Brass, Orchestra, Wood | Von Hans-Jürgen Schaal

Über Walt Disneys Musikfilm „Fantasia“

walt disney
Foto: stux - Pixabay

Manches Element in „Fantasia“ mag heute kitschig wirken. Doch die Übersetzung anspruchsvoller Musik in geometrische Formen, stimmungsvolle Landschaften, kreatürliche Bewegungen oder lustige und bedrohliche Geschichten war 1940 nicht nur eine technische Meister­leistung. Sie war ein mutiges, visionäres Kunstexperiment.

Seit 1929 produzierte Disney hin und wieder sogenannte „Silly Symphonies“ – kurze Zeichentrickfilme, die ausschließlich mit Musik unterlegt wurden. Meist erstellte man für diese Begleitmusik ein detailliertes Arrangement (einschließlich diverser Soundeffekte), das dann direkt zu den laufenden Bildern dirigiert, gespielt und aufgenommen wurde – so erreichte man eine optimale Synchronizität. Das Spielen zum Film hieß bei den Musikern „Mickey Mousing“ – die Aktionen der Trickfiguren gaben sozusagen unmittelbar das Timing vor. Disney wusste: „Action, verbunden mit musikalischen Patterns, besitzt im Reich des Irrealen immer einen großen Zauber.“ 

Mickys großer Auftritt

1937 hatte Disney den Einfall, das Ganze auch einmal umgekehrt anzugehen. Anstatt dem Film ein Arrangement „auf den Leib“ zu schneidern, sollte die Musik an erster Stelle kommen. „Normalerweise unterlegen wir die Action mit Musik“, erklärte Disney, „aber hier bebildern wir die Musik, anstatt diese der Story anzupassen.“ Damit sich die Zeichner mit den Klängen synchronisieren konnten, arbeitete man damals schon mit einem Click-Track. Disneys geniale Idee war, Paul Dukas’ Tondichtung „L’Apprenti sorcier“ – nach Goethes Ballade „Der Zauberlehrling“ – in eine Trickfilm-Geschichte zu übersetzen. Die „Hauptrolle“ als Zauberlehrling fiel Micky Maus zu, Disneys wichtigster Figur. Micky hatte ge­rade ein kleines Comeback nötig – und ein optisches Update.

Fantasia
Leopold Stokowski (Foto: George Grantham; Bain-Collection)

Der mutige Schritt in die (moderne) klassische Musik hinein wäre kaum gelungen ohne einen namhaften klassischen Dirigenten. Walt Disney und Leopold Stokowski hatten sich zufällig in einem Restaurant in Hollywood kennengelernt. Stokowski war bereit, das Dirigat kostenlos zu übernehmen und ein komplettes Sinfonieorchester auf die Beine zu stellen. Natürlich stand dabei die Hoffnung im Raum, durch Micky Maus ein neues, junges Publikum für die Klassik zu in­te­res­sieren.

Das Problem war das Geld. Die Kosten für die ungewohnt aufwendige Arbeitsweise und für das große professionelle Orchester überstiegen am Ende das Budget der „Silly Symphonies“ um ein Vielfaches. Was tun? Disney dachte positiv und wendete das Problem in eine neue Chance. Er (oder Stokowski) schlug vor, mehrere solcher Klassik-Trickfilme zu einem abendfüllenden Kinofilm zusammenzufassen, der viel höhere Ein­nahmen erwirtschaften könnte. So entstand die Idee, ein ganzes Klassikprogramm zu präsentieren – wie einen Konzertabend. Der Arbeitstitel lautete „The Concert Feature“. Man ersetzte ihn dann durch „Fantasia“.

Ein Konzertprogramm fürs Kino

Welche Musikstücke eigneten sich? Was für ­Geschichten wollte man im Trickfilm erzählen? Welche Musik passte zu welcher Geschichte? – Viele Vorschläge wurden damals gemacht, die meisten wieder verworfen. Auch viele bild- und tontechnischen Experimente waren angedacht, die meisten scheiterten am Geld. Am Ende wurde es ein 2-Stunden-Film mit acht (teils stark gekürzten) klassischen Musikwerken von (in dieser Reihenfolge) Bach, Tschaikowsky, Dukas, Strawinsky, Beethoven, Ponchielli, Mussorgsky und Schubert. 

Zwischen den Stücken sieht und hört man au­ßer­dem die Orchestermusiker beim Einstimmen und Einspielen – gefilmt mit ambitionierten Licht-und-Schatten-Effekten. (Einmal jazzt der Klarinettist ein paar Takte lang.) Auch der Dirigent wird gezeigt: Micky Maus schüttelt Stokowski nach dem „Zauberlehrling“ sogar die Hand. Ein Moderator führt durchs ganze Programm, und es gibt auch eine Konzertpause. Disney wollte, dass sich das Kinopublikum fühlt, als säße es im Konzertsaal.

