar, sondern befruchten sich sogar gegenseitig. Gegensätze ziehen sich ja bekanntlich an und befruchten sich auch gegenseitig.
So gehen wir mit Shreefpunk bei manchen Stücken enorm akribisch vor und proben oft ein einzelnes Stück mehrere Tage lang, bevor wir es erstmals öffentlich aufführen. Trotzdem haben wir genügend Platz für Rauheit und Spontanität auf der Bühne. Oft vereint sogar ein einzelnes Stück die Akribik und schier endlose Freiheit. Vielleicht gehört zu einem Freigeist auch beides: Disziplin und die Bereitschaft, Chaos zuzulassen und zu lieben.
Was hat es mit deiner aktuellen Platte »Europa« auf sich? Erzähl doch mal kurz die Entstehungsgeschichte und die Hintergründe!
Die CD »Europa« mit Shreefpunk plus Bigband ist mit Sicherheit die CD, in die ich bisher am meisten Herzblut und Arbeit investiert habe – und das mit großem Vergnügen. Andere fahren in den Urlaub in die letzten Ecken Europas, ich komponiere diese Reise und verbringe viele Tage und Nächte im Studio, um sie zum Klingen zu bringen.
Es gibt für mich zwei Arten von Aufnahmen: entweder die Live-Aufnahme, bei der ich fast immer mit tontechnischen Kompromissen leben muss, zum Beispiel dass bestimmte Instrumente einen künstlichen Pick-up-Sound haben oder das Schlagzeug schwammig wird. Trotzdem transportieren gute Live-Aufnahmen den Geist der Musik und die Atmosphäre im Raum.
»Europa« ist eine absolute Studio-Aufnahme, bei der ich mit perfekten Signalen von den teuersten Mikros im Analog-Studio so lange rumgeschraubt habe, bis jedes Instrument genau an seinem Platz war und auch seinen Platz bekam, um die Message der Musik zu transportieren. Bei »Europa« war ich so perfektionistisch im Studio, dass ich teils für einen Titel zwei Wochen gemischt habe, und das hat sehr viel Zeit, Geld und Nerven gekostet, weil ich wirklich an alle Limits gegangen bin, was man am Ergebnis wirklich hören kann.
Wenn ich etwas mache, will ich es gescheit machen und höre erst dann auf zu arbeiten, wenn das Ergebnis gut ist, unabhängig von Zeit, Budget oder anderen Rahmenbedingungen. Die Platte »Europa« ist für mich die Mutter aller meiner Studio-CDs, weil ich für das Abmischen alles in allem sieben Jahre gebraucht habe.
Die lange Zeitdauer lag daran, dass ich dafür in ein teures Analogstudio ging und es nicht einfach war, dort so oft so lange Zeiträume zu bekommen.
Stichwort Disziplin – welcher Gedanke schießt dir beim Wort Disziplin als erstes in den Kopf?
Als Erstes denke ich da an meine erste Grundschullehrerin, von der ich das Wort zum ersten Mal gehört habe.
Hat das Wort für dich eine negative Konnotation?
Ja, die hatte es mal für mich! Die positive Disziplin ist für mich allerdings die Selbstdisziplin. So ist es eines meiner Ziele, in bestimmten Sachen selbstdisziplinierter zu werden, beispielsweise im Zeitmanagement.
Es gibt natürlich auch Situationen, in denen zu viel Disziplin sehr schädlich ist, zum Beispiel beim Musizieren auf der Bühne, weil sie die Interaktion und die Spontanität auch einschränken kann. Wer mag ein Jazz-Solo hören, bei dem der Solist schon alles im Vorfeld geplant hat?
Gute Musik entsteht im Jetzt und interagiert mit dem Umfeld. Ganz ohne Disziplin funktioniert Musik jedoch nicht – schon organisatorisch. Irgendwann muss das Konzert und jedes Stück anfangen und aufhören. Und jedes Stück sollte eine Geschichte erzählen, der sich die Musiker unterordnen. Je größer die Band, desto mehr Selbstdisziplin braucht jeder Einzelne, um die Musik in eine klingende Form zu bringen.
Disziplin ist eine Eigenschaft, die in der Klischeevorstellung vom »chaotischen« Künstler nicht vorkommt. Stimmt das?
Sie ist sein Feind und sein Freund gleichzeitig, es ist eine Hassliebe.