Wood | Von Antje Rößler

Der Oboist Olivier Stankiewicz

Oboe
Foto: Geert Maciejewski / Usedomer Musikfestival

Der Oboist Olivier Stankiewicz gewann 2015 den hochkarätigen New Yorker Nachwuchswettbewerb „Young Concert Artists“. Seither ist er als Solist erfolgreich und spielt unter Simon Rattle im London Symphony Orchestra.

Mozart meinte es gut mit den Bläsern, auch wenn die Oboe in seiner Rang­liste wohl nicht ganz so hoch wie die Klarinette stand. Er hinterließ ein Oboenkonzert, ein Oboenquartett und hätte sicher nichts dagegen, seine Geigensonaten auf der Oboe zu hören. 

Wie gut eine solche Übertragung auf das Blasinstrument funktioniert, bewies der französische Oboist Olivier Stankiewicz beim Usedomer Musikfestival. Hier spielte er mit dem texanischen, in Berlin lebenden Pianisten Jonathan Ware ein von Mozart-Sonaten dominiertes Programm. Dabei wurde deutlich: In Sachen Klangvielfalt und Ausdrucksintensität ist die gern unterschätzte Oboe der Geige ebenbürtig. 

Man verfiel gar auf den Gedanken, die eine oder andere Passage würde zum Blasinstrument sogar besser passen. Das Andante der B-Dur-­Sonate KV 454 ist so ein Fall – mit seinem eindringlich geführten Gesang, bei dem Stankiewicz eine mediterran anmutende Melodiefreudigkeit an den Tag legte. Der Oboist zeigte sich temperamentvoll und dialogbereit; im steten Blickkontakt mit dem Pianisten. Anschließend kehrte er den ernsten Charakter der e-Moll-Sonate KV 304 heraus, die Mozart bei jenem Paris-Aufenthalt komponierte, als seine mitreisende Mutter starb. Unendlich einsam und verloren kreiselt hier das Menuett. 

Wegen Kurt Masur auf Usedom

2015 gewann Olivier Stankiewicz den renommierten New Yorker Nachwuchswettbewerb „Young Concert Artists“ (YCA). Dass es ihn nun auf die Insel Usedom verschlug, ist nicht zuletzt dem inzwischen verstorbenen Dirigenten Kurt Masur zu verdanken. Masur, langjähriger Ehrenschirmherr des Usedomer Musikfestivals, leitete schon 1995 eine Kooperation zwischen dem Wettbewerb und dem Festival in die Wege. Seither gastieren die YCA-Preisträger regelmäßig auf der Ostseeinsel. Traditionsgemäß geht ihr Auftritt im noblen Hotel Esplanade des Seebads Heringsdorf über die Bühne. 

„Der YCA-Wettbewerb hat mein Leben ver­ändert“, erzählt Stankiewicz. „New York ist für mich eine zweite Heimat geworden; ich bin regelmäßig mehrere Wochen am Stück dort.“ Der Wettbewerb führte ihn auch zu prestigeträchtigen Auftritten nach Paris, Tokio oder aber ­Washington, wo Stankiewicz ein neues Werk von Tonia Ko uraufführte, der YCA-Komponistin in Residence. Inzwischen sind die beiden ein Paar und leben gemeinsam in London. 

Neben den Mozart-Sonaten präsentierte Stankiewicz auf Usedom Oboen-Originalwerke von Carl Nielsen und Francis Poulenc. In den Fantasiestücken op. 2 des dänischen Romantikers Nielsen stellte er zwei typische Charaktere seines Instruments heraus: die Klage und den gassenhauerhaften Witz. Beides findet sich auch in Poulencs später Sonate. Unangefochten souverän meistert Stankiewicz hier das hochvirtuose Scherzo mit seinen perkussiven Rhythmen und nähmaschinenartigen Tonwiederholungen. Fazit: Dieser Musiker verfügt über eine tolle Technik, einen farbenreichen und lebendigen Ton sowie mitreißende Musikalität. 

„Die Oboe hat ein besonders schönes Legato.“

Nach dem Schlussapplaus gibt es mit den Künstlern ein Abendessen im kleinen Kreis. Stankiewicz verspeist mit großer Begeisterung Fisch­gerichte. Kein Wunder, stammt er doch aus der Hafenstadt Nizza. Auch sonst entspricht er mit seinem quirligen Temperament und schnellen Redefluss geradezu dem Klischee eines Südfranzosen. Dazu gehört auch eine sympathische Lässigkeit. So bevorzugt Stankiewicz eine bestimmte runde Brille, die er allerdings in kurzen Abständen nachkaufen muss, weil die Bügel schnell abfallen. Die gesamte Usedom-Reise bestreitet er mit nur einem Brillenbügel.

