Der Komponist William Walton hat ihm ein Werk gewidmet, der Dirigent Constant Lambert adaptierte Musik von ihm fürs Ballett – und kein Geringerer als Igor Strawinsky nannte ihn gar „den besten englischen Komponisten des 20. Jahrhunderts“. (Allerdings war das 20. Jahrhundert da noch nicht sehr alt.) Die Rede ist vom 14. Baron Berners und 5. Baronet of Stanley Hall, einem der großen englischen Exzentriker seiner Zeit.
Das Schreiben, das Malen und das Komponieren – der Lord nannte sie „meine kleinen Hobbys“. Mehrere Romane und autobiografische Bücher hat er veröffentlicht, auch einen satirisch verfremdeten Schlüsselroman über sich und seine Freunde. In den 1930er Jahren organisierte er Ausstellungen seiner Landschaftsbilder und verkaufte einige von ihnen zu fantastischen Preisen. Als Komponist schrieb er mehrere Ballettmusiken, auch Klavierwerke, Lieder, Filmmusik und eine Oper. Hätte der vermögende Lord von der Musik leben müssen, hätte er wahrscheinlich mehr komponiert. Gelernt hat er das Komponieren in Rom, während des Ersten Weltkriegs. Alfredo Casella (1883 bis 1947) und Igor Strawinsky (1882 bis 1971) sollen ihm dort ein paar Stunden Unterricht gegeben haben.
Später scherzte der Lord gerne, er hätte ein viel besserer Komponist werden können, wenn er nicht zeitlebens zu viele Essens-Einladungen angenommen hätte. In seinem Epitaph-Gedicht auf sich selbst nannte er sich „one of the learners“ – das reimt sich ja auch gut auf „Berners“. Doch möglicherweise hätten Fachwissen, Routine und kompositorische Verschulung das „naive“, ursprüngliche, originelle Talent des Lords auch schnell verdorben. Strawinsky nannte ihn mit viel Anerkennung einen „Amateur im besten Sinn“. Für Lord Berners wiederum war Strawinsky „das einzige Genie“, dem er in seinem Leben begegnet sei. Kein Wunder, dass in seiner Musik immer wieder Strawinskys Einfluss durchscheint.
Der vielseitige Peer
Mit seinen Eltern war Gerald Tyrwhitt (1883 bis 1950) schon in frühen Jahren sehr unzufrieden. Den Vater hielt er für zynisch, intolerant und egozentrisch, die Mutter für unkontrolliert, beschränkt und vorurteilsbehaftet. Für seine künstlerischen Interessen fand der Junge im Elternhaus wenig Verständnis – also fing er an zu rebellieren. Einmal warf er den Hund der Mutter aus dem Fenster, damit er „fliegen“ lerne. Ein anderes Mal schloss er sämtliche Badezimmer ab und warf die Schlüssel in einen Teich.
Schon mit neun Jahren wurde Gerald ins Internat abgeschoben, zunächst nach Eton, dann ins europäische Ausland. Eine Karriere als Diplomat war anvisiert, wie sie für Angehörige der unteren Aristokratie angemessen schien. Noch bevor er 20 war, trat Tyrwhitt tatsächlich in den diplomatischen Dienst. Er wurde Attaché der britischen Botschaft in Konstantinopel, danach in Rom. Doch 1918 starb sein Onkel und vererbte ihm Adelstitel, Landgüter und Vermögen. Umgehend beendete Tyrwhitt seine diplomatische Karriere und wurde Lord Berners.
Er kehrte heim nach England, stürzte sich in ein Leben als schriller Exzentriker. Offen homosexuell, charmant und witzig, wurde er eine bekannte Figur in Londons Künstlerkreisen und inspirierte manches literarische Werk. Als 1931 seine Mutter starb, zog der Lord in deren Domizil, Faringdon Manor in Oxfordshire – es war eine seiner schönsten Besitzungen. Die Aussicht auf die Landschaft war dort spektakulär, und in den Salon hängte er Gemälde von Monet und Matisse. Der kleine, kahlköpfige Lord erwarb sich den Ruf eines großzügigen Gastgebers und exzellenten Kochs. In Faringdon Manor verkehrten Igor Strawinsky und William Walton, H.G. Wells und George Bernard Shaw, Salvadore Dalí und Aldous Huxley. Lord Berners galt als großer Förderer und „Missionar“ der Künste. „Er tat mehr für die Zivilisierung der Wohlhabenden als sonst jemand in England“, meinte der Schriftsteller Osbert Sitwell. Die Presse nannte ihn den „vielseitigen Peer“.