Der Trickfilm zu Dukas’ „Zauberlehrling“ bietet, was das breite Publikum von Disney erwartet: eine vermenschlichte Tierfigur, Action, Humor, Ungeschick und Horror – und ein gutes Ende. Die übrigen ­Filme im Programm sind etwas anders ­gemacht. Tschai­kow­skys „Nussknacker-Suite“ (sechs der acht Stücke wurden verwendet) zeigt fantasievoll-lustige bis märchenhaft-kitschige Trickfilm-Ballette mit Naturthematik. Die tanzenden Pilze in der „Danse Chinoise“ muten in der Optik chinesisch an, die tanzenden Blumen im „Trepak“ lassen an Kosaken denken. Den Anfang macht der „Tanz der Zuckerfee“: Fliegende Elfen erwecken die Natur zum Morgenlicht. 

Im „Tanz der Stunden“ (aus der Oper „La Gioconda“) gibt es mehr von den typischen Disney-Elementen und immerhin das Skelett einer ­Story: Alligatoren bedrohen Strauße. Es ist eine vergnügliche Mischung aus Ballett und Verfolgungsjagd. Für die humorigen Höhepunkte sorgen Nilpferde in Tanzröckchen und grazile Elefanten. Disneys Zeichner hatten dafür umfangreiche Ballett-Bewegungsstudien angestellt. 

Satyrn und Saurier

Einer der Trickfilme in „Fantasia“ sollte nach Disneys Wunsch in die Welt der griechischen Mythologie führen. Als Musik dafür wählte man nach verschiedenen Versuchen schließlich Beethovens „Pastorale“ (die 6. Sinfonie) – zwar sehr stark gekürzt, aber mit allen wichtigen musikalischen Themen. In verniedlichter Form treten auf: Götter, Satyrn, Zentauren, Einhörner, Pegasusse usw. Die angedeutete Story folgt grob dem Programm der Sechsten (Idylle, Erntefest, Gewitter usw.), garniert mit Disney-typischem Humor. Obwohl diese Filmepisode vor und nach Erscheinen des Films „zensiert“ wurde, löst sie einige Kontroversen über rassistische und sexistische Darstellung aus. 

Ein weiterer Wunsch Disneys war es, die Urwelt zu zeigen – die neuesten Dinosaurier-Funde wurden in den USA viel diskutiert. Strawinskys Ballett „Le ­Sacre Du Printemps“ ist zwar ursprünglich nicht in der Urzeit angesiedelt, aber immerhin in tiefer Vergangenheit. Als Disney das Stück erstmals hörte, war er begeistert: „Das wäre perfekt für prähistorische Tiere! Es gäbe den Dino­sauriern, fliegenden Echsen und prähistorischen Monstern etwas Grandioses!“ Der Trickfilm beginnt mit der Entstehung der Erde und den ersten Einzellern – man beruft sich in der Moderation auf wissenschaftliche Berater. Der Film ­endet aber, bevor in der Erdgeschichte der Mensch auftaucht. Disney wollte keinen Konflikt mit bibel­gläubigen Kreationisten.

Gestalten in luftigem Tanz

Viel Beachtung fand auch die Verfilmung des ersten Konzertstücks: Johann Sebastian Bachs „Toccata und Fuge in d-Moll“ in einer heute berühmten Orchestrierung von Stokowski. Der Trickfilm zu Bachs Musik beginnt mit den agierenden Musikern selbst, entwickelt dann aber semi-abstrakte, farbige Muster. Es sind geo­me­trische Formen, verbunden mit Assoziationen von Wolken, Wasser, Licht, Schatten, Landschaften, Feuerwerk, Suchscheinwerfern, Sonnenauf- oder -untergang usw. – eine »psyche­delische« Vision, die schon ein wenig die Ligeti-Sequenz im Film „2001“ vorwegnimmt. An der Umsetzung wirkte Oskar Fischinger mit, der in Deutschland bereits „abstrakte“ Trickfilme (zum Beispiel für die Werbung) produziert hatte. Später wurde er abstrakter Maler. 

Eine weitere „ungegenständliche“ Umsetzung von Tönen gibt es in einem Zwischenspiel in „Fantasia“, das den „Soundtrack“ als ge­zeich­nete, zitternde Linie vorstellt. (Die Tonspur im Film war 1940 noch ein ­Novum.) Inspiriert von Amplituden-Spektralbildern aus der Physik, werden hier Töne verschiedener In­stru­mente als Verformungen der Soundtrack-Linie ­gezeichnet – natürlich mit freier Fantasie und viel ­Humor. 

„Fantasia“ wirft grundlegende philosophische Fragen zum Sinn und Verständnis von Musik auf. Man fühlt sich an Hanslicks Vergleich von Musik mit bunten Arabesken erinnert, die sich fort­während neu bilden: „Der Inhalt der Musik sind tönend bewegte Formen“ (1854). Oder an eine Stelle in Goethes „Wilhelm Meister“, wonach die Instrumentalmusik Ähnlichkeit mit „Schmetterlingen oder schönen bunten Vögeln“ habe (1796). Auch E.T.A. Hoffmann scheint eine ­Szene aus „Fantasia“ zu beschreiben, wenn er Beethoven paraphrasiert: „Seltsame Gestalten beginnen einen luftigen Tanz, indem sie bald zu einem Lichtpunkt verschweben, bald funkelnd und blitzend auseinanderfahren und sich in mannigfachen Gruppen ­jagen und verfolgen“ (1814).