Orchestra | Von Klaus Härtel

Welche Kriterien gibt es für ein gutes Konzertprogramm?

Die Suche nach der richtigen Auswahl für das Konzertprogramm – ist sie so mühsam wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen? Ja, mühsam ist sie definitiv. Und doch gibt es Kriterien, die man im Vorfeld beachten kann und sollte. Markus Theinert beantwortet und dis­kutiert auch Ihre Frage! Schreiben Sie eine E-Mail an theinert(at)brawoo.de

Herr Theinert, uns hat eine Frage an Sie erreicht, die zunächst einmal einfach klingt, vermutlich aber gar nicht so einfach zu beantworten ist: Was sind die Kriterien für ein richtig gutes Konzertprogramm?

Natürlich gibt es Kriterien für die Programmauswahl. Allerdings würde ich mich da nicht nur auf das Programm selbst beschränken. Auch das Ensemble, die Umstände, der Raum, die technischen Möglichkeiten usw. spielen dabei eine wichtige Rolle. Die Frage ist: Gibt es das opti­male Konzertprogramm, das allen Ansprüchen genügt? Eine Stückauswahl, die beim Publikum genauso gut ankommt wie bei den Musikern? Dieses Thema kann man sicherlich nicht mit wenigen Sätzen erörtern. Es gibt da einen ganzen Katalog an Aspekten, die für eine gute Zusammenarbeit zwischen Dirigent und Orchester wichtig sind. 

Kann man behaupten: Ein gutes Konzertprogramm wird es immer geben, ein perfektes Konzertprogramm hingegen ist fast ausgeschlossen?

Eine solche Einschätzung ist natürlich sehr persönlich. Die Perspektiven sind verschieden: Es ist ein Unterschied, ob ein Konzertbesucher über das Programm spricht, der Dirigent, die Musiker oder der Zeitungskritiker, der am nächsten Tag darüber schreibt. Insofern können wir nicht für jeden Einzelnen entscheiden, was ein gutes oder schlechtes Programm ausmacht. Jeder wird das ein bisschen anders sehen. Der Dirigent hat die Verantwortung, das Programm in Hinsicht auf den musikalischen Anspruch optimal abzustimmen.

Denn als Musiker wollen wir doch ein Werk musikalisch erleben und nicht in erster ­Linie die Konzertpresse zufriedenstellen. Wenn etwa der Kritiker feststellt, es sei ein perfektes Konzertprogramm gewesen, wir aber haben musi­kalisch nichts erreicht, dann haben wir auch verloren. Und wenn sich die Besucher über bekannte Stücke im Programm gefreut haben, dann bedeutet dies nicht automatisch, dass das Orchester musikalische Nahrung bekommen hat. In einem guten Konzertprogramm sollten alle Aspekte berücksichtigt werden, denn es kann nur so gut sein wie unsere Aufführung gelingt. 

Die Möglichkeiten abwägen

Ein schlecht ausgeführtes Programm berührt nicht. Wenn ich ein Konzertprogramm zusammenstelle, muss ich die technischen Möglichkeiten des Orchesters auf die akustischen Möglichkeiten des Saales abstimmen. Ich muss auf die Grenzen des Orchesters in Bezug auf seine musikalische Verarbeitungsfähigkeit achten. Komplexe Strukturen einer faszinierenden Partitur, die mein Orchester aber nicht „verdauen“ kann, werden wahrscheinlich zu nichts führen, selbst wenn ich mir sehr viel Zeit für die Proben nehme.

Und das Gleiche gilt auch für das Publikum. Wenn musikalisch anspruchsvolle Werke eingebaut werden sollen, muss ich mein Publikum bereits mit vorausgegangenen Konzerten Stück für Stück dahingehend vorbereitet haben. Insbesondere bei zeitgenössischer Musik kann es außerdem hilfreich sein, wenn die Zuhörer die Gelegenheit erhalten, die musikalische Ent­stehungs­geschichte während des Probenprozesses mit zu begleiten. Mit einer guten Mischung aus Vertrautem und Neuem kann man solche Stücke gut rechtfertigen, ohne das Publikum komplett zu ignorieren.

