Wer den Berliner Philharmonikern lauschen möchte, muss entweder ins Konzert gehen oder auf eine Fernseh-Übertragung warten. Oder? Weit gefehlt: Seit neun Jahren kann man sich die Berliner Philharmoniker zu jeder beliebigen Tages- und Nachtzeit ins eigene Wohnzimmer holen – in der Digital Concert Hall. CLARINO sprach mit Tobias Möller, der bei den Berliner Philharmonikern für die Online-Kommunikation und Medienvermarktung zuständig ist.
Herr Möller, was genau ist die Digital Concert Hall?
Rein technisch gesehen ist die Digital Concert Hall eine Videoplattform, mit der man Live-Übertragungen und Aufzeichnungen von Konzerten der Berliner Philharmoniker abrufen kann – auf dem Fernseher, auf Mobilgeräten, auf dem Computer.
Die Grundidee des Projekts geht aber über diese technische Seite hinaus. Die Digital Concert Hall ist neben der Berliner Philharmonie eine weitere Spielstätte der Berliner Philharmoniker – nur eben im Internet.
Seit wann gibt es die Digital Concert Hall und welche Idee bzw. welches Ziel steckt dahinter? Wer war der Initiator?
Die Digital Concert Hall ist im Dezember 2008 online gegangen, und wenige Wochen später gab es unsere erste Live-Übertragung. Die Idee reicht aber noch einige weitere Jahre zurück. Sie geht im Wesentlichen auf Olaf Maninger zurück, der sich als Solocellist und Medienvorstand mit der Frage beschäftigt hat, wie man als Orchester im digitalen Zeitalter ein internationales Publikum ansprechen kann. Zusammen mit dem Filmproduzenten Robert Zimmermann und einem neu zusammengestellten Digital-Team hat er dann das Projekt entwickelt.
Welche Inhalte werden in der Digital Concert Hall bereitgestellt?
Neben Live-Übertragungen und Aufzeichnungen der jüngeren Vergangenheit kann man bei uns weit in die philharmonische Historie zurückreisen – mit Konzerten, die bis in die Karajan- und Abbado-Jahre zurückreichen. Dazu gibt es Bonus-Filme, Interviews und Dokumentationen.
Handelt es sich bei den Konzerten um Live-Aufnahmen oder Aufzeichnungen? Wie viel wird nachbearbeitet?
Jedes live übertragene Konzert wird nachbearbeitet und nach wenigen Tagen als Aufzeichnung im Archiv veröffentlicht. Die Bearbeitung betrifft vor allem Fehler, die im Live-Bildschnitt passieren können, aber manchmal auch musikalische Einsätze, die nicht hundertprozentig gelungen sind. Aber das sind alles minimale Korrekturen, verglichen mit dem, was bei regulären Fernsehproduktionen bearbeitet wird.
Ist der digitale Konzertsaal eine Konkurrenz zu »richtigen« Konzertbesuchen? Oder ist vielleicht sogar das Gegenteil der Fall?
Unser Publikum kommt zu über 75 Prozent aus dem Ausland und hätte sonst kaum je die Möglichkeit, live dabei zu sein. Wir sind der festen Überzeugung, dass die Digital Concert Hall auf den Besuch unserer realen Konzerte neugierig macht und gerade keine Konkurrenz dazu darstellt. Sonst hätten die Musiker diesem Projekt nie zugestimmt.
Inwiefern unterscheidet sich für den Zuhörer das digitale Konzert vom realen?
Das Gefühl, ein Orchester live im Konzertsaal zu erleben, wird sich durch keine vorstellbare Technik ersetzen lassen. Das ist einfach ein nicht reproduzierbarer Thrill. Aber natürlich bekomme ich bei einem digitalen Konzert die Musiker ganz aus der Nähe und aus vielfältiger Perspektive zu sehen. Und man sitzt ganz gemütlich auf dem Sofa, muss sich keine Krawatte binden und keinen Parkplatz suchen.
Wie viele Menschen nutzen die Digital Concert Hall?
Aktuell haben wir über 900 000 registrierte Nutzer, darunter gut 30 000 Inhaber eines bezahlten Tickets.
Und wer sind die Nutzer des digitalen Angebots?
