Herzlich willkommen zur neuen Serie „Üben üben!“ bei der in jeder BRAWOO-Ausgabe ein Satz zur Gestaltung bzw. Planung des Übens im Mittelpunkt steht. Die Artikel sind nach Barbara Mintos „Pyramiden-Prinzip“ gestaltet: zuerst der Grundgedanke, dann nähere Erläuterungen dazu. Das hat nebenbei auch den Vorteil, dass Sie, liebe Leser, selbst bei schnellem Durchblättern die Kernaussage wahrnehmen.
Der Psychologe Karl Anders Ericsson (1947 bis 2020) veröffentlichte vor 27 Jahren die Studie über Berliner Geigenstudenten, die durch den Autor Malcom Gladwell in seinem Buch „Überflieger“ zur 10000-Stunden-Faustregel und dem allzu simplen Kausalzusammenhang „Du musst nur 10000 Stunden lang üben, und schon erbringst du Spitzenleistungen“ vereinfacht wurde.
Denn wenn Sie Ihre Übezeiten mit dem Prinzip „Hoffnung“ verbringen und damit wie eine tumbe Maschine die Vorgehensweise „Wiederhole so oft und so lange, bis du es kannst“ unreflektiert zelebrieren, huldigen Sie damit auch dem Prinzip „Enttäuschung“, wie es der deutsche Cellist und Hochschullehrer Gerhard Friedrich Mantel (1930 bis 2012) in seinem sehr lesenswerten Buch „Einfach üben – 185 unübliche Überezepte für Instrumentalisten“ ausdrückt.
Das Prinzip des Problemlösens
Er befürwortet dagegen das „Prinzip des Problemlösens“, bei dem der Weg zwischen dem aktuellen spielerischen Können eines musikalischen Abschnitts und dem erstrebten Idealziel genau analysiert wird. Oder anders ausgedrückt: Es ist äußerst wichtig, eine Vorstellung davon zu haben, wie „es klingen“ soll und damit eine mentale Repräsentation „im Kopf“ und inneren Gehör zu erschaffen.
Diese innere Vorstellung kann man etwa aus den grafischen Symbolen des Notentextes ableiten, sich aus Tonaufnahmen oder bei einem Livekonzert heraushören oder sogar als Komponist bzw. Improvisator aus sich selbst heraus entwickeln.
Wenn dieser wichtige erste Schritt getan ist, hat man ein erstrebenswertes musikalisches Ziel. Dann erst kann man seine aktuelle musikalische Interpretation dazu in Beziehung setzen und eventuelle Abweichungen analysieren. Um diese Unterschiede an die mentale Repräsentation anzunähern, können verschiedene Übemethoden verwendet werden.
Analytische Aufmerksamkeit
Doch verlassen wir diese graue Theorie und machen eine Abweichungsanalyse im realen Leben. Suchen Sie sich bitte einen kurzen ein- oder auch mehrtaktigen Notenabschnitt aus ihrem Überepertoire und erschaffen Sie sich eine mentale Repräsentation, wie es klingen soll. Dann spielen Sie den Notenabschnitt mehrmals mit rotierender analytischer Aufmerksamkeit, achten Sie zum Beispiel beim:
- ersten Spielen auf die richtige Tonhöhe
- zweiten Spielen auf die richtige Tondauer
- dritten Spielen auf die Lautstärke bzw. den Lautstärkeverlauf
- vierten Spielen auf das Tempo
- fünften Spielen auf die Klangfarbe
- sechsten Spielen auf die Artikulation
- siebten Spielen auf das Vibrato
und so weiter, je nachdem, wo sie den Scheinwerfer Ihrer Aufmerksamkeit hinlenken möchten.
Seien Sie Ihr eigener Lehrer! Behandeln Sie sich wertschätzend und liebevoll positiv fordernd. Denn jeder muss sein eigener Lehrer werden, um sein eigener Schüler zu bleiben.
Der Autor Jürgen K. Groh ist Master of Arts, Dirigent, Moderator und Vizepräsident der WASBE Sektion Deutschland. Er ist unter der E-Mail Adresse juergenkgroh@brawoo.de zu erreichen.