Auch die Reihenfolge ist wichtig

Letztlich ist natürlich auch die Reihenfolge der Stücke im Konzert ein nicht zu vernachlässigendes Kriterium. Denn jede Komposition hinterlässt beim Hörer eine Nachwirkung. Bevor das nächste Werk beginnt, kann vielleicht eine kurze Moderation als Verschnaufpause für die Musiker dienen – aber auch als Übergang für die Ohren des Publikums. Dennoch muss ich dafür Sorge tragen, dass die Abfolge der Werke nicht komplett ohne musikalischen Zusammenhang konzipiert wird. Daher sollten wir auch auf die Ton­arten achten. Wenn ein Stück in Cis-Dur endet und das nächste in g-Moll beginnt, ist das ein Affront für unsere Ohren.

Ein diatonisches Verhältnis zwischen Ende des einen und Beginn des nächsten Werkes wird hingegen als harmonischer Übergang empfunden. Sonst wäre das wie in einem Sternerestaurant, in dem Vor-, Haupt- und Nachspeise nicht aufeinander abgestimmt sind. Die Reihenfolge ist auch in kulinarischer Hinsicht entscheidend und bedarf sowohl dem harmonischen Miteinander wie auch der kontrastierenden Abwechslung der Aromen und Konsistenz. Also selbst wenn man zehn wunderbare langsame Sätze aneinanderreiht, dann ist das menschliche Bedürfnis nach Abwechslung nicht befriedigt und das Publikum wird kaum aufmerksam bleiben. So ist auch der Wechsel von schnell und langsam enorm wichtig und ist vom Dirigenten für die Reihenfolge zu berücksichtigen. 

Die Gestaltung eines Konzertprogramms ist sehr komplex und kann sehr viel Arbeit machen. Wie gehe ich denn als Dirigent vor, um ein gutes Konzertprogramm zu erstellen? Suche ich zuerst die spielbaren Stücke für mein Orchester aus oder gehe ich eher nach den eigenen Vorlieben? 

Ich kann nicht immer davon ausgehen, dass nur solche Stücke ins Programm kommen, die von meinem Ensemble momentan gut bewältigt werden können. Das Ziel muss doch sein, auch das Orchester herauszufordern und Stück für Stück das Potenzial zu erkennen, welches durch gute musikalische Probenarbeit erreicht werden kann. Ein Konzertprogramm darf durchaus solche Werke enthalten, für die das Orchester zum momentanen Zeitpunkt an die Grenzen ­gehen muss. Wir dürfen nur nicht zu weit über diese Grenzen hinausgehen. Denn dies kann zu Frustrationen führen, wenn ein Stück bis zum Konzert nicht einmal technisch machbar ist, geschweige denn, dass die Musik gemeistert wird. 

Der andere Aspekt ist natürlich, möglichst früh mit der Programmgestaltung zu beginnen. Man sollte sich zusammen mit dem Orchester eine Repertoiresammlung aufbauen, die auch die Motivation für die Musiker erhöht. Ich brauche doch eine gewisse Begeisterungsfähigkeit, die ich mit dem Orchester teilen kann. Wenn mich als Dirigent eine Partitur fasziniert und ich dieses Werk unbedingt spielen möchte, aber mir gelingt es nicht, das Orchester auf die gleiche Wellenlänge zu bringen, dann habe ich im Grunde schon verloren. Die Reichweite meiner Probenarbeit ist so bereits eingeschränkt. Ich muss die Komposition buchstäblich »durchackern« und immer wieder neue Anstöße geben, damit die Musiker motiviert weiterarbeiten. Solange das Orchester meine Faszination nicht teilt oder die intrinsischen musikalischen Strukturen noch nicht erkennt, fehlt oft auch das Verständnis. Und dieses Verständnis entwickelt sich erst im Laufe der Zeit.

