Wood | Von Hans-Jürgen Schaal

Der Schalmeien-Sucher Heinz Stefan Herzkammer

Schalmeien
Foto: music-ceret.com

Eigentlich war er Psychotherapeut, aber seine Leidenschaft gehörte der Volksoboe und Volksklarinette. 20 Jahre lang folgte Heinz Stefan Herzka (1935 bis 2021) der „Schal­meien-­Route“. „Ich glaube, dass Oboenmusik und mein Beruf eine enge Beziehung haben, weil beide auf dem Terrain der Emotionen liegen.“

Sein Schlüsselerlebnis hatte er zu Beginn der 1980er Jahre auf einer Auslandsreise – in Thessaloniki (Griechenland). Seine Begleiterin und spätere Ehefrau, Verena Nil Herzka, eine Tanz- und Musiktherapeutin, kam dort an einer Bushaltestelle mit einem Musiker ins Gespräch. Dieser lud die beiden Reisenden aus der Schweiz für den Abend in eine Taverne ein, wo der Musiker mit seiner Zurna auftrat. Das abendliche Musikerlebnis veränderte Herzkas Leben: „Für mich war augenblicklich kein Zweifel, dass ich ein solches Instrument spielen wollte“, schreibt er.

„Liebe auf den ersten Ton“

„Es war Liebe auf den ersten Ton.“ Auf die Frage, wo man eine Zurna am besten erwerben könne, nannte der Musiker die Stadt Edirne in der Westtürkei, nahe der Grenze zu Griechenland und Bulgarien. 1983 reiste das Schweizer Paar nach Edirne, um eine Zurna zu kaufen. Bei dieser Gelegenheit begriff Herzka, dass er sich mitten in Thrakien befand, das schon in der Antike für seine Aulosspieler bekannt war – „eine Landschaft, die für die Schalmei-Instrumente ebenso große Bedeutung hatte wie Athen und Rom für die Baukunst oder Philosophie“. 

Von da an war es um Herzka geschehen. Der Züricher Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie, ein bedeutender Pionier seines Fachs, nutzte fortan jede freie Gelegenheit, um seiner neuen Leidenschaft nachzugehen: der Erforschung der Volksoboen und Volksklarinetten in aller Welt. Von 1980 bis 2000 unternahm er rund 50 Auslandsreisen auf vier Kontinenten. Dabei widmete er sich zunächst ausgiebig dem nördlichen Mittelmeerraum und bereiste (teils mehrfach) Griechenland, Italien, Jugoslawien, Bulgarien, Zypern und die Türkei. Danach ging es nach Indien (1985), China (1986), Südamerika (1986) und Nordafrika (1987). Spätere Schalmeien-Forschungsreisen führten ihn auch nach Spanien, Frankreich, Mexiko, Guatemala, Tansania, Ma­dagaskar, Mali, Indonesien, Vietnam, Pakistan, Iran, Syrien, Usbekistan, Äthiopien, Russland, Georgien, in den Jemen und in andere Länder. Die Herzkas reisten immer zu zweit und fast ­immer nur mit öffentlichen Verkehrsmitteln.

Schalmeien der Welt

Eine erste Bilanz seiner Schalmeienforschung zog Herzka im Jahr 2003 mit der Buchveröffentlichung „Schalmeien der Welt“. Der großformatige Band (250 Seiten) enthält ganzseitige Fotos von Schalmeienspielern und Schalmeienszenen und ein ausführliches Literaturverzeichnis. In einem besonderen Abschnitt sind mehr als 60 verschiedene Schalmeien abgebildet und kommentiert – von der italienischen Ciaramella und katalanischen Gralla über die ägyptische Mizmar und kamerunische Alghaita bis hin zur indischen Shenai, chinesischen Suona und indonesischen Sarune. Der umfangreiche Text dieses Buches handelt weniger von Herzkas Reisen als vielmehr von seinen Hintergrundforschungen zum kulturellen und historischen Kontext all dieser Instrumente. Sein Material ist allerdings viel zu üppig, um zwischen zwei Buchdeckel zu passen. Deshalb war der Ausgabe von 2003 (zeittypisch) eine CD-ROM beigelegt. 510 Abbildungen, 2331 Bildschirmseiten und 887 Seiten Druckdateien auf der CD-ROM ergänzen und vertiefen das Buch.

