Neulich erzählte mir ein Musikschul-Kollege diese kleine Anekdote: Nach einer vollen Unterrichtswoche hatte er das Gefühl, zwar viel gespielt, aber nicht so wirklich geübt zu haben. Und da für das folgende Wochenende ein Konzert anstand, wollte er sich nach dem Abendessen zurückziehen mit der Erklärung: "Ich muss dringend mal wieder eine Runde Töne aushalten." Woraufhin seine Frau nur trocken erwiderte: "Fragt sich, wer das aushalten muss…".
Warum Töne aushalten?
"Töne aushalten" ist schon so ein Insider-Wort. Eigentlich müsste es, so wie wir Bläser es gebrauchen, sogar in einem Wort geschrieben werden: "Das Töneaushalten" als feststehender Begriff. Steht so aber nicht im Duden.
Dabei weiß jeder Bläser sofort, was gemeint ist. Gehört eben dazu, wenn man sich einspielt. Zum Aufwärmen, um die Muskulatur vorzubereiten. Können Sie genau benennen, worauf Sie beim Töneaushalten achten? Wohin geht Ihre Konzentration? Was möchten Sie erreichen?
Klang-Training
"Ich brauch das einfach, um meinen Klang zu finden", ist eine der Antworten, die immer und jedes Mal von irgendjemandem genannt wird, wenn ich diese Frage in meinem Methodik-Seminar stelle.
Und es wäre sicher böse zurückzufragen: "Wie konnte er denn seit dem letzten Üben verlorengehen?" Oder vielleicht so: "Woher weißt du schon vorher, dass du ihn erst finden musst?"
Nach meinem Verständnis ist die Basis des Klangs eine bewusste Luftführung. Nur, wenn ich diese kontrollieren – und damit variieren – kann, ist dieses Maximum an Flexibilität im Ansatz möglich, das ich für Klangfarben, Intonation, Dynamik etc. brauche. Daher soll es in dieser und der nächsten Ausgabe darum gehen, wie das "Töneaushalten" als Luftführungstraining gestaltet werden kann.
Luftführung auf der Flöte
Im Gegensatz zu den anderen Blasinstrumenten bietet der Tonerzeugungsvorgang auf der Flöte keinerlei direkten Widerstand, der uns als Gegenkraft bei der Dosierung des Blasdrucks helfen könnte. Daher kennt sicher jeder Flötende das Gefühl, dass die Luft "einfach so weg geht…".
Und ich erinnere mich noch gut an das erste (bewusst erlebte) Jugendorchesterprojekt, an den deprimierenden Moment, als die Oboe neben mir unsere wunderbare Unisono-Melodie elegant auf einem Atem spielte, während ich gefühlt nach jedem dritten Takt in Luftnot war…
Oder das Staunen, wenn ich mir Profi-Aufnahmen der Stücke anhörte, die ich gerade zu üben begann… Meine Güte, müssen die denn nie amten?
Inzwischen weiß ich natürlich, dass da keinerlei Zauberei dahintersteckt. Nicht einmal so etwas wie Begabung oder Talent spielen dabei eine Rolle. Nun gut, vielleicht ein klein bisschen die körperliche Disposition – der Unterschied zwischen großen und kleinen Menschen, zwischen Männern und Frauen – aber eigentlich geht es nur um das Wissen um die anatomischen, mechanischen Vorgänge und konsequentes Training. Also: Bewusstheitsübung, Muskelaufbau und Koordinationstraining.
Atmen kann doch jeder!
Denn strenggenommen üben wir nicht "zu atmen", sondern die natürlich und unbewusst ablaufenden Vorgänge zu manipulieren. Wir üben, gegen unsere Reflexe zu arbeiten. Was nicht immer so leicht ist, wenn wir nur daran denken, was mit der Atmung "automatisch" passiert, wenn der Puls sich beispielsweise bei Aufregung beschleunigt.
Sind Sie sich Ihrer Atembewegungen ganz bewusst? Wissen Sie, an welchem Punkt Sie ansetzen, wenn Sie etwa bei Aufregung Ihre Atmung beruhigen wollen? Worauf konzentrieren Sie sich, wenn Sie für eine lange Phrase "Luft sparen" wollen? Oder wenn Sie in einer Phrase nur Zeit für eine Schnappatmung haben?
Schon wieder so viele Fragen… Und wenn Sie alle Fragen konkret beantworten können, wenn Sie genau wissen, welche Muskelgruppe, welche Bewegung bei den einzelnen Punkten im Bedarfsfall Ihre volle Aufmerksamkeit bekommt: Gratulation!