Vorschläge aus dem Orchester sind willkommen

Ich habe also immer Vorschläge aus dem Orchester mit ins Programm eingebaut. Und zwar nicht nur als „Alibi“, um die Musiker zufriedenzustellen. Ich wollte mir vor einer Entscheidung wirklich jeden einzelnen Vorschlag persönlich anschauen und die Partitur studieren. Im Falle einer Ablehnung konnte ich dies dann begründen, wenn ich etwa das musikalische Potenzial nicht gesehen habe oder das Werk akustisch nicht in den jeweiligen Konzertsaal passte. Ansonsten sind solche Vorschläge immer willkommen und binden ein engagiertes Orchester mit in den Prozess ein. 

Ist es Ihnen schon passiert, dass sie ein Werk mit dem Orchester einstudiert haben und dann gemerkt haben: Es funktioniert nicht?

Das kommt vor! Und zwar manchmal auch auf dramatische Art und Weise. Ich habe das nicht oft erlebt, aber wenn es dazu kommt, dann ist das sehr unangenehm. Wir hatten ein Konzert mit dem Saxofonsolisten John Edward Kelly, der drei Solowerke mit uns erarbeitet hat. Eines davon war ein zeitgenössisches Werk des niederländischen Komponisten Hans Kox, der zudem angekündigt hatte, nach München zur Premiere zu kommen. Nach der Generalprobe habe ich dann mit Kelly gesprochen und er bat mich, dieses Stück aus dem Programm zu nehmen.

Ich habe im ersten Augenblick gedacht, dass das Orchester nicht richtig vorbereitet war, aber er sagte, dass es damit nichts zu tun habe. Er selbst ­werde mit dem Stück nicht fertig. Und das kam aus dem Munde eines Meisters, der buchstäblich alles technisch bewältigen konnte, was er zwischen die Finger bekam. Den Komponisten dann anzurufen und ihm abzusagen, und dem Publikum mitzuteilen, dass das Stück nun doch nicht gespielt würde, ist natürlich schwierig. Letzten Endes aber war es die richtige Entscheidung. Das ist auch meine künstlerische Verantwortung, mir einzugestehen, dass ein Werk einfach noch nicht so weit ist. Unter diesen Bedingungen wäre ein musikalisches Er­leben auch gar nicht möglich.

Vollführt der Dirigent damit immer auch eine dieser Gratwanderungen? Er muss einerseits das Orchester und den Solisten fordern, darf sie aber nicht überfordern?

Natürlich ist die zur Verfügung stehende Probenzeit enorm wichtig und maßgeblich für eine gute Programmauswahl. Ich muss aus einer gewissen Erfahrung heraus kalkulieren, welcher Ar­beits­aufwand in der Vorbereitung für ein gutes oder ein fantastisches Konzert steckt. Wenn ich bemerke, dass die erforderliche Vorbereitungszeit nicht vorhanden ist, um all die Werke, die auf dem Plan stehen, gut genug vorzubereiten, dann muss ich eben ans Reißbrett zurückkehren, von vorne anfangen und notfalls ein bisschen ausdünnen. Dann könnte zum Beispiel ein anspruchsvolles Werk durch etwas leichtere Kost ersetzt werden.

Dirigenten überlegen sich oft, was ihr Publikum sich wünschen würde. Aber damit werden wir nie genügend musikalisch hochwertige Nahrung bekommen! Das wäre ungefähr so, als wenn ich sagen würde: Ich möchte das essen, was die Mehrzahl der Amerikaner verzehrt! Aber das ist ja nicht die Kost, die ich mir vorstelle. Ich muss meine Ansprüche wo­anders setzen. Ich möchte Musik präsentieren, die weit über die Bekanntheit eines Stücks hinausgeht. Nicht nur das Orchester wird gefordert, sondern auch das Publikum. 

Wenn Sie sich die Programme der Blas- und Sinfonieorchester ansehen, haben Sie manchmal den Eindruck, dass Orchester auch mal Wege abseits des Mainstreams ­gehen sollten? Wagen Dirigenten zu wenig?

