Brass, Orchestra, Wood | Von Stefan Dünser

Wie machen wir uns wieder fit für das Musikerleben?

Fit werden
Cartoon: Martin Rhomberg

Alles war anders. Da waren auf einmal jede Menge neuer Freiräume, aber keine Proben und Konzerte. Unser musikalischer Alltag wurde ein ganz anderer. Vielleicht haben Sie sich auch diesem oder jenem Online-Projekt angeschlossen, dies oder das gespielt, bisweilen auch richtig geübt. Gelegentlich ein Video verschickt. Aber eines war allem gemeinsam: Da war kein Datum, an dem das Geübte auch abgeliefert werden musste. Richtig effizientes Üben war ganz einfach nicht notwendig und wurde hinten angestellt.

Wir fragen uns jetzt vielleicht: Wie fühlt es sich an, wieder vor Publikum zu spielen, oder wie schaffe ich es, in den ersten Proben nach der Öffnung wieder fit zu sein, vor den Kolleginnen und Kollegen zu bestehen?

Ein bekannter Profitrompeter berichtete mir kürzlich: „Ich bin total verunsichert, ich musste einen Psychologen bitten, mir zu helfen, meine plötzlich aufkeimende Angst vor künftigen Auftritten zu bekämpfen.“ So weit sollte es nicht kommen. Also, was tun?

Zwei Bereiche stellen uns nun vor Herausforderungen: Wie erlangen wir wieder bläserische Fitness und psychische Ausgeglichenheit?

Für den Beginn ein Satz, der Sie trösten und stärken könnte: Wir müssen nicht gleich ausgezeichnet spielen, sondern wir dürfen sehr behutsam und langsam wieder ins Spielen reinkommen. Wenn wir uns das auch gegenseitig zugestehen, werden die ersten gemeinsamen Proben und Konzerte ein Vergnügen.

Es ist ratsam, sich nicht immer gleich zu fragen: „Wie fühlt sich das an?“ Legen Sie einfach los. Frei nach Wolfgang Guggenberger: „Zu viel Analyse kann schnell zur Paralyse werden.“

Das bläserische Handwerk

Wir müssen hier natürlich eine gewisse körper­liche Fitness voraussetzen. Aber Bewegung an der frischen Luft waren in den letzten Monaten wahrscheinlich ohnehin an der Tagesordnung. Na ja, vielleicht gibt es da noch Spuren von den etwas größeren Essensportionen und der etwas großzügiger bemessenen Anzahl von Weingläsern. Aber Kopf hoch, das normalisiert sich schon wieder!

Mundstückspiel – ein Alleskönner

Täglich drei bis fünf Minuten Mundstück spielen wirkt Wunder. Warum? Unser Luftfluss setzt sich aufgrund des kleineren Widerstandes viel leichter in Gang. Melodien und Dreiklänge können problemlos gespielt werden, da das Drücken der richtigen Ventile und das Betätigen des Zuges wegfallen. Alles schwingt und klingt gleich. Nacken und Schultern bleiben dabei unbelastet. Das Mundstückspiel unterstützt uns auch effi­zient in einer schnellen Suche nach einem zen­trierten Klang, eine Wohltat für unser bläserisches Empfinden. Dann die vereinfachte Luftführung, die auch durch einen eher glissandierenden Ton viel einfacher zu bewerkstelligen ist. So spielen wir gleich fließender und lockerer. Lassen wir auch den Zungenstoß weg, unterstützen wir unseren Luftfluss zusätzlich. Und natürlich die Intonation! Die Töne rasten danach auf dem Instrument viel besser ein. Starten Sie zuerst mit einer schönen Melodie, zum Beispiel mit einem einfachen Volkslied, steigern dann mit ein paar Dreiklängen.

