Der Regisseur der Bläser
- Henri Texier ist ein besonderer Jazzbassist. Und er hat eine besondere Beziehung zu den Blasinstrumenten.
- International bekannt wurde Texier durch die European Rhythm Machine des Altsaxofonisten Phil Woods.
- Texier machte keinen Jazz, es passte in keine Schublade. Er nannte es Jazz-Folk.
Es hieß einmal, er sehe aus wie eine Mixtur aus einem Pariser Kunstmaler und einem bretonischen Ökobauern. Er selbst sagt, in ihm stecke ein Hippie. Henri Texier ist ein besonderer Jazzbassist. Und er hat eine besondere Beziehung zu den Blasinstrumenten.
Am Anfang, als Teenager, spielte er ein wenig Jazzklavier – der Pianist Thelonious Monk war ein frühes Vorbild. Dann, mit 16, packte ihn der Sound des Kontrabasses. Jazzbassisten wie Wilbur Ware, Sam Jones und Paul Chambers beeindruckten ihn. Mit kaum 20 Jahren begleitete der Bassist Henri Texier bereits große amerikanische Solisten wie Lee Konitz (Altsaxofon) und Dexter Gordon (Tenorsaxofon), wenn sie in Frankreich auftraten.
Er begeisterte sich auch für den damals angesagten Free Jazz und spielte mit dem Trompeter Don Cherry: „Don hat mein musikalisches Denken total verändert.“ Ende der 1960er Jahre nahm er endlich auch Kontrabass-Stunden, „allerdings nur für ein halbes Jahr. Mein Lehrer hieß Jacques Cazauron, war beim Orchestre de Paris angestellt und unterrichtete in Versailles. Ich spielte schon fünf oder sechs Jahre den Bass, als ich mich im Konservatorium bei ihm anmeldete.“ International bekannt wurde Texier wenig später durch die European Rhythm Machine des Altsaxofonisten Phil Woods, ein Quartett zwischen Bop, Free und Fusion, das zwischen 1968 und 1972 eine Reihe von Platten aufnahm.
Die 1970er Jahre dann wurden seine „Hippie-Zeit“.
Texier orientierte sich musikalisch um, öffnete sich den Schwingungen ethnischer Traditionen. Anfangs inspirierten ihn Don Cherry, der „Vater“ der Weltmusik, und George Gruntz’ World-Jazz-Projekt „Noon In Tunisia“. „Ich war immer empfänglich für andere Kulturen“, sagt Texier. „Von klein auf kannte ich indische und schwarzafrikanische Musik. Aber nun nahm man auch den Maghreb wahr, den Balkan, alles wurde plötzlich wichtig, auch unsere eigene Volksmusik. Man hat die keltische, okzitanische, spanische, italienische Musik wiederentdeckt.“ Texier wurde damals zur Ein-Mann-Band.
Er beschaffte sich ein Revox-Tonbandgerät und nahm bis zu zehn Tonspuren übereinander auf, mit seinem Kontrabass, aber auch mit E-Bass, Cello, Oud (arabische Laute), Bombarde (bretonische Oboe), Klavier, Flöte, Gesang und Bendir (Rahmentrommel). „Es war kein Jazz, es passte in keine Schublade. Ich nannte es Jazz-Folk.“ Diese Soloplatten – „Amir“ (1976), „Varech“ (1977), „À Cordes Et À Cris“ (1979) – trafen den weltoffenen, meditativen Nerv der Zeit. Das Publikum, das damals Alan Stivell, die Dubliners oder Zupfgeigenhansel hörte, mochte auch Henri Texier.
Man muss diese Vorgeschichte kennen, um das Weitere zu verstehen. Henri Texier ist ein echter, in der Wolle gefärbter Jazzmusiker – aber er besitzt auch dieses Gespür für den weltmusikalischen, formal offenen Flow. Auf dem Kontrabass spielt er die kraftvollsten und wärmsten Grooves – nicht nur Swing in allen Variationen, auch Funk-, Rock- und Ethno-Rhythmen.
Mit wechselnden Schlagzeugern und Gitarristen (und manchmal einem zweiten Bassisten) knüpft er magische Netzwerke. Doch im Zentrum aller seiner Bands seit den 1980er Jahren stehen die Bläsersolisten. Sie sind es, die er mit seinem Groove und seinem Rhythmus auf eine fast hypnotische Weise trägt und treibt. Die Musik seiner Jazzbands solle „natürlich“ klingen, sagt Texier, wie Bewegung, wie Sprache, wie alltäglicher Gesang in einem afrikanischen Dorf. „Meine Musik ist nicht harmonisch konzipiert wie Jazzstandards. Es ist schlichte Musik, aber sie muss beseelt werden. Sie würde mit Musikern, die nichts zu sagen haben, nicht funktionieren.“
Unterschiede inspirieren uns
Seine Bands besetzt Texier, als würde er das Casting für einen Film machen. Er sucht für jede Rolle den passenden Bläser – und das müssen Musiker sein, die den Drang zur Freiheit haben, die über Grenzen gehen, so wie die beiden französischen Holzbläser Michel Portal und Louis Sclavis, mit denen er in seinen frühen Jahren als Bandleader oft gespielt hat. Mit Sclavis und dem Drummer Aldo Romano hatte Texier auch einige Jahre lang ein kollektives Jazztrio, das durch Afrika reiste und afrikanische Anregungen musikalisch verarbeitete („Carnet de Routes“).
