Orchestra | Von Klaus Härtel

Dresdner Bläserphilharmonie: Neuer Dirigent

Andrea Barizza (Foto: Alessandro Corio)

Andrea Barizza ist neuer Dirigent der Dresdner Bläserphilharmonie. Als im Mai vergangenen Jahres Stefan Fritzen, langjähriger und prägender Dirigent, verstarb, suchte man einen geeigneten Nachfolger, der neben der Leitung des 19. Sinfonischen Bläser­konzerts im Dresdner Kulturpalast vor allem auch die Zukunftsausrichtung übernimmt. Wir schauten Andrea Barizza bei einer Probe über die Schulter – und sprachen anschließend über seine Arbeit, seine Philosophie und seine Zukunft.

Nur dumpf schallen die Klänge der Blasinstrumente in die kalte Nachtluft hinaus. Der Saal des Beruflichen Schul­zentrums für Gesundheit und Sozialwesen im Dresdener Bezirk Pieschen ist gut schallisoliert. Ohnehin sind es nur relativ kurze Musikfetzen, die gerade ertönen. Karel Husa steht auf dem Plan, „Music for Prague 1968“. Dieses sehr ­suggestive Werk, reich an eindrücklichen Klangbildern, ist keine leichte Kost. Schon bei den Proben nicht.

Andrea Barizza unterbricht häufig. In diesem Moment vor allem, weil das crescendo noch nicht so kommt, wie er es hören möchte. Immer und immer wieder. Er steht mehr vor seinem Hocker als dass er sitzt. Er scheint immer bereit zum Sprung, will das staccato unterstützen. Die ­Ärmel des rosaroten Hemdes sind leicht auf­gekrempelt, die schmale graue Krawatte wippt im Takt. Das sieht nicht nur nach Arbeit aus. „Zusammen! Noch mal!“ Klingt es unwirsch? Energisch schon, bestimmt. Doch Andrea Barizza wird niemals unsachlich undeutlich. Die Musiker wissen sofort, was er meint.

Der Klang darf das Publikum nicht ermüden

Er klopft sich mit der linken Hand auf den Bauch. „Von hier muss das kommen, nicht von hier!“ Mit Zeigefinger und Daumen greift er sich an den Hals. Mit näselndem Singsang macht er deutlich, wie sich Husa eben nicht anhören darf. Grollend singt er die Passage aus dem Bauch. Und schaut fragend, ja triumphierend in die Reihen. Auch beim nächsten Einsatz ist er nicht zufrieden, bricht schnell ab. Er lässt das hohe Blech aufstehen, geht durch die Reihen. Schon besser. Er erklärt noch einmal: „Der Klang ermüdet das Publikum!“ Und das darf er natürlich unter gar keinen Umständen. Barizza verlangt mehr Aktivität, mehr „Vorlage“. Beim nächsten Einsatz der Blechbläser nickt er zufrieden lächelnd. Die Daumen gehen hoch, „Bravo!“. Und wenn ein Italiener „Bravo!“ ausruft, dann meint er das auch so.

“Leute, die gerne spielen”

„Karel Husa ist ein schwieriges Werk“, gibt An­drea Barizza hinterher zu. Wobei es ja „zwei ­Arten von Schwierigkeit“ gebe. Zunächst gehe es darum, dies hinzubekommen, weil die Noten schwer sind. „Doch das ist hier natürlich nicht das Problem, denn die Dresdner Bläserphilharmonie ist ein sehr gutes Orchester!“ Am schwierigsten sei es, mit der „Music for Prague 1968“ die Dramaturgie aufzubauen, vor allem mit Mu­sikern, die eben nicht jeden Tag auf der Bühne stehen. Interessant ist, dass der Dirigent fast nie von „Amateuren“ spricht. Sondern von „Leuten, die gerne spielen“.

