Das Album „Structures & Beauty“ des Fuchsthone Orchestra ist ein Meilenstein des Orchesterjazz – mit fließenden Übergängen zu Klassik, Rock und Avantgarde. Es ist aber auch ein Statement zur Corona-Epoche, zu Gesellschaft, Klimawandel, Kunst und Philosophie – und zu möglichen neuen Haltungen gegenüber der Welt.
Christina Fuchs und Caroline Thon – sie kennen sich schon lange, haben auch gelegentlich in denselben Ensembles gespielt. Beide sind Saxofonistinnen, Komponistinnen und erfahrene Orchester-Chefinnen. Fuchs, die in den USA bei Maria Schneider und George Russell gelernt hat, leitete viele eigene Bands und war Co-Leaderin des United Womens’ Orchestra. Thon, die auch von der Musik von Bartók und Hindemith geprägt ist und am Berklee College studiert hat, ist besonders durch ihr Thoneline Orchestra bekannt geworden. 2017 hat der Kölner Musiker Georg Ruby die beiden eingeladen, für sein Blue Art Orchestra ein gemeinsames Konzertprogramm zu gestalten. Das funktionierte so gut, dass Fuchs und Thon (nach reiflicher Überlegung) beschlossen haben, ein gemeinsames Großensemble auf die Beine zu stellen: das Fuchsthone Orchestra. Im November 2019 hatte ihr Projekt sein Debüt in Köln. Auch eine regelmäßige Konzertreihe nahm Gestalt an.
Und inzwischen liegt das erste Album vor, „Structures & Beauty“. Es ist ein wuchtiges, ein stolzes Werk – zwei CDs mit insgesamt acht Stücken von durchschnittlich über 10 Minuten Länge. Das Fuchsthone Orchestra spielt mit fünfköpfigem Holzsatz, vier Trompeten und vier Posaunen, dazu einer Violine, einer Sängerin, einer Elektronik-Künstlerin und einer vierköpfigen Rhythmusgruppe.
Das Interview mit Christina Fuchs und Caroline Thon führte Hans-Jürgen Schaal.
Welche Vorteile hat ein gemeinsam geleitetes Orchester wie das Fuchsthone Orchestra?
Thon: Viele! Abgesehen von der Aufteilung der organisatorischen Bereiche gibt es auch große inhaltliche Vorteile, zum Beispiel erste Rückmeldungen zu neuen Kompositionen – die Co-Leaderin ist ja jeweils die erste Hörerin – oder zum Thema Dirigat. Und da wir uns nicht nur beim Konzert, sondern auch bei den Proben abwechseln, kann die andere währenddessen neue Energie tanken.

Seinen ersten Auftritt hatte das Fuchsthone Orchestra im November 2019 – und dann kam Corona. Haben Sie sich vom Schicksal ausgebremst gefühlt?
Thon: Die Premierenkonzerte waren ein Riesenerfolg. Zudem zeichnete sich da schon ab, dass wir mit der Auswahl der Musiker und Musikerinnen mega Glück hatten, da die Stimmung innerhalb des Ensembles sehr freudvoll und supportiv ist. Das hat sich so auch stetig weiterentwickelt.
Das Publikum mussten wir uns dagegen erst wieder neu erspielen, als es nach Corona weiterging, das war sehr ärgerlich.
Fuchs: Entscheidend ist, wie man damit umgeht. Wir haben beschlossen, uns nicht ausbremsen zu lassen und haben trotzdem weitergearbeitet, um die Bandcommunity am Leben zu erhalten und weiter Perspektiven zu entwickeln. Mit dieser Haltung sind wir ganz gut durch die Pandemie gekommen. Natürlich wäre es ohne COVID schöner gewesen!
Eine Bigband mit zwei Leadern ist zwar nichts ganz Ungewohntes, aber normalerweise steht da eine Leader-Person vor der Band, die andere Leader-Person spielt mit. Zwei Bandleaderinnen, die nicht selbst mitspielen, aber vom gleichen Instrument herkommen – verbindet das eigentlich?
Fuchs: Natürlich gab es ganz zu Beginn eine Debatte darüber, für welche Funktionen wir uns in diesem Orchester entscheiden: Komposition, Dirigat, Instrumentalistin, Orchesterleitung, Organisation, Antragstellung, Kopistin und so weiter. Wir haben das gut abgewogen und uns gemeinsam für »weniger ist mehr« entschieden. Die Entscheidung, nicht als Instrumentalistin zu agieren, ist mir persönlich schwergefallen, das gebe ich gerne zu.
Was sind die wichtigsten Unterschiede in Ihren Stilistiken als Bigband-Komponistinnen?
Fuchs: Das ist sehr schwer zu generalisieren. Vielleicht kann ich es so ausdrücken: Ich konzipiere oft vom Rhythmus aus, also etwas vertikaler, Caroline schreibt linearer.
Thon: Mir sind Bögen und vor allem musikalische Entwicklungen sehr wichtig. So fasziniert mich zum Beispiel die „Kernmotivtheorie“ von Béla Bartók – also eine ganze Komposition aus einem Motiv heraus zu entwickeln oder eine Gesangsmelodie transponiert auch als Basslauf einzusetzen. Was uns dagegen eint, ist das Wechselspiel zwischen Ensemblestellen und frei interpretierten Soli, aber auch politische und gesellschaftliche Themen, die wir aufgreifen. Das ist uns beiden wirklich eine Herzensangelegenheit.