Seine exzentrischen Einfälle muten noch heute teilweise dadaistisch oder surrealistisch an. Der Lord färbte das Gefieder seiner Zuchttauben, ließ seine Hunde Perlenketten als Halsbänder tragen, hielt sich zeitweise eine Giraffe als Haustier, hängte Schilder mit verrückten Inschriften in alle Zimmer. Auf dem Rücksitz seines Rolls-Royce hatte er ein Clavichord. In seinem Wappen hatte er sechs Enten. Mal erschreckte der Lord die Nachbarn, indem er eine Schweinsmaske trug, dann wieder lud er ein Pferd zum Tee ein. Die Mahlzeiten stimmte er häufig farblich ab aufs Gefieder der Tauben.
Zum Geburtstag seines Lebenspartners, des rund 30 Jahre jüngeren Robert Heber-Percy, ließ der Lord einen Turm errichten; besonders gefiel ihm, dass dieser Turm „vollkommen nutzlos“ war. Ein Schild am Turm machte übrigens darauf aufmerksam, dass ein Sprung von oben in den Tod „auf eigenes Risiko“ erfolge. Als Heber-Percy aber eine Frau (!) heiratete und Vater wurde, nahm der Lord die ganze Familie auf. »Misstraue einem Menschen, der nicht ein gelegentliches Aufblitzen von Dummheit zeigt« – so verteidigte Lord Berners seine originelle Exzentrik.
Groteske Bläserfarben
Nebenher hat er noch spannende Musik geschrieben. Sein erstes und größtes Orchesterwerk, „The Triumph of Neptune“, entstand 1924 im Auftrag des erfolgreichen Ballett-Impresarios Sergey Diaghilew. Der suchte für die Londoner Saison seiner „Ballets russes“ nach einem englischen Sujet, vorzugsweise von einem englischen Komponisten. Den Lord kannte er – über Strawinsky – aus dessen Zeit als Attaché in Rom, als er noch Gerald Hugh Tyrwhitt-Wilson hieß. Das Szenario fürs Ballett schrieb Sacheverell Sitwell, ein Bruder der Schriftstellerin Edith Sitwell, die mit Lord Berners befreundet war. Es geht darin, kurz gesagt, um ein Zauberteleskop auf der London Bridge und eine magische Reise. Der legendäre George Balanchine choreografierte. Zehn sehr kurzweilige »Bilder« hat Lord Berners für dieses Ballett komponiert. Die harmonischen Rückungen, melodischen Verschiebungen und die pochende Motorik sind zweifellos von Strawinskys frühen Ballettmusiken inspiriert. Ganz besonders hört man dessen Einfluss in den grotesken Bläserfarben, etwa in den Sätzen „Schottische“ und „Polka“.
Bei der Uraufführung von „The Triumph of Neptune“ im Lyceum Theatre standen auch Werke von Strawinsky und Tschaikowsky mit auf dem Programm. Bekannt geworden ist Lord Berners’ erstes Ballett vor allem als Konzertsuite – schon 1937 entstand die erste Tonaufnahme unter Sir Thomas Beecham. Die erste Aufnahme des gesamten Balletts stammt von 1996. In der kleinen Ballettmusik „Luna Park“ (1930) ist Strawinsky ebenfalls gegenwärtig. Sogar das Szenario scheint von ihm inspiriert zu sein, speziell von „Petruschka“. Wieder war Balanchine für die Choreografie zuständig. Eine ganz besondere Ballettmusik ist „A Wedding Bouquet“ (1937), in der das Orchester auf einen Chor trifft (mit Solisten bzw. Rezitation). Das Szenario spielt in der französischen Provinz und tendiert zu höherem Nonsense – ein Bindeglied zwischen Dada und Absurdem Theater. Die amerikanische Avantgardistin Gertrude Stein schrieb den Text.
Kaum bekannt, aber überaus unterhaltsam ist eine frühe Komposition des Lords aus seiner römischen Zeit: „L’Uomo Dai Baffi“. Die Musik schrieb er – weitgehend auf der Basis eigener Klavierstücke – für ein Marionettentheater. Der befreundete Alfredo Casella dirigierte bei der Aufführung. Man hört ein Kammerorchester mit teils dominantem Holz, jedoch ohne Blechbläser. Die Stilistik und die Instrumentierung setzen unmittelbar bei Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“ an, die im gleichen Jahr (1918) auf Tournee gegangen war. Einige der Sätze sind nur in der Klavierversion erhalten und wurden für die Erstaufnahme von Philip Lane neu orchestriert. Bei der Uraufführung des Werks 1918 in einem römischen Kindertheater erklang die Musik von Lord Berners neben Werken von Malipiero und Bartók.