Alle Übrigen sind hiermit herzlich eingeladen, sich mithilfe der unten stehenden schematischen Darstellung die Atembewegung noch einmal zu vergegenwärtigen.
Ein- und Ausatmung

- Die Lungen sind mit den Rippen verbunden und folgen der Bewegung des Brustkorbs. ird der Brustkorb durch die Kontraktion der inspiratorischen Zwischenrippenmuskeln angehoben, wird Luft in die Lungen gesogen
- Das Zwerchfell ist unser großer Atemmuskel. Er ist rundherum am unteren Rippenbogen angewachsen und trennt den Bauchraum vom Brustraum. Im entspannten Zustand ist es gewölbt wie eine Kuppel. Beim Einatmen senkt es sich ab und zieht Luft in die Lungen, da diese auch mit dem Zwerchfell verbunden sind.
- Wenn sich das Zwerchfell absenkt, verdrängt es das Gedärm, weshalb sich der Bauch (bei entspannten Bauchmuskeln) nach außen wölbt.
- Beim Ausatmen senkt sich der Brustkorb wieder (weil die Einatemmuskeln loslassen) und die Luft wird aus den Lungen herausgeschoben. Wenn dies schnell passieren soll, wird der Brustkorb mithilfe der exspiratorischen Zwischenrippenmuskulatur zusammengezogen.
- Bei einer extremen Ausatmung schieben die Bauchmuskeln das Gedärm zusammen. Dadurch wird das Zwerchfell nach oben in den Brustraum geschoben, die Lungen werden zusammengedrückt, Luft herausgeschoben.
- Wenn sich das Zwerchfell entspannt, geht es zurück in seine Kuppelform – und schiebt die Lungen zusammen. So wird die Luft herausgeschoben.
Für mich war es seinerzeit eine umwälzende Entdeckung, dass bei der Atmung nicht die Lungen der aktive Part sind, sondern dass dieses passive Gewebe (sieht man von den elastischen Kräften ab) beatmet wird. Dass also nicht die Luft in den Lungen den Bauch und den Brustkorb nach unten bzw. außen drückt, sondern dass durch die aktive Weitung des Brustraums und die Absenkung des Zwerchfells die Luft in die Lungen gesogen wird.
Das war für mich eine völlig neue Bewegungsvorstellung. Eine befreiende Vorstellung, weil aus dem "Druck nach außen" bei der Einatmung ein "Weiten" wurde. Und ich will damit nicht sagen, dass mir vorher niemand die Atmung erklärt hat oder dass ich überdurchschnittliche und außergewöhnlich auffällige Probleme gehabt hätte (also solche, die über das übliche "nicht genug Luft" und "nicht schnell genug einatmen" hinausgehen) – nur fehlte mir anscheinend eine konkrete, mechanische Vorstellung, losgelöst von jeglicher musikalischen Intention.
Den Unterdruck spüren
Mit meinen Schülern mache ich gern folgende Übungen. Dabei können sie spüren, wie die Bewegung der Bauchdecke/des Zwerchfells bzw. des Brustkorbs die Lungen bewegt und damit Luft eingesogen bzw. abgegeben wird.
- Atmen Sie sich komplett leer, indem Sie den Brustkorb maximal zusammenziehen und die Bauchmuskeln extrem anspannen. Das soll wirklich anstrengend sein! Achten Sie darauf, dass Sie beim Zusammenziehen der Muskeln die Idee des Ausatmens nicht vergessen. Nur so wird der Halsraum (die Glottis) offen bleiben.
- Wenn Sie ganz leer sind, schließen Sie Mund und Nase und lassen dann – bei geschlossenen Luftwegen – die Bauchmuskeln los. Der Brustkorb bleibt extrem zusammengezogen!
- Dieser Unterdruck, dieser "Zug in den Innereien", der dann entsteht, kann sich unangenehm anfühlen.
- Öffnen Sie nun Mund und Nase und genießen Sie, wie sich mit der einströmenden Luft die Muskulatur in eine angenehme Spannung bringt.
Was ist passiert? Durch die extreme Anspannung der Bauchdecke haben Sie über das Gedärm das Zwerchfell weit in den Brustraum geschoben, es überdehnt. Beim Lösen der Bauchdecke entstand nun ein Unterdruck:
Das Gedärm zog nach unten, das Zwerchfell (mit dem Gedärm verbunden) konnte nicht folgen, da die Lungen bei geschlossenen Luftwegen nicht mit Luft gefüllt werden konnten. Wiederholen Sie die Übung ruhig mehrmals, bis sie genau nachspüren können, wie die Bewegungen mechanisch zusammenhängen.