Und was sind die wichtigsten Unterschiede in Ihrer Art, das Fuchsthone Orchester zu leiten?
Fuchs: Der größte Unterschied liegt vielleicht in der Kommunikation. Caroline erklärt vieles verbal, kommuniziert viel mehr als ich. Ich setze auf das Miteinander-Spielen, weil ich davon überzeugt bin, dass sich ein Gefühl für die Komposition am besten beim Spielen herstellt, gerade bei Rhythmusgruppe und SolistInnen. Vieles entsteht ja erst in den Proben, und die MusikerInnen sind durchaus an der Art der Ausführung und Interpretation der Kompositionen beteiligt.
Thon: Ha ha, das würde ich genauso über Christina sagen! Mir ist es wichtig, dass der Spielfluss gleich beim ersten Mal nicht durch zu viele formale Stolperstellen gestört wird, deswegen gehe ich lieber verbal einmal die Problemstellen einer neuen Komposition durch, damit man sich dann auf die Musik konzentrieren kann. Wichtig ist, dass man Antworten hat, wenn Fragen aufkommen über einen Groove oder auch einen »Cue«, also mit welchem Dirgierzeichen ich den nächsten Formteil angebe.
Ihre Musik ist nicht nur Bigband-Jazz – da spielt noch eine Menge mehr hinein: Rockgitarre, Elektronik, Gesang, Sprechstimme, literarische und philosophische Bezüge… Verstehen Sie den Live-Auftritt als Gesamtkunstwerk?
Fuchs: Bigband wäre ohnehin nicht der passende Begriff, nicht zufällig haben wir das Wort »Orchestra« im Namen. Auf Genres wollen wir uns ganz bestimmt nicht festlegen, sondern eher diese aufbrechen, so wie es uns im jeweiligen Moment zeitgemäß erscheint.
Thon: Wo hört der Bigband-Jazz auf, wo fängt die zeitgenössische Musik an? Ich habe diese Fragen nach konkreten Trennlinien noch nie richtig verstanden, da es sie für mich nicht gibt. Es durchdringt sich doch alles! Ich persönlich mag es, damit zu spielen, dass man beim Fuchsthone Orchestra scheinbar eine traditionelle Bigband-Besetzung mit ein paar zusätzlichen Solisten sieht und manchmal auch hört, das Ensemble dann aber wiederum eher wie ein Neue-Musik-Klangkörper klingt oder man Assoziationen aus der elektronischen Musik oder Rockmusik hat.
Warum sind Ihnen Texte in Ihrer Musik wichtig?
Fuchs: Ich bin nicht der Überzeugung, dass es immer Texte geben muss, aber in bestimmten Kontexten sind sie ein Mittel für eindeutige Benennungen. Lyrics können unfassbar poetisch sein. Sie sollten aber immer den Inhalt der Komposition transportieren oder diesem einen neuen Aspekt hinzufügen.
Thon: Für mich ist das gesprochene Wort sowohl ein Träger von Inhalt als auch Klang an sich. Damit meine ich, dass Sprache auch einen Rhythmus hat und in Form von Klangfarben und Formanten ein akustisches Mischverhalten mit Bläsern oder SolistInnen.
Es geht auf dem Album um Themen wie Lockdown, Klimakrise, sozialen Zusammenhalt. Wie wäre das Album wohl geworden ohne die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten drei Jahre?
Fuchs: Wir sind immer Teil einer gesellschaftlichen Realität. Die Themen wären vielleicht andere gewesen, aber auch sie hätten die Realität widergespiegelt.
Wie organisieren Sie die Arbeit?
Fuchs: Wir arbeiten konzentriert im Vorfeld der Konzerte. Viel mehr zu tun wäre leider nicht bezahlbar. Da alle aus dem Orchester auch in anderen Ensembles arbeiten, ist das auch realistisch und schon schwierig genug. Die Termine sind meist ein Jahr im Voraus geplant, etwa sechs bis zehn Konzerte im Jahr und fünf bis acht Proben. Wir haben auch ein Backup-Team von Subs für alle – mit einer Ausnahme: Die Elektronikerin Eva Pöpplein ist nur sehr schwer zu ersetzen, so speziell ist ihr Einsatz.
Das Orchester ist namhaft besetzt. Für mich stechen als »besonders erfahren« heraus: Roger Hanschel, Matthias Bergmann, Jens Düppe, Matthias Muche… Sind das für Sie auch die „Ankerleute“ in der Band?
Fuchs: Das Line-up ist wohlüberlegt und überhaupt nicht zufällig. Wir haben uns sehr viele Gedanken gemacht, um ein ausgewogenes Feld aus individuellen SolistInnen und SatzspielerInnen herzustellen. Bei 22 Menschen gibt es natürlich ein paar wichtige Ankerpositionen. Aber eigentlich könnte ich jetzt alle aufzählen, denn jede/r ist wichtig.