Orchestra, Schwerpunktthema | Von Stefan Fritzen

Akustik hören und sehen

In dieser Arbeit möchte ich vorrangig empirische, gewissermaßen »erfühlte« akustische Hörleistungen beschreiben, da diese ganz wesentlich von der Akkulturation des einzelnen Menschen abhängen und zu großen Hördivergenzen und unterschiedlichsten musikalisch-klanglichen Bewertungen führen können.

Erfühlte, akustische Hörleistungen

»Akkulturation« bezeichnet das Hineinwachsen eines Menschen in eine kulturelle Umwelt. Diese kann selbst in einem geschlossenen Kulturraum beim Einzelnen unterschiedlich verlaufen; sie ist in unserem Thema in hohem Maße durch die musikalischen Prägungen schon im Kindesalter bestimmt.

Diese unterschiedliche Entwicklung kann uns auch eine Erklärung dafür liefern, warum einzelne Musiker musikalische und akustische Regeln und Vorgaben unterschiedlich wahrnehmen und in ihre subjektiven Interpretationen einbeziehen.

Mit dieser Feststellung ist zunächst noch keine Wertung verbunden. Unsere musikalische Schriftsprache ist bei allem Bemühen um Detailgenauigkeit so unvollkommen, dass Partituren unterschiedlichen Ausdeutungen aller Parameter Tür und Tor öffnen.

Dies kann reizvoll sein, schafft es doch Vielfalt in der individuellen Sicht auf ein Werk, kann jedoch auch zu völlig unbrauchbaren Klangergebnissen führen, die das Kunstwerk entstellen. Beide Möglichkeiten gehören trotzdem gleichermaßen in den Gesamtbereich der Akustik.

Mal sehen, was ich höre

Betritt ein Musiker oder ein Orchester einen unbekannten Konzertsaal, gilt seine erste Frage den klanglichen Vor- und Nachteilen akustischer Gegebenheiten. Vor allem größere Orchesterformationen, die live musizieren, stehen jedesmal vor einem akustischen Rätsel, da in der kurzen Zeit einer Anspielprobe kaum Verlässliches über die Raumakustik gesagt werden kann, wenn es sich nicht gerade um den Wiener Musikvereinssaal handelt.

Der erste Irrtum beim akustischen Austesten eines Saales kann schon durch die Tatsache erfolgen, dass ein leerer Saal ganz anders klingt als ein voll besetzter. Meistens wird bei Akustikproben nur die Orchesterbalance geprüft und ob einzelne Instrumente oder Gruppen zu laut oder zu leise sind.

Klangqualität, Tragfähigkeit von Tönen und Klängen in Korrelation zur Klangveränderung und Klangbeeinflussung durch den Raum bleiben meistens unerwähnt oder mangels tieferer Kenntnis unkorrigiert. Ein Dirigent retuschiert oft nur die dynamische Balance und verteilt zur besseren Kontrolle einzelne Musiker im Raum, die ihm beratend zur Seite stehen sollen.

Subjektive Bewertungsmaßstäbe

Dabei werden bereits subjektive Bewertungsmaßstäbe eingebracht, da jeder Musiker, der die Akustik testet, seine eigenen Wertvorstellungen und Hörbedürfnisse zur Grundlage der kritischen Hinweise macht. Der Geiger X oder der Oboist Y findet die Posaunen immer zu laut und wird für gewöhnlich nicht zögern, dem Dirigenten zuzurufen, dass das tiefe Blech zu präsent sei.

Oft musste ich erleben, dass bei Anspielproben die Dirigenten versuchten, in unbekannten Sälen das musikalische Rad neu zu erfinden. Dynamische Festlegungen wurden plötzlich umgestoßen, artikulatorische und klangliche Probenanweisungen sollten oft völlig neu gestaltet werden, und auf Sitzpositionsveränderungen reagierte der Dirigent nur von seinem Platz aus. Er war selbst durch eine gewisse akustische Neuorientierung verunsichert und dadurch beeinträchtigt in seiner impulsgebenden Orchesterführung.

Die Orchestermusiker sind durch solche Proben nur genervt. Für gewöhnlich hören sie reagierend immer auf ihr musikalisches Umfeld und verfügen über langjährige Erfahrungen bei einer nötigen Klangabstufung in wechselnden Sälen. Musiker bekommen ganz schnell mit, ob der Klang stumpf und matt wird, ob er vergröbert und durch Überakustik blechern-schallend wird und handeln entsprechend.

Nur ungeübte Bläser werden den Klang unnötig forcieren, wenn die Bühnenakustik den Eindruck vermittelt, man spiele in einen »Sack« hinein. Jeder Dirigent, der seinen Musikern vertraut, ist eigentlich gut beraten, wenn er in einem neuen Saal die Musiker erst einmal spielen und den Klang adaptieren lässt (adaptieren: sich anbequemen), bevor er alles umstößt.

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