Ja, sicher. Aber da spielen auch Abhängigkeiten mit hinein. Denn gerade die Sinfonieorchester, wenn sie nicht gerade komplett aus öffentlichen Mitteln finanziert werden, sind abhängig von ihren Einnahmequellen. Wenn das Publikum nicht mehr kommt, haben sie kein Auskommen. Das ist bei den Musikvereinen ein bisschen anders, da die ja im Wesentlichen ihre feste Fangemeinde haben. Das Publikum wird schon kommen. Aber dennoch: Ich sollte den Mut haben, Stücke auf das Programm zu setzen, die das ­Publikum und das Orchester ein bisschen fordern.

Natürlich muss meine Herangehensweise hier angemessen und ausgewogen sein, damit ich nicht Gefahr laufe, jeden Beteiligten zu überfordern. Wenn das Publikum nach Hause geht und nichts verstanden hat und die Musiker musikalisch nichts zustandebringen konnten, dann hat niemand etwas gewonnen. Wir müssen ­hierbei extreme Positionen vermeiden. Die Kon­traste im Programm müssen miteinander in Beziehung stehen. Das ist ein musikalisches Grundprinzip. 

Wäre es ein falscher Ansatz, zu sagen, dass wenn bestimmte Werke von bestimmten Komponisten gespielt werden, es ein richtig gutes Konzert wird?

Nicht unbedingt – außer ich schließe Komponisten kategorisch aus, weil sie mir bis jetzt im musikalischen Verständnis nichts sagen. Aber wir haben das in der Musikgeschichte tausendfach erlebt. Es gibt Komponisten, die an und für sich wenig musikalische Substanz haben, aber ein paar fantastische und zeitlose Sätze geschrieben haben. Warum soll ich das nicht spielen, nur weil der Komponist nicht einer meiner Favoriten ist? Auch ein Werk von einem musikalischen Superstar – wir haben im vergangenen Monat über Beethoven gesprochen – ist für ein Programm legitimiert, aber wir sollten uns nicht ausschließlich auf den Bekanntheitsgrad eines Komponisten verlassen. Für die Werbung mag das gut sein, die getroffene Entscheidung hingegen sollte musikalisch fundiert sein. Das Veranstaltungsmarketing ist nicht vollkommen unwichtig, aber der Dirigent kann dies erst ganz zum Schluss berücksichtigen. Wir sollten neue Pfade einschlagen, die über die Anziehungskraft bestimmter Komponisten und deren Werke hinausgehen. 

Also gibt es kein Standardrezept für ein gutes Konzertprogramm? Da muss der Dirigent also schon selbst nachdenken.

Wenn Sie alle Kriterien in einen Topf werfen, dann haben wir schon ein gewisses Rezept. Aber es gibt nicht die eine, allgemeingültige Vorgehensweise. Jedes Mal, wenn ich ein Werk aufs Konzertprogramm setze, sollte ich alle genannten Aspekte beachten. Ich muss die Möglichkeiten und das Potenzial des Orchesters dabei berücksichtigen. Wir können manchmal danebenliegen, vor allem, wenn wir mit einer ­neuen Gruppe zusammenarbeiten und deren einzelne Musiker noch nicht so gut kennen. Wenn ich ein Programm einem neuen Publikum präsentiere, werden viele Dinge optimiert, sobald ich mehr Erfahrung mit wechselnden Schauplätzen und lokalen Gepflogenheiten gesammelt habe.

Ein Dirigent wird nie mit dem bloßen Blick in die Partitur erkennen, wie dies in der vorhandenen Akustik umgesetzt werden kann. Er muss zunächst auch ausprobieren und dabei riskieren, dass es einmal danebengeht. Ich möchte die Dirigenten ermutigen, Fehler zu machen. Natürlich nicht bewusst, aber wenn man sich Fehler eingesteht, dann kann man davon für die Zukunft lernen. Wenn ich immer übervorsichtig bin und versuche, alles auf einmal zu berücksichtigen, werde ich womöglich nie in den Genuss kommen, mit meinem Orchester ein phänomenales Hörerlebnis bescheren zu können.