Die Überleitung: kurz „pusten“

Pusten Sie ein paarmal entspannt, aber sehr bewusst durch Ihr Instrument, Sie werden sofort feststellen, wie sich Ihre Luftführung danach wesent­lich verbessert. Das natürliche Einatmen geschieht dann reflektorisch wie von selbst. Haben Sie auch schon beobachtet, dass viele gute Musikerinnen und Musiker vor dem Spielbeginn ein oder zwei Mal durchs Instrument pusten? Im Konzert kann man das prima mit dem Wasserausblasen verbinden.

Auf dem Instrument

Ausnahmsweise schreibe ich zuerst einmal, was Sie auf gar keinen Fall tun sollten. Sie sollten sich nicht zu sehr kontrollieren und nicht die Methode „Spielen und Fehler korrigieren“ anwenden. Diese Übemethode ist ohnehin meist relativ un­produktiv und bei Schülern demotivierend. Es gibt bessere Wege! Wir sollten uns zu Beginn stets auf das besinnen, was gut klappt und was wir gut können. Darauf können wir dann viel besser aufbauen.

Darf man jetzt keine Fehler mehr korrigieren? Doch, aber besser ist, sie so gut wie möglich gar nicht erst zu machen. Das erreicht man – vor allem beim Wiedereinstieg –, indem man Musik spielt, die man gerne spielt und leicht bewältigen kann. Wichtig ist auch, langsame Tempi zu wählen. Dann passiert der große Zauber: Man klingt und musiziert – bei jedem Ton, auch bei jeder Übung. Wenn das gelungen ist, darf man sich nach und nach steigern und Herausforderndes angehen.

Noch eine Falle 

Wir freuen uns derartig über unser Spiel, dass wir es gleich ein wenig übertreiben. Wir spielen zu laut, zu lange, zu viele hohe Töne und über­beanspruchen so unsere Lippen. Dann ist der Folgetag keine schöne Erfahrung mehr. Also: sanft beginnen und Pausen machen, denn kleine Pausen sind das Salz in der Suppe.  

Noch eine Falle: Wenn wir müde sind, probieren wir gerne aus, ob wir etwas Schweres doch noch „rausquetschen“ können. Aua, das kann schiefgehen! Sehr Schweres unbedingt nur dann üben, wenn man gerade gut disponiert ist. Die positive Erinnerung reproduziert dann nämlich im Ernstfall ein tolles Ergebnis.

Langweilige Caruso-Übungen?

Warum sollte man sich mit schnell überanstrengenden Übungen aufhalten? Auch hier gilt, zuerst schöne, einfache Musik auszuwählen: Weisen, vielleicht Schlager, langsame Sätze, lyrische Stücke jeder Art. Dann sollte man das Instrument wieder fünf bis zehn Minuten weglegen, den schönen Eindruck genießen und speichern. Wenn man nun wieder mehr und mehr ins Spiel versinkt, sollte man die Pausen nicht vergessen. Jeder Profi weiß, dass das Nachsinnen und inner­liche klangschöne Nachspielen einer Stelle oft mehr Verbesserung bringt als das echte Spielen. Ein toller Effekt, den man auch in den Spielpausen nutzen kann.

Ansatz aufbauen

Unsere Lippen sind DIE Herausforderung. Das stimmt, aber paradoxerweise haben wir den ­raschesten Erfolg, wenn wir genau das miss­achten. Es ist die Entspanntheit des Körpers und die richtige Vorstellung von Luftführung (also Fluss in Kombination mit dem richtigen Körpergefühl), die uns Erfolg bringen. Nicht einmal die Atmung, sondern wirklich der großzügige Umgang mit der Luft. Das bringt Klang, das gibt Ansatz.

Adolph Herseth, ehemaliger Solo-Trompeter des Chicago Symphony Orchestra, sagte einmal: „Spielen Sie mit festen Lippen und weichem Körper.“ Also: Unsere Lippen müssen sehr wohl „Kraft“ haben. Sie müssen aber nicht muskel­bepackt sein, sondern außen herum zäh. Ihre primäre Aufgabe ist es, innen zu schwingen. Sekun­där müssen sie bei uns Blechbläsern die Verbindung Mundstück und Zähne abdichten. Das war’s.

