Wood | Von Hans-Jürgen Schaal

Charlie Parker zum 100. Geburtstag

Foto: William P. Gottlieb

Die Sittenwächter des Jazz tobten. Bebop werfe die Musik um 20 Jahre zurück, meinte der Posaunist Tommy Dorsey. Die Fans des neuen Stils wussten es besser. Bebop sei einfach „von allem mehr“ – er sei „komplizierter, bluesiger und swingender“, so der Saxofonist Art Pepper. Wie auch immer: Bebop wurde zur Wurzel der modernen Jazzentwicklung – und sein Held hieß Charlie Parker. 

In manchem Film wurde die Szene schon nachgestellt, wie der Drummer Jo Jones sein Becken abschraubt und dem 15-jährigen Charlie Parker donnernd vor die Füße wirft. Es war eine ernste Ermahnung: Schluss jetzt, geh erst mal üben! Denn der Teenager, der längst wie ein Erwachsener aussah, improvisierte auf seinem Saxofon nur irgendwie so nach Gehör. „Mir war nie die Idee gekommen, dass es verschiedene Tonarten geben könnte oder so etwas“, gestand er später. Eigentlich ahmte er nur den Tonfall seines Idols Lester Young nach – in seinem Kopf klang er jedenfalls wie Lester. 

Nachts trieb er sich in den Jazzclubs von Kansas City herum, die Mutter wusste nichts davon. Tagsüber spielte er Youngs Platten nach, stu­dierte die Nuancen: „Er lernte, jedes Lester-Young-Solo zu spielen, Ton für Ton“ (Ross Russell). Als Parker schließlich von den Tonarten erfuhr, begann er die Stücke, die er wirklich konnte – „I Got Rhythm“, „Cherokee“ und den Blues –, in allen zwölf Tonarten zu üben. Von den Akkorden hatte er auch keine Ahnung, also ­dachte er sich Harmonien aus, Akkord­über­gänge, modulatorische Tricks. Davon profitierte später die Harmonik des Bebop.

Die Bigbands als Schule des Jazz

Die Schule des Jazz waren damals die Bigbands. Wer Karriere machen wollte, musste sich einige Jahre in einem namhaften Jazzorchester bewährt haben. Als 19-Jähriger kam Charlie Parker zu Jay McShann (1939 bis 1942), später ging er zu Earl Hines bzw. Billy Eckstine. Mit einem kurzen Solo auf einer Platte von McShann ent­zündete er zum ersten Mal das Interesse der Jazzwelt. Es war der „Hootie Blues“ von 1942, eine B-Seite in mittlerem Tempo.

Zwischen Ensemble-Thema und Al Hibblers Gesangsstrophe improvisiert Parker nur einen einzigen Chorus – er muss gewirkt haben wie ein Elektroschock, ein Blitzlicht aus der Zukunft. Der Name des Solis­ten war auf der Platte nicht erwähnt. Als die Band in New York gastierte, strömten die Insider ins Konzert, nur um diesen unbekannten Saxofonisten zu hören. Er klang wie Lester Young, cool und relaxt, spielte aber Alt, nicht Tenor, und er spielte doppelt so schnell. Die Kritiker schrieben, er mache zu viele Töne. Die Musiker aber waren sofort beeindruckt: „Er hatte einen neuen Weg durch die Blues-Harmonik entdeckt“ (Sonny Criss). „Er bewegte sich in einem ganz neuen System von Sound und Time“ (John Lewis).

Die Geburt des Bebop

1942 ging Charlie „Bird“ Parker nach Harlem, wo er regelmäßig in Monroe’s Uptown House (134th Street) auftrat. Ein paar Straßen weiter in Minton’s Playhouse (118th Street) gab es eine Hausband, die mit verschiedenen neuen Ideen experimentierte. Die beiden Leiter – der Drummer Kenny Clarke und der Pianist Thelonious Monk – kamen eines Tages ins Monroe’s, um sich ein Bild von Parkers Spiel zu machen. „Bird spielte Sachen, wie wir sie noch nie gehört hatten“, erzählte Clarke. „Er ging in dieselbe Richtung wie wir, war uns aber weit voraus.“ 

Die Musiker vom Minton’s konnten es kaum erwarten, mit dem jungen Saxofonisten zu spielen. Sie legten ihr Geld zusammen und holten Parker in ihre Band. „Damals dachten wir noch nicht daran, dass aus unseren Experimenten etwas entstehen könnte.“ Kenny Clarke, Thelonious Monk, der Trompeter Dizzy Gillespie und Charlie Parker am Altsax – diese vier bildeten die Kerngruppe, die in Harlem den modernen Jazz („Bebop“) entwickeln sollte. „Es war Bird, der die Dinge ins Rollen brachte“, sagte der Klarinettist Tony Scott.

