Brass | Von Rémi Gaché

Was ist das Hochstapler-Syndrom? – Jupiter-Workshop für Blasmusik

Lampenfieber

Zweifel am eigenen Können und das Gefühl, einem anderen Musiker oder einer anderen Musikerin mit mehr Kompetenz den Platz wegzunehmen – das sind typische Anzeichen für das Hochstapler-Syndrom. Aber wie kommt man aus dieser Abwärts-Ge­dankenspirale wieder heraus? Rémi Gaché empfiehlt den Dialog mit anderen Musizierenden.

Das Konzert beginnt in einer Stunde. Ich nehme mir noch die Zeit, mein Eufonium, mein Mikrofon, meine Effektpedale und meine Kabel zu überprüfen. Yanni Balmelle, der Gitarrist, holt uns ein paar Bier und Stéphane ­Ranaldi, Schlagzeuger und Bandleiter, sagt mir mit strahlendem Gesicht: “Das wird ein tolles Konzert werden!” Es ist ein schöner Sommerabend, alle Tische sind gebucht und “Oléum Camino” (übersetzt: Öl auf dem Feuer) bereitet sich darauf vor, drei energievolle Sets zu spielen, die die Stammgäste des Peristyls der Opéra de Lyon sicherlich schockieren werden. Ja, ich ­denke, es wird ein großartiges Konzert werden.

Selbstzweifel

Hoffentlich werde ich mich nicht in der Form von “Loop On” verlieren. Und hoffentlich wird mein Auto-Wah auf “Steckborn” funktionieren. Hoffentlich werde ich mir “Près d’ici” richtig merken. Meine Gedanken rasen und die Zweifel häufen sich. Die letzten Sonnenstrahlen streifen das Dach des Rathauses, der Place de la Comédie leert sich langsam und die ersten Zuschauer nehmen ihre Plätze ein. Das Konzert beginnt in wenigen Minuten, aber ich bekomme diese negativen Gedanken nicht aus meinem Kopf. Was, wenn mein Mikrofon nicht funktioniert? Wenn es einen Wackelkontakt gibt? Was, wenn ich eine Gedächtnislücke habe? Und dann kommt plötzlich eine zweite Stimme zu der anderen hinzu: Du bist nicht dafür ausgebildet, das ist nicht dein Platz! Du hast klassische Musik ­gelernt, du kannst nicht improvisieren! Dieses Trio braucht einen Kontrabass, kein Eufonium! Yanni und Sté­phane spielen viel besser, du hast nicht das Niveau! Und so weiter…

Das eigentlich produktive Lampenfieber verwandelt sich in eine absurde Spirale, die mein Selbstvertrauen auf Null senkt. Ich habe nicht nur das Gefühl, dass ich nicht dazu passe, sondern auch, dass ich an diesem Abend eigentlich gar nicht auftreten “dürfte”. Es fühlt sich so an, als ob ich eines anderen Platz wegnehme, dass ich ein Hochstapler bin. Ich versuche meine Zweifel zu ignorieren, sie zu vergessen und mich auf die Musik zu fokussieren.

Im Nachhinein betrachtet war es eines unserer besten Konzerte, voller schöner Momente, mit soliden Grooves und großzügigen Soli. Wir waren alle drei zufrieden und das Publikum war ­begeistert, obwohl unsere Musik für das Peristyl ungewöhnlich war (vielleicht sollten wir den Ort als peri-Stil bezeichnen, auf Altgriechisch »um den Stil herum«). Meine Bedenken waren völlig unbegründet.

Das Hochstapler-Syndrom

Das Hochstapler-Syndrom wird oft im Unter­nehmenskontext verwendet und beschreibt die Zweifel einer Mitarbeiterin oder eines Mitarbeiters an der eigenen Kompetenz; das Gefühl, den Platz einer kompetenteren Person eingenommen zu haben, ein “Impostor” zu sein.

Ich war zu diesem Zeitpunkt seit über einem Jahr Teil des Trios und Stéphane hatte mir schon oft gesagt, dass er mein Spiel und die Präsenz des Eufoniums in der Band haben möchte. Ich war sehr motiviert, ich habe die Stücke aus­wendig gelernt, ich habe meine Improvisationen vorbereitet, ich habe für das Trio komponiert… Trotz all dieser Bemühungen hatte ich weiterhin Zweifel. Warum also bleibt diese Stimme in meinem Kopf, die mir sagt, ich gehöre nicht dazu?

Das Hochstapler-Syndrom soll bei Introvertierten häufiger auftreten, weil sie ihre eigene Meinung auf ihre Gefühle stützen. Die Lösung wäre also, Rückmeldungen von anderen Menschen einzuholen. Es hat lange gedauert, bis ich darüber sprechen konnte. Das ist das Problem, wenn ich mich wie ein Hochstapler fühle: Ich habe Angst entdeckt zu werden, also behalte ich alles für mich! Im Laufe der Konzerte konnte ich durch die positiven Feedbacks von Stéphane und Yanni meine Zweifel überwinden. Ja, ich war kein reiner Jazz-Musiker, aber ich brachte eine wertvolle Energie in das Trio ein. Nein, die Fehler waren kein Problem, alle machen Fehler. Nach und nach verschwand meine Un­sicher­heit und ich lernte, mich durchzusetzen. Aber woher kam dieses Gefühl, ein Hochstapler zu sein? Was könnte es rechtfertigen? Lag es daran, dass ich Klassik studiert hatte? 

