Die Beherrschung von Mehrklängen ist heute fester Bestandteil der „erweiterten“ Spieltechnik bei fortgeschrittenen Bläsersolisten. Was sind Multiphonics?
Auf Blasinstrumenten spielt man einen Ton nach dem anderen – so ist es jedenfalls gedacht. Erfahrene Bläserinnen und Bläser wissen allerdings, dass auf ihrem Instrument auch komplexe Mehrklänge möglich sind. Die Grundlage solcher „Multiphonics“ ist das Hervorbringen von zwei Tönen gleichzeitig. Dabei bilden sich – real oder als Illusion im Gehirn des Hörenden – weitere sogenannte Differenz- und Summationstöne. Wenn zwei Blockflöten angeblich „unisono“ spielen, hört man solche „Schwebungen“ ständig. Als einer der Ersten hat der Geiger Giuseppe Tartini die Differenztöne beschrieben, wie sie bei Doppelgriffen auf der Geige entstehen – sie heißen daher auch Tartini-Töne. Man unterscheidet zum Beispiel quadratische Differenztöne, die sich zwischen zwei Grundfrequenzen bilden, oder kubische Differenztöne zwischen einem Grundton und dem Oberton eines anderen Grundtons.
Blechbläser erzeugen den für Multiphonics nötigen zweiten Ton am besten mit der Stimme. Schon Carl Maria von Weber (1786 bis 1826) hat diese Technik in seinem Concertino für Horn und Orchester salonfähig gemacht. Dort verlangt er vom Hornsolisten, dass er durch gleichzeitiges Blasen und Singen einen viertönigen Akkord hervorbringt. Weber war natürlich bewusst, dass diese Spieltechnik heikel und ungewohnt war – er nannte sie eine „Künstelei“. Im 20. Jahrhundert hat der Jazzposaunist Albert Mangelsdorff (1928 bis 2005) das Akkordspiel nahezu perfektioniert. „Es wird eine Note gespielt und eine darüber gesungen“, erklärte er schlicht. „Durch die Reinheit des Intervalls zwischen dem gespielten und dem gesungenen Ton bilden sich Obertöne, sodass Akkorde entstehen. Ich bin ein Sänger durch die Hintertür.“ Auch andere Jazzposaunisten haben Multiphonics-Techniken verfeinert, etwa Roswell Rudd, Paul Rutherford, Bill Watrous und Nils Wogram. In der Neuen Musik profilierte sich Vinko Globokar als einer der Ersten mit Multiphonics an der Posaune.
Holzbläser erzeugen Multiphonics dagegen in der Regel durch „falsche“ Griffe
Holzbläser erzeugen Multiphonics dagegen in der Regel durch „falsche“ Griffe. Man greift zum Beispiel einen tiefen Ton, lässt aber eine der oberen Klappen dabei offen. Auf diese Weise können komplexe Akkordklänge hervorgebracht werden, deren Töne jedoch eng gereiht als dissonante „Cluster“ erklingen. Manchmal muss man diesen „Spaltklängen“ nachhelfen, indem man den Ansatz am Mundstück ändert, stärker oder schwächer anbläst, den Unterkiefer lockert, die Lippen- und Zungenstellung variiert usw. Natürlich ist hier ebenfalls der Einsatz der Stimme möglich, etwa für den sogenannten „Growl„.
An der Querflöte haben Severino Gazzelloni (E-Musik), Rahsaan Roland Kirk (Jazz) und Ian Anderson (Rock) den Stimmeinsatz bekannt gemacht. Zu den Multiphonics-Pionieren am Saxofon gehörten frühe Jazzsolisten wie Adrian Rollini und Illinois Jacquet. Bei den Freejazz-Saxofonisten der 1960er Jahre waren Multiphonics als gesteigertes, äußerstes Ausdrucksmittel weit verbreitet. In seinem Stück „Harmonique“ verwendet John Coltrane Multiphonics sogar als Pointe des Themas.
In der neueren Konzertmusik experimentieren vor allem Oboisten und Klarinettisten mit Multiphonics-Techniken. Berühmt wurden Luciano Berios „Sequenza VII“ (1969) und Heinz Holligers „Studie über Mehrklänge“ (1971), beide für Oboe solo. Über die Griffvorgaben für die Multiphonics wird viel diskutiert, da jedes Instrument (und jede Anatomie) andere Ergebnisse hervorbringt. Mehrklänge lassen sich an der Oboe sowohl durch „falsche“ Griffe erzeugen als auch durch „richtige“ Griffe mit „falscher“ Intonation. Manche Griffe sind so unzuverlässig, dass man sie als »aleatorisch« bezeichnet hat. An der Klarinette ist die Situation ähnlich. Der Schweizer Virtuose Reto Bieri sagt: „Feinste Mehrklänge und subtile Luftgeräusche sind auf der Klarinette überaus anfällig und schwierig zu spielen. Kleinste Faktoren entscheiden über das Gelingen oder Scheitern. Da hilft nur Üben, Beten und Hoffen. Genau in dieser Reihenfolge.“
Bisher erschienen: „Stichwort Rohrblatt-Trio„, „Stichwort Saxofonquartett„, „Stichwort Marsyas“ und „Stichwort Tristantrompete“, „Stichwort Naturtonreihe“, Stichwort Saxofonkonzert, Stichwort Sarrusofon, Stichwort Gucha, Stichwort Jazzsolo, Stichwort Orgel, Stichwort Posaune