Brass, Orchestra | Von Andreas Michel

Warum wir die Musik so sehr brauchen. Jupiter-Workshop für Blasmusiker

Leerer Saal

Der Wert gewisser Dinge erschließt sich oft dann besonders klar und eindringlich, wenn sie uns fehlen: beispielsweise beim Verlust eines geliebten Menschen, dem Ausbleiben von Erwartungen oder der Absenz von Gewohnheiten. Gerade in Zeiten des corona­bedingten Lockdowns, in denen uns gemeinsames Proben und Musizieren oder gar Konzerte aus sicher berechtigten Gründen versagt sind, spüren wir den Verlust von Musik ganz intensiv und grundlegend.

In seiner Rede zum 1. Mai 2020 beim Europakonzert der Berliner Philharmoniker sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier: “Kunst und Kultur sind, in einem sehr buch­stäblichen Sinn, Lebensmittel.” Und er hatte so Recht, denn unser Hunger danach ist während des Lockdowns besonders schmerzlich spürbar geworden. 

Ohne Frage ist die Kultur – und damit verbunden auch das soziale Miteinander – ein tiefes Grundbedürfnis des Menschen. Wen wundert dies? Und so wurde es ganz offensichtlich: Musik und somit auch das gemeinsame Musizieren sind für die Gesellschaft ein unverzichtbarer Teil des ­Lebens und zugleich Lebensfreude im besten Sinne. Musikinstitutionen sind Institutionen der gesellschaftlichen Daseinspflege.

Die Knappheit der Finanzen im Kultursektor ist für die leitenden Personen seit Jahrzehnten ein ständiges Ostinato. Wer nicht das Glück hat, zum Beispiel durch eine Stiftung oder Ähnliches unterstützt zu werden, kennt den jährlichen Kampf um das finanzielle Überleben. Inhaltliche Ziele müssen dabei meist den finanziellen Rahmenbedingungen Platz machen. Kultur wird ­gerne gelobt und gepriesen – doch unterm Strich wird ihr wahrer Stellenwert für unsere Gesellschaft verkannt und unterschätzt. 

In diesen Tagen allerdings, in denen die persönlich erfahrbare Kultur gänzlich fehlt, erleben wir den praktischen Beweis dafür, dass Kulturinstitutionen wie Theater, Musikschulen, Orchester, Chöre und Vereine keine wirtschaftlichen Unternehmen sind, sondern Institutionen zur gesellschaftlichen Daseinspflege. Sie sind der Mörtel, der die Gesellschaft formt und zusammenhält. 

Wann findet Musik wirklich statt?

Musik, die im Moment erfahrbar und spürbar ist – sei es in Live-Konzerten oder bei Musik­proben –, ist als unmittelbares Spontan-Erlebnis schlichtweg alternativlos. Zwar können Online-Angebote ein temporärer Ersatz sein, doch das authentische Erlebnis »von Angesicht zu Angesicht« ist ein zutiefst menschlicher Wunsch un­se­res Daseins. 

Nun wird auch deutlich, dass musikalische Konserven, also abgespielte Dateien, die im Vorfeld durch Schneiden und Verbessern unnatürlich ­optimiert wurden – zweifelsohne erstaunlich perfekte Musikdarbietungen –, niemals ein anwesendes Publikum widerspiegeln können. Es ist also besonders diese Form der Interaktion zwischen den Musizierenden und dem Publikum, die das Erleben von Musik zu einem sozialen Erlebnis werden lassen. 

Schon der große Dirigent Sergiu Celibidache, unter dem mein Vater oft gespielt hat, führte ­immer wieder aus, dass Musik nur im Moment entstehen könne – im Moment der Darbietung im Zusammenklang mit allen Anwesenden und der Reflexion des Raumes, unter der Voraus­setzung, dass die Interpretation durchdacht, schlüssig und sinnvoll sei. 

Wie Musik wirkt

Umso mehr können wir nun die Menschen verstehen, die das Erleben von Musik so sehr vermissen. Ich stelle hier bewusst nicht die Frage nach der Systemrelevanz. Wie auch immer man sie beantworten würde: Fest steht, dass Musik ohne Frage zu unserem Leben gehört. Sie fördert auch in hohem Maße unser Wohlbefinden, weil sie uns selbst bestätigt, stärkt und bestärkt, weil sie unser Innerstes exakt widerspiegeln kann, weil sie tonisiert und harmonisiert. Und Musik bildet, denn Musizieren bereichert unseren Intellekt nachweisbar und positiv. Wichtige Querverbindungen bezüglich Motorik, Emotion, aber auch kognitive Wirkungen und Kreativität finden statt und formen uns ganzheitlich.

Soziale Aspekte

Wer Musik vorträgt, sollte sich immer im Klaren darüber sein, was sie im Menschen bewegt und warum wir Menschen sie so sehr lieben und brauchen. Es ist nicht nur der Perfektionismus des virtuosen Vortrags, der uns begeistert. Es sind vor allen Dingen die Aussage der Musik und die Tatsache, dass sie uns anspricht, berührt und damit Gemeinschaft und Verständnis schafft. Erst dann findet Musik im besten Sinne wirklich statt. Möge sie uns immer so berühren, wie wir mit ihr auch unser Gegenüber berühren können. So können Verständnis, Empathie, Gemeinschaft, Toleranz und Respekt zugleich entstehen. Da­rum möge der Wert der Musik für unsere Gesellschaft niemals unterschätzt werden.

Andreas Michel

Andreas Michel

ist JUPITER-Coach für hohes Blech. Er ist ein hochgeschätzter klassischer Trompeter und absolvierte sein Studium an der Musikhoch­schule in Heidelberg-Mannheim mit dem Abschluss Dipl.-Orchestermusiker.

Er nahm unter anderem Konzerttätigkeiten in folgenden ­Orchestern an: Nationaltheater Mannheim, Freie Kammersinfonie Baden-Württemberg, Trompetenensemble ARTA, Philharmonie Baden-Baden, Staatstheater Stuttgart, Staatstheater Karlsruhe, Württembergische Philharmonie Reutlingen, Orchesterakademie unter Professor Helmuth Rilling. Darüber hinaus ist er Musikschulleiter der Jugendmusikschule Pforzheim.

info@andreas-michel-musiker.de 

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