Der klassische Musiker, der nicht Klassik spielt

Es ist absurd, aber ich fühlte mich im klassischen Kontext noch viel weniger wohl. Natürlich hatte ich während mei-
nes Studiums die Literatur für Eufonium erkundet, meine “Etudes” von Clarke und Pichaureau in allen zwölf Tonarten geübt. Am Ende dieser klassischen Ausbildung hatte ich eine solide Technik erlernt, aber ich konnte die Concerti für Eufonium nicht mehr aushalten; ich hatte eine Reggae-Band und eine Straßenband, mit denen ich viel mehr Spaß hatte als bei den Vorspielen am Konservatorium. Ich hatte keine klassischen Projekte, keine Duette, keine Kammermusik, kein Blasorchester, nichts. Ist es nicht komisch, ein klassischer Musiker zu sein, der keine klassische Musik spielt? 

Wenig wurde für das Eufonium komponiert, weil es ein modernes Instrument ist. Die einzigen Eufonium-Concerti sind für Virtuosen gedacht, die ihr Instrument über fünf Oktaven spielen können, Doppelzunge mit 200 bpm artikulieren und das alles mit Flexibilität und Ausdauer. Ich liebte klassische Musik, aber ich spielte sie nicht, weil die Werke für Eufonium zu schwierig waren. Die negativen, entmutigenden Gedanken kehrten immer wieder: Ich habe nicht das Niveau, um klassische Musik zu spielen, Klassik ist etwas für Musikerinnen und Musiker, die eine Ausbildung an einer Musikhochschule absolviert haben, es gibt sowieso kaum Werke für Eufonium… Das Gefühl, dass ich Klassik nicht spielen dürfte, hemmte meine Vorliebe für klassische Musik und die Partituren schlummerten in meiner Schublade. Glücklicherweise hat mich eine einfache Frage aus dieser traurigen Situation befreit.

Vorurteile infrage stellen

“Aber wer hat gesagt, dass sich die klassische Musik auf die Eufonium-Concerti beschränken sollte?” Mit nur ein paar Worten zerstörte Dominique Clément, der mich während ­meiner Lehrer-Ausbildung begleitet hatte, meine Vorurteile ge­gen­über klassischer Musik und dem Eufonium. Mit seiner Hilfe habe ich angefangen, Werke von Komponisten, die ich liebte, zu arrangieren und diese für mein Instrument zu adaptieren. So entstand das Duo “Innere Stimme”, mit dem ich viele Konzerte spielte und ein Album mit Liedern von Robert Schumann in Berlin aufnahm. Wieder einmal hat mich der Dialog mit einem aufgeschlossenen Musiker einen Schritt weiter gebracht.

Das Hochstapler-Syndrom ist nicht in einem Augenblick verschwunden, ganz im Gegenteil. Die Jahre, in denen ich die Werke von Berlioz, Schumann, Chopin und Mendelssohn interpretierte, waren voll von Zweifeln und Fragen. Bei jedem Konzert stellte ich mir vor, dass jemand aufsteht und protestiert: “Was ist das? Er kann nicht spielen!” Wenn ich mit einem neuen Pianisten proben musste, sagte ich mir: “Er wird merken, dass ich schlecht spiele, er wird nicht mit mir arbeiten wollen!” Nach einem Konzert vermied ich Komplimente und gestand mit schuldbewusstem Blick: “Ja, aber ich habe nicht in der Musikhochschule Klassik studiert.”

Selbstzweifel ausräumen

Rückblickend ist es mir klar, wie lächerlich diese Gedanken sind. Zwar haben Selbstzweifel auch ihre guten Seiten und es ist wichtig, sich selbst infrage stellen zu können. Aber die meiste Zeit waren es die negativen Gedanken, die den Stress aufbauten und mich davon abhielten, Fortschritte zu machen. 

Vielleicht haben Sie beim Lesen dieses Artikels gedacht: “Das habe ich auch schon erlebt!” Oder vielleicht fühlen Sie sich jetzt gerade genau so, vielleicht haben Sie es nur noch nicht in Worte gefasst. Vielleicht haben Sie das Gefühl, dass sie nicht dazugehören. Dass Sie die Komplimente nicht verdient haben. Das sie nicht “gut genug” sind. In diesem Fall sollten Sie, wenn Sie auf die Bühne treten, an Folgendes denken: Sie sind an ihrem Platz, weil sie geprobt haben, weil Sie stundenlang mit Ihrem Instrument geübt haben, weil Sie ein Arrangement geschrieben haben, weil Sie Musik lieben und all das mit Ihren Freunden und Ihrem Publikum teilen. Sie haben sich den Applaus und die Komplimente nach dem Konzert verdient! Vergessen Sie Ihre Zweifel, jetzt sind Sie an der Reihe!

Jupiter

Rémi Gaché

ist ein junger, außergewöhnlicher Künstler, der sowohl in der Klassik als auch im Jazz zu ­Hause ist. Er studierte Eufonium an der ENMV (Lyon, Frankreich), absolvierte einen Bachelor in Musik­wissenschaft und Päda­gogik und studiert weiter am Jazz Institute of Berlin. Trotz seines jungen Alters hat er ­bereits mit berühmten Musikern eu­ropaweit zusammengearbeitet (Ebony Bones, Kenji Miura, Pax Nicholas). 

www.innerestimmeduo.com