Wir stellen bei der Registrierung nur ganz wenige Fragen, denn die würden erfahrungsgemäß viele potenzielle Nutzer abschrecken. Wir fragen allerdings nach dem Herkunftsland. Aus Deutschland kommen 22 Prozent der Besucher, aus den USA rund 18 Prozent, aus Japan rund 16 Prozent.
Die übrigen stammen vor allem aus europäischen und asiatischen Ländern, aber auch Südamerika wird für uns ein immer wichtigerer Markt.
Ähneln sich das digitale und das reale Publikum? Oder gibt es gravierende Unterschiede?
Das digitale Publikum ist naturgemäß wohl etwas jünger als das reale. Was aber nicht bedeutet, dass unser reales Publikum in der Philharmonie konservativer wäre. Ich habe eher den gegenteiligen Eindruck: Wer öfter ins Konzert geht, ist eher dem Experimentellen, Ungewöhnlichen gegenüber aufgeschlossen.
Was sind die beliebtesten Beiträge mit den meisten Zugriffen?
Das kann man so allgemein nicht sagen. Natürlich gibt es Klassiker unseres Katalogs, die ganz oben in der Statistik stehen: Beethovens Neunte mit Simon Rattle, Schumanns Klavierkonzert mit Martha Argerich. Aber am meisten Aufmerksamkeit erregen doch unsere jeweils neuesten Veröffentlichungen. Das kann dann auch mal Janáčeks »Schlaues Füchslein« sein.
Werden die Zugriffszahlen als Trend für die zukünftige Programmplanung berücksichtigt?
Nein, und das ist auch richtig so. Dass die Musiker programmatische Entscheidungen autonom nach rein künstlerischen Erwägungen fällen, ist ja Teil des Erfolgsrezepts des Orchesters.
Wie ist das überhaupt für die Musiker beziehungsweise Dirigenten? Müssen diese bestimmte Dinge beachten, wenn das Konzert auch für den digitalen Konzertsaal verwendet werden soll?
Am Anfang war das alles für einige Musiker schon gewöhnungsbedürftig. Aber inzwischen sind unsere Übertragungen für das Orchester ja Alltag. Die Musiker sollen sich auch nicht anders verhalten als an Konzertabenden ohne Live-Stream. Das war eine entscheidende Anforderung bei der Entwicklung der Digital Concert Hall: Das Erlebnis im Saal darf sich durch die Technik weder für das Publikum noch für die Musiker auf der Bühne verändern.
Wie viel Technik steckt in dem Projekt? Wie viele Techniker sind im Einsatz?
Im Videostudio unter dem Dach der Philharmonie sitzen bei einer Übertragung meist ein halbes Dutzend Kollegen, darunter ein Bildregisseur und ein Kameramann, der gleichzeitig acht ferngesteuerte Kameras im Saal bedient.
Der Ton kommt aus einem separaten Audiostudio. Das Signal wird dann noch in der Philharmonie encodiert und an ein sogenanntes Content Delivery Network übergeben, das die Weiterleitung in alle Welt übernimmt.
Welche technischen Voraussetzungen benötigt man denn selbst, wenn man das Angebot nutzen möchte?
Der Abruf von Online-Videos ist heute ja ganz alltäglich geworden. Sie können unsere Konzerte per Website abrufen oder mit unseren Mobil-Apps für Smartphone und Tablet.
Am größten ist der Konzertgenuss natürlich mit einem Fernseher, an den man ein gutes Audiosystem angeschlossen hat. Für Fernseher haben wir TV-Apps entwickelt, oder man überträgt das Signal vom Mobilgerät auf den großen Bildschirm. Es gibt wirklich viele, viele Möglichkeiten, bei uns dabei zu sein.
Gibt es konkrete Pläne für die Zukunft? Soll das Angebot noch weiter ausgebaut werden?
Auf jeden Fall. Zunächst sind inhaltlich viele Erweiterungen denkbar: Kammermusikkonzerte, Meisterkurse, noch mehr historische Aufzeichnungen. Vor allem aber eröffnet die sich rasant entwickelnde Technologie immer neue Möglichkeiten.
Wir haben in diesem Jahr Panasonic als Technologiepartner der Digital Concert Hall gewonnen und konnten daraufhin unser Videostudio mit brandneuer 4K-Technologie ausstatten. Wir werden also in absehbarer Zeit in der Lage sein, Konzerte mit vierfacher HD-Auflösung zu übertragen. Das ist schon eine Pioniertat und unglaublich spannend.