Erste Regel: So viel wie möglich im Piano üben, damit sich das Feingefühl einstellen kann und wir nicht so schnell ermüden. Zweitens müssen wir lernen, die „Maske“, die unser Ansatz bildet, stabil halten zu können. Den Rest des Spiels erledigen dann der Luftfluss und die Zunge: So ­ermüden wir nicht so schnell und klingen gut.

Wie trainiere ich diese „Maske“? 

Am besten trainiert man die „Maske“ auf unterschiedliche Arten. Die Variation beschützt uns vor einseitigem Muskelaufbau und Langeweile. Es ist ratsam, zunächst viele kleine Spielpausen zu machen, bevor man langsam längere Phrasen spielt. Nach einer Woche ist man dann schon besser belastbar. Auf keinen Fall aber darf man dabei zu sehr übertreiben. Steigern Sie langsam! Es folgen schließlich längere Abschnitte, etwa lyrische Stücke von Concone oder Bordogni. ­Musik, die man gerne spielt.

Andere Musiker üben dagegen sehr erfolgreich bestimmte adaptierte Übungen aus Schulen wie Clarke, Schlossberg, Colins. Carlos Beneto von „Spanish Brass“ etwa empfiehlt, die Nummer 157-151 von H. Clarke fünfmal die Woche zu spielen. Jede Übung soll man viermal wieder­holen ohne abzusetzen, gebunden und dann gestoßen. Hier spielt man also pro Tonart etwa zweieinhalb Minuten, ohne das Mundstück von den Lippen zu nehmen. Eine Wunderübung, wirklich. Aber Vorsicht: So viele Wiederholungen sollte man erst machen, wenn man schon eine gute Fitness hat. Im Pianissimo gespielt, kann eigentlich nie was passieren. Lässt die Kraft nach, kommt dann nämlich einfach kein Ton mehr, ein Zeichen, dass wir kurz Pause machen sollten.

Ein weiterer beliebter Dauerbrenner: leise Töne aushalten. 10 bis 15 Minuten fünfmal pro Woche reichen aus. Man startet in der Mittellage, geht dann eins nach oben, eins nach unten. Dies hält man dann jeweils 30 bis 60 Sekunden aus. 

Seien Sie kreativ und finden Sie eigene Übungen, die Sie mit Lust und Laune variieren. Ein Kollege spielt zum Beispiel täglich langsame ­Sätze von Barockstücken in Endlosschleife. Er spielt sehr, sehr gut! Einziges Grundgesetz: ­langsam beginnen, nicht übertreiben, erst mal nur leise und höchstens fünf- bis sechsmal pro Woche.

Zusammenfassung

Das bläserische Grundtraining hat ein paar Grundgesetze, bei deren Beachtung man rasch wieder auf Vordermann kommt:

1. Zu Beginn erst mal genießen und spielen, was man liebt.

2. Nur auf Musik und Fluss achten, nicht auf Fehler. 

3. Sich immer vorstellen, wie man klingen möchte.

4. Pausen machen, nichts übertreiben.

5. Leise spielen, um sich nicht zu überanstrengen.

6. Erst steigern, wenn man festen Boden unter den Füßen hat.

Die psychische Komponente

Die zu Beginn angesprochenen Probleme mögen nicht alle von uns betreffen, doch bleibt die Tatsache, dass man uns zuhört und zusieht, eine Herausforderung. Wir wollen bestehen.

Der Knackpunkt

Ausschlaggebend ist unsere Einstellung zu Leistung und Beurteilung. Was wir uns innerlich vorstellen, strahlt auch nach außen. Sind wir offene, tolerante und neugierige Menschen oder verurteilen wir Fehler anderer und in Folge dann auch bei uns? Etwaige negative Einstellungen graben sich gerne tief in unsere Psyche ein. All das spürt auch die Zuhörerschaft ganz genau.