Bebop – das war der neue Jazzstil

Im Kampf um mehr Musikerrechte verhängte die Gewerkschaft AFM 1942 ein Aufnahmeverbot für ihre Mitglieder („recording ban“). Deshalb blieben die Anfänge des Bebop undokumentiert und ein wenig im Dunkeln. Erst Anfang 1945 machten Gillespie und Parker, die „Dioskuren des Bop“, ihre ersten gemeinsamen Aufnahmen, darunter Bebop-Evergreens wie „Salt ­Peanuts“, „Hot House“ und „Groovin’ High“. Hohe Tempi, abstrakte Themen, komplexe Akkordfolgen und virtuose Improvisation – das war der neue Jazzstil. 

Im November 1945 ging Charlie Parker erstmals auch als Bandleader ins Studio – es wurde die „definitive Session“ (Ross Russell) des Bebop. Im halsbrecherisch schnellen „Ko Ko“ (308 rpm) übernahm Gillespie incognito den Trompetenpart. Die Klassiker der Session sind die beiden Blues: „Billie’s Bounce“, ein idealtypisches ­Parker-Thema mit asymmetrisch gebauter Phrasierung, und „Now’s The Time“, ein markiger Riff-Blues. Der konservative Kritiker des Down­beat bewertete „Now’s The Time“ nicht mit einem, zwei oder fünf Sternen, sondern mit exakt null. Später wurde Parkers Stück ein Hit des Rhythm ’n’ Blues unter dem Titel „The Hucklebuck“.

Nervöse Kompositionen

„Bird konnte mehr Stücke aus dem Blues machen als sonst irgendein Musiker“, behauptete der Trompeter Howard McGhee. Nicht selten kreisen Parkers Blues-Melodien um eine Ausgangsphrase, die rhythmischen Irritationen und Verschiebungen unterzogen wird. Bebop-typisch ist das Tempo dabei meistens hoch – bei Blues-Stücken wie „Au Privave“, „Chi Chi“, „Perhaps“, „Visa“ und „Buzzy“ liegt es sogar bei über 200 Beats pro Minute. Die Dynamik ist nervös, die Intervallstruktur der Themen oft wild zerklüftet, die Harmonik stark differenziert. Sein »Blues For Alice« hat statt der im konventionellen Blues ­üblichen drei oder vier Akkordwechsel immerhin 18! 

Bird spielte aber auch langsame, erdige Blues-Stücke mit einem einfachen Riff oder ganz ohne Thema. Berühmt wurde sein improvisierter Slow Blues „Parker’s Mood“. Die Saxofonphrasen daraus geistern seit den 1950er Jahren durch die gesamte Jazzwelt. 

Neben dem Blues als Grundlage verwendete Parker für seine Kompositionen und Improvisationen auch die Harmoniefolgen von Jazzstandards wie „I Got Rhythm“ oder „Honeysuckle Rose“. Die „I Got Rhythm“-Akkorde zum Beispiel – die sogenannten „Rhythm Changes“ – findet man in „Anthropology“, „Chasin’ The Bird“, „Moose The Mooche“, „Passport“, „Red Cross“, „Shaw Nuff“ oder „Steeplechase“. Häufig baute er in die bekannten Changes einige Substitutions- und Übergangsharmonien ein und schrieb dann ein neues, nervöses Thema da­rüber. Manchmal vermischte er in einem Stück auch die Akkordfolgen zweier verschiedener Standards. Das waren übliche Praktiken der Bebopper, um Anfänger und ungebetene Einsteiger zu verwirren und abzuschrecken. Selbst Louis Armstrong sagte: „Sie wollen immer, dass man sich blamiert.“ 

Der Heilige des Jazz

Kein zweiter Musiker hat die weitere Entwicklung des Jazz so geprägt wie Charlie Parker. Nachdem in den 1930er Jahren das Tenorsaxofon den Jazz dominiert hatte, brachte Bird das Altsaxofon wieder in den Fokus – aber mit einem harten, kraftvollen, dynamischen Sound, wie man ihn bis dahin an diesem Instrument nicht gekannt hatte. Viele Saxofonisten reagierten auf Parkers Spiel ungläubig, schockiert und verzweifelt. Seine Beherrschung des Saxofons schien übermenschlich. 

Bird „sprach“ auf seinem Horn, intelligent und expressiv, und gleichzeitig war jede Phrase hochvirtuos und voller technischer Finessen. Seine Technik war konkurrenzlos, aber seine Stilistik fand Tausende von Nachahmern. Kein Alt­saxo­fonist konnte sich diesem Einfluss entziehen, weder im Cool Jazz noch im Hardbop. 

Und Bird prägte nicht allein die Saxofonisten. Der Trompeter Cootie Williams sagte: „Louis [Armstrong] hat alle Blechbläser verändert, aber nach Bird mussten sich sämtliche Instrumente verändern – Schlagzeug, Klavier, Bass, Posaunen, Trompeten, Saxofone, alle.“ Gillespie und Monk mögen die Philosophen und Theoretiker des Bebop gewesen sein – aber Bird wurde zur Helden- und Märtyrerfigur. Er sprach nicht viel über Musik oder Politik, er verströmte sich ganz in seinen Improvisationen. „Bebop war einfach seine Art, Jazz zu spielen, er war Teil seiner Erfahrung“, sagte Kenny Clarke. 