In seinem Text erläutert Herzka eindringlich den geografischen „Schalmeiengürtel“, das bandförmige Verbreitungsgebiet der Volksoboen und Volksklarinetten. Es reicht im Nordwesten bis zur Bretagne und erstreckt sich Richtung Südosten über drei Kontinente bis nach Indonesien. Durch ethnische Wanderungen und Handelsbeziehungen (etwa über die Seidenstraße) hat sich die Schalmei über die Jahrtausende im Gebiet dieses „Gürtels“ ausgebreitet und dabei viele regionale Varianten und kulturelle Traditionen hervorgebracht. Durch den Islam wanderte die Schalmei außerdem auch nach Ost- und West­afrika. Nach Lateinamerika kam sie durch die europäischen Eroberer und Kolonisatoren. Und in ganz verschiedenen Kulturen spielt sie eine wichtige religiöse, emotionale oder soziale Rolle. Der Sound der Schalmei, so schreibt Herzka, „ist der Klang der Feste und Rituale, des Übersinnlichen und der Erotik, der Ekstase und der Heilkunst, der Hochzeit und der Totenfeier. Kein Instrument ist der menschlichen Stimme so ähnlich wie die Schalmei, kein anderes übt eine solche Macht auf die Gefühle aus.“

Seelische Kraft der Schalem

Wenn Herzka über die seelische Kraft der Schalmei schreibt („eine in Klang verwandelte spirituelle Inspiration“), dann spürt man auch den Psychologen in ihm, den Fachmann für Emotionen: „Die Musik der Schalmei hat eine ausgeprägte Tendenz, unter die Haut zu gehen; sie berührt und bewegt.“ In späteren Jahren musste Herzka häufig an die Klezmer-Musik denken, die seine Großeltern hörten, und vermutete, dass er durch sie früh für den Schalmeienklang geprägt worden war. Nicht zuletzt berührte ihn aber auch der „migrantische“ Aspekt der Schalmeienmusik, die ja häufig von Gypsies und Kulturenwanderern gespielt wird.

Herzka war selbst ein Emigrantenkind – seine Eltern hatten 1938 mit ihm ihre Heimatstadt Wien verlassen, um in die Schweiz zu gehen. (Seine Mutter war die Psychologin Else Freistadt Herzka, eine Mitarbeiterin von Alfred Adler in Wien.) Die therapeutische Betreuung von Migrantenkindern lag auch dem Psychiater Herzka immer sehr am Herzen. Er galt in der Schweiz als Pionier der transkulturellen Kinder- und Jugendpsychiatrie und besaß ein besonderes Gespür für starke psychische Erschütterungen. „Schalmeienmusik ist eng mit dem Auslösen und Ausleben von Kräften des Lebens und der Zerstörung verbunden“, schrieb Herzka. „Ihre unmittelbar erfahrbare, oft unwiderstehliche, aber nicht genau erklärbare Wirkung macht sie zu einer Vermittlerin außersinn­licher Erfahrung.“

Vom Aulos bis zum Saxofon

In seiner Darstellung der verschiedenen Schalmeien-Kulturen erzählt Herzka die historischen Zusammenhänge gerne bis in die Gegenwart hinein. Der Klang und die Kraft der Schalmei – das war seine feste Überzeugung – wirken auch in modernen Instrumenten und Musikstilen weiter: „Schalmeien sind die Ahnen nicht nur der heutigen Oboen, Klarinetten und Saxofone, sondern auch von Akkordeon und Orgel.“ Geradezu eine „Auferstehung“ der Magie der Schalmeien-Instrumente hört Herzka im Jazz, speziell bei Saxofonisten wie Charlie Mariano oder John Coltrane. Die emotionale Wirkung ihres „sprechenden“ Spiels, ihre „stimmliche“ Improvisationsweise, ihre emotionalen „Zwischentöne“ entsprechen ganz der Gefühlsmacht der Schalmeienspieler. An dieses jahrtausendealte Kontinuum zu erinnern, an diese historische „Brücke“, und die kulturelle Vielfalt der Schalmeien-Traditionen zu ­dokumentieren (und vielleicht zu erhalten), war Herzka ein großes Anliegen.  

Durch seine zahlreichen Reisen auf den Spuren der Schalmei hat Herzka über die Jahre eine Vielzahl an Instrumenten, Rohrblättern, Musikaufnahmen, Tagebüchern und Fotos zusammengetragen. Seine Sammlung soll mehr als 300 Tondokumente und beinahe 1000 Dias umfassen. Auch besaß er mehr als 700 Fachbücher zum Thema und etliche Dokumente bildlicher Darstellungen von Schalmeienspielern – angefangen bei antiken Vasengemälden bis hin zu Schweizer Brunnenfiguren. Die gesammelten Schalmeien-Instrumente hat er übrigens auch selbst gespielt – oft war das gemeinsame Musizieren die wichtigste Kommunikationsform in fernen Ländern, deren Sprache er nicht verstand.

Die indische Shenai war dabei sein Liebling: „Ich habe nie eine Oboe angetroffen, die so gut klingt und die mir so innig entspricht.“ Seine Sammlung hat Herzka dem Musikinstrumente-Museum in Céret (Südfrankreich) vermacht. Es ist dort mit dem Internationalen Zentrum populärer Musik (CIMP) assoziiert, das sich auf traditionell katalanische Instrumente und Partituren spezialisiert hat. Laut Wikipedia ist Herzkas Sammlung eine der größten Kollektionen von Oboen-Instrumenten weltweit. Übrigens sollen alle seine Instrumente bei der Übergabe ans Museum funktionstüchtig gewesen sein.

herzkaprof.ch/wsp/

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