Fehler passieren, immer und überall, sie sind zutiefst menschlich und sogar ein Muss, wenn wir uns entwickeln wollen. Wie lernt noch mal ein Kind Stehen und Gehen? Genau, von Fall zu Fall. Unzählige Male fällt es hin und steht wieder auf, bis es dann irgendwann einmal stehen bleibt. Warum gibt es nicht auf? Es kümmert sich nicht um Zuseher. Es will nur eins: Stehen. Auch bei Profis sind Fehler ganz normal, sie gehören ganz einfach dazu. Es sei ihnen von Herzen gestattet. Dafür bekommen wir einen mutigeren und lebendigeren Vortrag!

Fehler gehören dazu 

Ich erinnere mich an ein Interview mit dem Geiger David Garret. Er sagte: „Ein Fehler ist nichts, er ist völlig menschlich. Ich achte beim Vorspielen nicht auf meine Fehler, sondern zuerst auf meinen Klang und auf den Fluss der Musik, die ich spiele.“ So ein Denken wirkt und legt unseren Fokus auf das, worum es wirklich geht: um Musik. Natürlich will man möglichst schön spielen – aber auch beispielsweise ein schönes Gesicht muss ja nicht makellos sein. Die Sucht nach dem Ausgezeichneten kann der Killer für sehr Gutes oder Gutes sein. Aber in genau diesem Segment bewegen sich fast alle von uns. Darum sollten wir alles was gelingt wertschätzen – zuallererst bei uns.

Also was tun mit der Psyche?

Nehmen wir unsere Vorstellung in die Hand! Ich habe mir während der konzertlosen Monate ­immer vorgestellt, wie ich einem begeisterten Publikum vorspiele. Ich habe immer performt, auch bei Übungen und bei Tonleitern. Das ist ein ganz anderes Üben! Ganz klein anfangen: zuerst imaginär einem lieben Menschen vorspielen, dann schön sachte den Radius ausweiten. Dabei immer positiv bleiben, das wirkt.

Unsere Vorstellungskraft ist ein enorm starkes und schnell wirkendes Lerntool. Sie kann uns stärken und inspirieren. Und sie kann heilen. Ich habe die Monate genutzt, um mir immer Folgendes vorzustellen: Ich stehe an meinem Lieblingskonzertort (der Kölner Philharmonie) ganz alleine auf der Bühne und spiele die schönsten und auch schwierigsten Musikstücke. Das Publikum ist neugierig offenherzig und dankbar für jeden Ton. Wow, das hat gewirkt! So konnte ich einige alte Wunden heilen sowie Mut und Kraft für neue Herausforderungen schöpfen. Probieren Sie es aus!

Für Leistungssportler ist es ganz normal, sich einem Mentalcoach anzuvertrauen. Niemals könnten diese Stars sonst vor laufender Kamera solch großartige Leistungen vollbringen. Und wir Musiker glauben, den ganzen Druck alleine auf unsere Schultern nehmen zu müssen? Nein, das müssen wir nicht! Wir dürfen uns Vertrauenspersonen und auch einem sehr wohlgesonnenen und dankbaren Publikum anvertrauen.

Und nun, wie wir Vorarlberger gerne sagen: Lass es laufen!

Dünser

Stefan Dünser 

ist Autor der Serien Trompeten-, Po­saunen-, Horn-, Tuba- und Klarinetten-Fuchs. Er studierte in Feldkirch und ­Basel (bei Edward H. Tarr, Konzertdiplom mit Auszeichnung), nahm Gesangs- und Stimmbildungsunterricht sowie Unterricht am Jazzseminar Dornbirn. 

Dünser war 22 Jahre Solotrompeter im Symphonieorchester des Landes Vorarlberg/Bregenz, seit 2011 im Sinfonie­orchester Liechtenstein. Er ist Trompeter im Ensemble „Die Schurken“ und im „Sonus Brass Ensemble„. Die Ensem­bles gewannen Preise beim internationalen „Find It“-Wettbewerb der Jeunesse Wien, den „Junge Ohren Preis“ 2008 und 2015 (mit „Die Schurken“) und den „EAR­opean Award“ 2011 (mit dem „Sonus Brass Ensemble“).