Chaotisches Leben zwischen Psychiatrien, Entzugs­anstalten, illegalen Ehen

Parker lebte rücksichtslos, war unzuverlässig, hegte keinerlei Illusionen über das Leben, war drogen-, alkohol- und sexsüchtig. Sein kurzes ­Leben verlief chaotisch: Psychiatrien, Entzugs­anstalten, illegale Ehen. Im Namen „Bird“ klang das irgendwie immer mit: Vogelfrei war dieses Musikgenie, verantwortungslos, niemandem verpflichtet, nicht von dieser Welt. Im Grunde beging Parker einen langsamen Selbstmord. Einem Villon, Baudelaire, Jim Morrison vergleichbar, war er der rätselhafte „Poète Maudit“ des Jazz, ein lebender Mythos, um den sich An­hänger und Verehrer scharten wie um einen Heiligen. 

Als er in der Nervenheilanstalt in Camarillo saß, pilgerten seine Fans täglich zu ihm hin. Er könne übers Wasser gehen wie Jesus, hieß es. Schon zu Lebzeiten benannte man einen Jazzclub nach ihm – den größten Jazzclub New Yorks. Nach seinem Tod malten sie Graffiti an die Wände der New Yorker Subway: „Bird Lives!“ Auch Literaten wie Kerouac und Cortázar ließen sich von Charlie Parker inspirieren.

Fast Forward

Ende 1945, wenige Tage nach seiner ersten Leader­session, fliegt Parker mit Gillespie für ein längeres Club-Engagement an die Westküste. Zum Rückflug Anfang Februar 1946 erscheint er nicht am Flughafen – er hat sein Ticket für ­Drogen verhökert. Ende Juli wird er in L.A. verhaftet und in die Psychiatrie eingewiesen – für ein halbes Jahr. Erst im April 1947 kehrt er nach New York zurück und gründet sein heute berühmtes Quintett mit Miles Davis (Trompete) und Max Roach (Drums).

Im Studio entstehen zahlreiche Bebop-Klassiker wie „Donna Lee“, „Cheryl“, „Dewey Square“, „Klact-oveeseds-tene“, „Ah-Leu-Cha“, „Parker’s Mood“, „Perhaps“, „Marmaduke“ und „Steeplechase“. Ende 1948 hat Miles Davis genug von Parkers Un­zuverlässigkeit und kündigt. Er wird von Kenny Dorham ersetzt und ein Jahr später von Red Rodney. 

Parker unterschreibt bei einer großen Agentur und bei einem Major-Label und wird als „Jazzstar“ vermarktet. Für das Label macht er nun seltsame, populär kalkulierte Aufnahmen mit ­Latin-Bands oder einer Streichergruppe, mit der er auch auf Tournee geht. Ende 1949 wird der nach ihm benannte Jazzclub „Birdland“ eröffnet – die Wände zeigen überlebensgroße Ölporträts mit Parkers Bild im Zentrum. Zur Dekoration gehören lebende Vögel in zwei Dutzend Vogel­käfigen.

Zwischen Bühnentriumphen und Drogentrips

Bird gastiert auch in Europa: 1950 in Paris, 1951 in Schweden und Paris, 1952 in Deutschland, Belgien und Paris. Die Reisen werden zu Grenzerfahrungen zwischen Bühnentriumphen und Drogentrips. Wie sehr Parker von seinen Reisen beeindruckt ist, zeigen die Titel einiger neuer Stücke: „Visa“, „Passport“, „Au Privave“, „Swedish Schnapps“. 

Als der Cool Jazz aufkommt, ist der Bebop plötzlich „klassisch“ geworden. 1950 treffen sich ­Parker, Gillespie und Monk im Studio zu einer Session der Bebop-Veteranen – es entsteht das Album „Bird & Diz“. 1953 gibt es noch einmal ein Allstar-Konzert mit Parker, Gillespie und Bud Powell in Toronto: „Live at Massey Hall“. Parker versucht inzwischen sesshaft zu werden und gründet eine Familie.

Doch seine körperlichen Beschwerden häufen sich – der jahrelange Raubbau an der eigenen Gesundheit zeigt sich in Magengeschwüren und Herzproblemen. Bird betäubt seine Schmerzen wechselweise mit Heroin oder Whisky. 1951 verliert er vorübergehend seine Auftrittserlaubnis für New York. 1952 löst sich sein Quintett auf – er ist nun ohne Band.

1954 kündigt er auch seiner Streichergruppe und zwar direkt auf der Bühne des „Birdland“ – er bekommt daraufhin in „seinem2 eigenen Club Hausverbot. Bird sieht keine musikalischen Ziele mehr, träumt weltfern von einem Kompositionsstudium. Im Herbst 1954 geht er aus eigenem Antrieb ins Hospital – Diagnose: Alkoholismus und Schizophrenie. Zuletzt lebt er in der Hotelsuite der Jazz-Mäzenin Nica de Koenigswarter. Dort stirbt er mit 34 Jahren.

Charlie Parker

Alle Zitate stammen aus: Ross Russell: Bird Lives! (1972)