„Musik ist für mich die perfekte universelle Sprache“, sagt Texier. „Kulturelle Unterschiede inspirieren uns, und diese Inspiration darf keine Grenzen haben. Ich fordere die Mixtur! Man muss immer weiter forschen. Es muss immer wieder Neues geben. Jazzmusiker dürfen nie aufhören, weiter zu suchen.“ In jüngerer Zeit hat sich Texier vor allem von der Musik der nordamerikanischen Ureinwohner (vulgo: Indianer) inspirieren lassen.

Neueste Alben von Henri Texier
Nord-Sud Quintet: Canto Negro (Label Bleu, 2015)
Skydancers 6 (Label Bleu, 2016)
Dakota Mab (Intuition, 2016)
Concert Anniversaire (Label Bleu, 2017)
Sand Woman (Label Bleu, 2018)
Auf seinen Quartettplatten der 1980er Jahre waren Louis Sclavis (Klarinette und Sopransaxofon) sowie der amerikanische Saxofonist Joe Lovano die prägenden Bläserstimmen – beide machten später bemerkenswerte Karrieren. Dann in den 1990ern hieß die Band „Azur Quartet“ – sie wuchs bei Gelegenheit auch zum Quintett oder Sextett an. Der renommierte Posaunist Glenn Ferris stand damals als Bläser im Mittelpunkt, ergänzt durch Sclavis, Portal und später durch Sébastien Texier, den Sohn des Bandleaders. Danach kamen das Strada Sextet, das Red Route Quartet, das Nord-Sud Quintet und eine Reihe weiterer Formationen. Sébastien Texier (Altsaxofon und Klarinette) war meistens mit dabei. Weitere Bläser-„Rollen“ besetzte Henri Texier unter anderem mit Guéorgui Kornazov (Posaune), François Corneloup (Baritonsaxofon), Francesco Bearzatti (Tenorsaxofon, Klarinette) oder Vincent Lê Quang (Sopran- und Tenorsaxofon). Sie alle sind großartige, sensationelle Improvisatoren.
Der Melodienschöpfer
Henri Texier schreibt die Musik für seine Bands meistens selbst, aber er möchte sich nicht Komponist nennen. „Ein echter Komponist könnte sich hinsetzen, ein leeres Notenblatt nehmen und es mit dem Bleistift füllen“, sagt er. „Er hört alles bereits im Kopf und kann es niederschreiben. Ich beherrsche das nicht. Ich schreibe am Klavier oder am Bass. Manchmal singe ich etwas vor mich hin, manchmal schreie ich dabei auch. Ich bezeichne mich als Melodienschöpfer. Ich benutze das Komponieren nur, um meinen Mitspielern zu zeigen, was in meinem Kopf musikalisch vor sich geht. Die Musik, die ich zu den Proben mitbringe, ist eine Art Vorschlag. Gemeinsam erarbeiten oder verändern wir dann das Material.“
Bei den Proben arbeitet Texier wie ein Regisseur. Er denkt in Szenarien, Kapiteln, Szenen, Schnitten – sein Stück muss eine Geschichte erzählen. Gemeinsam mit der Band entwickelt er eine Dramaturgie, in der die Bläser dann ihre Solistenrollen finden – zuweilen mit ekstatischen Steigerungen, aber immer in Interaktion mit dem ganzen Ensemble. „Man ist nicht nur Begleiter der Solisten, sondern provoziert sie auch und stimuliert sie in einer bestimmten Situation. Man muss fähig sein zu antizipieren, was in der Band geschehen kann. Musiker gestalten wie Bildhauer die Zeit, die gerade vergeht. Als Gruppe gestalten wir etwas, das sich bewegt.“
Einen Raum im Kopf des Hörers
Texiers musikalische Vorgaben, die mal an nordafrikanische Trance-Klänge erinnern, dann wieder an feinen Cool Jazz, liefern den Rhythmus und die Stimmung. Davon ausgehend groovt sich die Musik ins Offene – da kann ein Stück auch im Studio auf zehn, zwölf Minuten Länge anwachsen. „Ich möchte im Kopf des Hörers einen Raum schaffen, den er mit seiner eigenen Fantasie füllen kann. Sobald die Musik erklingt, gehört sie dem Hörer.“