Gleiches Spiel mit der Brustatmung:
- Atmen Sie sich wieder ganz leer, wie oben beschrieben.
- Schließen Sie Mund und Nase, sodass keine Luft einströmen kann.
- Versuchen Sie nun, eine "Tarzan-Brust" zu machen, also den Brustkorb angeberisch aufzurichten. Die Bauchdecke bleibt angespannt!
- Auch hier entsteht ein Unterdruck.
- Öffnen Sie Mund und Nase, genießen Sie die Lösung der Spannung, wenn der Brustkorb sich heben kann.
Hierbei lässt sich gut spüren, dass die Lungen der Bewegung des Brustkorbs folgen; was sie aber eben nur können, wenn die Luftwege geöffnet sind.
Muskeltraining – Koordinationstraining
Sollen die Atemmuskeln trainiert werden, dann kann dies unter dem Aspekt "Kraft-Ausdauer" oder "Koordination" geschehen. Ich kann nur empfehlen, beides wirklich getrennt zu denken. So kann ich bei auftretenden Problemen deren Ursache genauer eingrenzen und meine Aufmerksamkeit besser lenken.
Und mit der Übung von oben haben wir gleich ein gutes Beispiel für Koordinationstraining. Dabei geht es darum, ein Gefühl für die einzelnen an der Atembewegung beteiligten Muskelgruppen zu bekommen, sie unabhängig voneinander bewegen und somit größtmögliche Kontrolle über die Gesamtbewegung erreichen zu können.
Um die bläserische Atembewegung ganz deutlich vom gewohnten "Atmen" zu trennen, habe ich mit meinen jüngeren Schülern das Bild entwickelt, dass der Bauch bzw. der Brustkorb "die Luft hin und her schiebt". Diese Vorstellung ist bewusst sehr mechanisch, die Konzentration liegt auf der Bewegung.
Töneaushalten als "Ausatmen mit Instrumentenkontakt und Tonproduktion"
Also experimentieren Sie beim Töneaushalten mit den Bewegungen der einzelnen an der Atembewegung beteiligten Muskelgruppen. Bewegen Sie nur die Bauchdecke, nur die unteren Rippen oder nur das Brustbein und "schieben Sie Luft hin und her".
- Beobachten Sie, ob sich auch wirklich nur die Bauchdecke bewegt, wenn Sie die Bauchdecke bewegen wollen – oder ob sich "automatisch" andere Regionen mitbewegen. Gerade das soll bei dieser Übung nicht passieren bzw. bewusst werden!
- Wenn dies gelingt, verbinden Sie bewusst die Einzelbewegungen: erst die Bauchbewegung, dann die unteren Rippen; erst der Bauch, dann das Brustbein, dann die Rippen; erst das Brustbein, dann den Bauch, dann die Rippen… sowohl beim Einatmen als auch beim Ausatmen.
- Bleiben Sie wachsam! Es passiert schnell, dass sich beim Heben des Brustkorbs die weiche Bauchdecke anspannt und umgekehrt: dass beim Lösen der Bauchdecke der Brustkorb zusammenfällt!
- Üben Sie, die Gesamtbewegung in Einzelbewegungen zu zerlegen, diese bewusst zu spüren. So können die Einzelbewegungen optimiert, unbewusste Mitbewegungen enttarnt – und letztlich die Atembewegung optimiert werden.
Ich empfehle, alle Bewegungsübungen zunächst ohne Instrument durchzuführen, bis klar ist, "wohin ich denken muss". Wenn das ganz gut klappt, nehmen Sie einen bequemen Griff (auf der Flöte zum Beispiel d² oder es³), bei dem Sie Ihr Instrument stabil halten können.
Wichtig ist, dieses Töneaushalten nicht als Klangübung zu verstehen – noch nicht! Vielmehr geht es um "Ausatmen mit Instrumentenkontakt und Tonproduktion" – ganz mechanisch gedacht. Beobachten Sie, inwieweit die Spielhaltung die Atembewegung verändert – und ob das sein muss.
Korrigieren Sie gegebenenfalls die Haltung, vergleichen Sie, inwieweit sich die Bewegung mit und ohne Instrument unterscheidet. Finden Sie eine Spielhaltung und Bewegungsvorstellung, die eine freie Bewegung der Atemmuskulatur ermöglicht. Sich mit der Klangqualität zu beschäftigen, ist bereits ein anderer Aufmerksamkeitspunkt!
(Vgl. Gerhard Mantels Prinzip der "Rotierenden Aufmerksamkeit" in CLARINO 9/2017)
In der nächsten Ausgabe (CLARINO 11/2017) lesen Sie: Töneaushalten als Kraft-Ausdauer-Training