Wenn ein Künstler, dessen Arbeitsfeld die kleine Jazzband und das Sinfonieorchester, die Soloperformance und das multimediale Musiktheater umspannt, seinen 60. Geburtstag feiert, dann lässt man es tonträgertechnisch ordentlich krachen. Mit gleich zwei Doppel-CDs geht der Österreicher Christian Muthspiel an den Start. Die Doppel-Alben heißen „Homecoming“ und „Diary“. Wir haben uns mit Christian Muthspiel noch vor der großen Party unterhalten.
Wir erreichen Christian Muthspiel telefonisch. Ursprünglich war ein Treffen in München geplant, wo er Anfang August im Rahmen des „Out of the box“-Festivals seine „Riesenradoper Umadum“ dirigieren sollte. Doch „das Münchner Riesenrad-Projekt ist in seiner Dimension und den technischen Herausforderungen eine extreme Challenge, und deshalb erlaubt der dichte Proben- und Vorstellungsplan keinen Termin, den ich im Vorhinein guten Gewissens zusagen kann.“
Das Riesenrad-Projekt, im Gespräch merkt man schon, dass Christian Muthspiel voller Vorfreude und vielleicht auch ein bisschen nervös ist, ist ein wahnwitziges Präzisionsunterfangen. 27 Musikerinnen und Musiker fahren in den 27 Gondeln im Münchner Werksviertel mit und spielen gemeinsam eine Oper. Die Instrumentalisten sind die 17 Musikerinnen und Musiker von Muthspiels „Orjazztra Vienna“ sowie weitere zehn. Drei Riesenrad-Runden dauert die wilde Fahrt, jede Minute ist präzise auskomponiert und in den Noten vermerkt. Statt Takt und Dirigat leiten Sekundenangaben und synchron gestartete Stoppuhren in jeder Kabine. Muthspiel zählt am Mischpult über Funk den Stoppuhr-Start ein. Da ist alles bis ins kleinste Detail geplant und muss alles passen…
Von langer Hand geplant waren indes die beiden Doppel-CDs nicht, lacht Christian Muthspiel. Vielmehr habe es zufällig gepasst, dass das Debütalbum des 17-köpfigen Orjazztra Vienna mit seinem Geburtstag zusammenfiel. Aufgenommen wurde das Carla Bley und Steve Swallow gewidmete Doppelalbum »live without audience« an drei Abenden im März 2021 im Wiener „Porgy & Bess“. Im Oktober startet die Konzerttournee mit Wien, Innsbruck, Basel, Belgrad.

Zwar dirigiert Christian Muthspiel bereits seit über 20 Jahren, doch erst vor kurzem hat er seine Posaune endgültig an den Nagel gehängt, um sich zu 100 Prozent dem Dirigieren und Komponieren zu widmen. „Ich habe die Baustellen reduziert“, erklärt der Musiker. Die Konzentration auf weniger ist mehr. „Leicht ist mir das nicht gefallen“, gibt er zu. „Da war schon etwas Wehmut dabei. Aber man schließt eben eine Tür, um eine andere zu öffnen.“
Ende des Jahres 2019 hatte Christian Muthspiel diese Entscheidung getroffen. Drei Monate später kam Corona… „Wir waren eigentlich sehr gut gebucht“, findet der Dirigent. In Österreich habe man zwar „alles mitgenommen, was möglich war“, aber leider sei es fast unmöglich gewesen, international zu touren. Projekte seien erst aufgrund von Corona entstanden. Not macht eben erfinderisch. So hatte beispielsweise das Riesenrad-Projekt einen Vorgänger, das Stoppuhr-Projekt „Human Music Machine“ in Graz. Und darüber hinaus war es Muthspiel ein Anliegen, dass „wir uns so regelmäßig wie möglich treffen“. Natürlich auch, um die Leute bei Laune zu halten.
„Mit dem Orjazztra Vienna erfülle ich mir den Traum eines eigenen Jazzorchesters, den ich seit meinem Weggang vom Vienna Art Orchestra im Jahr 2004 träume“, erzählt Muthspiel. Im Vorfeld dessen hatte er festgestellt, dass Österreich und Wien „eine schier unglaublich dichte Szene junger, großartiger Musikerinnen und Musiker hat, die in vielen eigenen Bands musizieren“. Die seien neugierig, experimentierfreudig, weltoffen und allesamt sehr gut ausgebildet. Und so ist das Ensemble insgesamt eine sehr homogene Truppe, aus der für die verschiedenen Titel die Solisten hervortreten.
Themen der jüngeren Generation
Das Orjazztra besteht zum großen Teil aus jungen Menschen eben dieser heimischen Szene, ist mit doppelter Rhythmusgruppe (zwei Bässe, zwei Schlagzeuge), Klavier, einem sechsköpfigen Saxofon-/Klarinettensatz, drei Trompeten, zwei Posaunen und einer Tuba besetzt und eher als zeitgenössisches Jazzorchester denn als Big Band zu bezeichnen.
„Ich habe mich viele Jahre nicht darum gekümmert, was die jungen Leute so machen und antreibt. Ich habe immer nur mit gleichaltrigen oder älteren Männern gespielt. Da bekommt man doch ein eingeschränktes Weltbild präsentiert.“ Christian Muthspiel lacht. Pflicht sollte dementsprechend der hohe Frauenanteil beim Orjazztra sein. „Ich hatte die Vision einer Gesellschaft im Orchester. Frauen sind ja da! Man muss sie nicht suchen, man muss sie nur wahrnehmen!“ Auch andere aktuelle Themen der jüngeren Generation – der Klimawandel ganz konkret – stehen im Orjazztra auf der Agenda. Titel wie „For the last of their kind“, „Tribal dance“ oder „Requiem for a blue planet“ sprechen für sich.
Während also die erste Doppel-CD einen Blick in die Zukunft wagt, scheint die zweite eher ein Resümee der Vergangenheit zu sein: „DIARY – selected recordings 1989–2022“ ist der Titel und sie ist eine Compilation von Aufnahmen, die in einem Zeitraum von 33 Jahren entstanden sind. Dabei ist sie weit mehr als bloß eine Aneinanderreihung von Stücken aus bereits vorhandenen CDs. Zu hören sind Steve Swallow, Wolfgang Muthspiel, Matthieu Michel, Franck Tortiller, Tomasz Stańko, Ernst Jandl, DK Dyson, Sainkho Namtchylak, Gary Peacock, Paul Motian, Benjamin Schmid, Bobby Previte, Jerome Harris.
Christian Muthspiel gibt zu, dass es „fast unmöglich“ war, die Titel auszuwählen. „Zunächst bin ich auch fast verzweifelt“, lacht er. Er habe wirklich sehr viel Zeit investiert, „denn ich wollte kein bloßes ‚Best-of‘ machen“. Diese Zeit war dann durch „wochenlanges Musikhören“ gefüllt. Dazu muss man wissen, dass Musikerinnen und Musiker ihre eigene Musik oftmals gar nicht so oft anhören. „Man achtet nämlich immer zuerst auf die Fehler“, weiß Muthspiel.
Er aber habe dann mit dem nötigen Abstand tatsächlich einen emotionalen Zugang gefunden. „Viel leichter wurde es dann am Ende zwar auch nicht, aber ich habe versucht, die Frage zu beantworten: ‚Was trifft in meiner Seele auf Resonanz?‘ Ich habe festgestellt: Es ist immer noch viel…“ Und mit Sicherheit werden die beiden Doppel-CDs bei den Hörerinnen und Hörern auf Resonanz treffen.