Der Musiker plaudert auf Englisch und Deutsch; er könnte sogar mit Schwedisch dienen: Seine Vorfahren waren polnische Juden, die nach Schweden auswanderten – daher auch der slawische Nachname. Stankiewiczs Eltern kamen 1981 aus beruflichen Gründen nach Frankreich. „Sie wollten eigentlich nur zwei Jahre bleiben“, erzählt der Oboist. „Doch dann gefiel ihnen die Riviera besser als der schwedische Regen.“

Die Mutter war Klavierlehrerin. „Ich selbst wollte aber lieber ein ‚körperliches‘ Instrument spielen. Und die Oboe hat ein besonders schönes Legato.“ Sie sei ein“»äußerst vielseitiges Instrument mit einer starken Persönlichkeit“, fährt der Musiker fort, der allerdings wenig begeistert davon ist, die Mundstücke zu fertigen. „Ich habe alles Mögliche ausprobiert, um mich dabei nicht zu langweilen. Das habe ich nie geschafft“, meint er. „Deshalb habe ich den Prozess systematisch perfektioniert. Unterm Strich kann ich drei von fünf Mundstücken verwenden.“

Das „Blattdrama“ ist auf YouTube zu sehen

Sein wohl größtes Mundstück-Abenteuer, das man auch auf YouTube bewundern kann, war eine Aufführung der Berlioz-Oper „Fausts Verdammnis“ mit der London Symphony. Gegen Ende wollte Stankiewicz gerade mit seinem großen Solo loslegen, als er eine Wasserblase zwischen den Klappen bemerkte. Er klopft, um sie zu entfernen und spaltet dabei versehentlich das Rohrblatt. Blitzschnell greift er nach dem Instrument des zweiten Oboisten und spielt nahtlos weiter – obwohl der Nachbar ein anderes Griffsystem mit der nur in England gebräuchlichen Daumenklappe-Mechanik verwendet. In der Zwischenzeit reinigt der Kollege das Instrument, setzt ein neues Rohrblatt ein, und die beiden spielen weiter. Niemand im Saal hat das Drama mitbekommen. 

Olivier Stankiewicz studierte am Pariser Konservatorium Oboe und Dirigieren. 2012, noch als Student, gewann er den Internationalen Oboenwettbewerb in Japan. Seine erste Anstellung war der Posten als Solo-Oboist beim National­orchester in Toulouse, wo er vier Jahre blieb. Mit diesem Ensemble bestritt er 2014 als Solist die Uraufführung eines Oboenkonzerts des französischen Komponisten Benjamin Attahir. 

2011 war Stankiewicz an der Gründung des „Warn!ng Collective“ für Neue Musik beteiligt. „Die Arbeit mit Warn!ng war für mich eine befreiende, grenzüberschreitende Erfahrung, ähnlich wie ein frischer Stoß Sauerstoff. Sie hat meinen generellen Zugang zur Musik stark geprägt“, erzählt der Musiker. „Wir haben dort viel improvisiert und mit Künstlern anderer Sparten kooperiert. Die Arbeitsweise kann man sich ähnlich wie bei einer Tanzcompagnie vorstellen: Jeder steuert seine Ideen bei.“ 

Solo-Oboist des von Simon Rattle geleiteten London Symphony Orchestra

Neben seiner Tätigkeit als Musiker liebt Stankiewicz das Klettern und Bergwandern. Er spielt Schach und repariert Fahrräder. Seit fünf Jahren lebt er nun in London. Abgesehen vom Brexit – ein Thema, das ihn wirklich in Rage bringt – gefällt es ihm an der Themse gut. Er erkundet gern die Restaurants mit exotischer Küche aus anderen Ländern. Die exquisiten südfranzösischen Gerichte vermisst er nicht. „Die könnte ich ja selbst kochen“, lacht er, was man ohne Weiteres glaubt, wenn er akribisch beschreibt, wie er das perfekte Frühstücksei bereitet, indem er zum Abschrecken Eiswürfel verwendet. 

Beruflich hat sich Olivier Stankiewicz in London fest etabliert. Er ist Solo-Oboist des von Simon Rattle geleiteten London Symphony Orchestra und lehrt als Professor am Royal College of Music. In einer Einspielung mit dem LSO hat er den Solopart in Mozarts Oboenkonzert übernommen. Er widmet sich aber auch regelmäßig der Kammermusik. Zum Beispiel im »Duo Widmung« mit dem Pianisten Alvise Siniva, das sich auf Liedbearbeitungen konzentriert.

Auch für die nächsten Monate hat Olivier Stankiewicz schon viele Pläne. So nimmt er eine CD für das kleine, feine Label „Delphinian“ auf, außerdem plant er eine Uraufführung mit dem Pariser Komponisten Laurent Durupt.