Der Dirigent ist bewusst nicht bei jeder Probe in Dresden dabei

Die Musikerinnen und Musiker der Dresdner Bläserphilharmonie treffen sich in der Regel wöchentlich. Nicht immer proben alle Musiker gemeinsam, auch Registerproben, die gelegentlich von Mentoren betreut werden, finden statt. Das ist eine Sache, die Barizza anders macht als sein prägender Vorgänger Stefan Fritzen. Stefan Fritzen war immer da. Für seine Musiker, für seine Musik. „Ich bin auch sehr oft dabei“, erklärt An­drea Barizza. „Aber nicht immer!“ Der Italiener ist bewusst nicht immer dabei. Dass er mittlerweile in Bremen wohnt, ist nicht der Grund – auch wenn die Fünf-Stunden-Bahnfahrt einer sein könnte. „Nicht bei jeder Probe dabei zu sein, hilft dem Orchester, seine eigene Persönlichkeit zu bekommen – noch mehr, als sie ohnehin schon da ist!“ So könne sich das Orchester selbst aufbauen. Dass jeder Einzelne dann bei der Gesamtprobe vorbereitet sein muss, sei ja selbstverständlich. „Das Orchester soll auch weiterarbeiten, wenn der Dirigent mal nicht da ist“, findet Barizza. Natürlich sei er für das Gesamte verantwortlich, für das Klangbild. Aber es gehe da um die Disziplin, auch alleinverantwortlich zu handeln.

Husa und Strauss: zwei Welten

Bei den Proben im Dresdner Norden stand zunächst Husa auf dem Plan, dann nach einer kurzen Pause Richard Strauss‘ „Feierlicher Einzug des Johanniterordens“. Sofort ändert sich da das Klangbild. „Jede Partitur hat seine Vor- und Nachteile“, weiß Andrea Barizza, „seine Stärken und Schwächen. Ich meine das natürlich nicht musikalisch, sondern beim Einstudieren. Ein Husa braucht kein Orchester, das wunderschöne Legati spielen kann. Husa braucht ein Orchester, das auf den Punkt ‚scharf‘ ist.“ Bei Strauss hingegen habe jede Instrumentengruppe in Sachen Thema und Begleitung seine bestimmte Rolle. Es sei spannend, diese beiden Werke in einer Probe zusammen einzustudieren. „Das sind andere Welten. Das Orchester muss innerhalb von ein paar Minuten umschalten.“ Und es habe auch seinen Grund, warum zuerst Husa und dann Strauss auf dem Probenplan stehe. „Es ist etwas anderes, mit dem Gefühl nach Hause zu gehen, dass die Musik ein bisschen schwierig ist, als mit Strauss nach Hause zu gehen!“ An­drea Barizza lacht laut.

Einfacher allerdings ist Richard Strauss nicht. Schon gar nicht in Dresden, wo jeder Strauss kennt. Denn Richard Strauss war in Sachsen ­tätig. Zahlreiche Opern wurden hier Anfang des 20. Jahrhunderts uraufgeführt, etwa „Salome“, „Elektra“ oder der „Rosenkavalier“. Strauss‘ Musik ist in Dresden nicht nur bekannt – „sie wird auch unglaublich gut gespielt“, weiß Ba­rizza. Das liegt daran, dass „jeden Tag zwei ­Orchester Strauss spielen“, spielt Barizza auf Staatskapelle und Philharmonie an. „Aber das ist auch sehr schön, denn damit haben wir die Möglichkeit, dieser Art des Klangs zu folgen.“ Dem Dresdner Klang. Ein Klang übrigens, den Stefan Fritzen über alles verehrte und dem er erfolgreich nacheiferte. „Das macht uns keinen Druck“, denkt Barizza. „Die Leute kennen den Klang. Für uns ist das ein unbezahlbares Modell. Die Bläserphilharmonie ist in der Stadt sehr anerkannt.“

Dresden hat mir sehr viel gegeben. Auch menschlich.

Überhaupt Dresden. Barizza schwärmt von der sächsischen Metropole. Hier hat er acht Jahre gelebt und Orchesterdirigieren studiert. Hier war er zuletzt Assistent von Michael Sanderling in der Dresdner Philharmonie. Hergekommen sei er, als er kein Deutsch sprach. „Das kann ich auch jetzt noch nicht“, kokettiert er und lacht. „In Dresden fühlte ich einfach, dass es passte. Ich war glücklich mit meinen Professoren. Dresden hat mir sehr viel gegeben. Auch menschlich.“ Dresden sei so viel mehr, als „die Leute draußen denken“. Er scheint darauf anzuspielen, dass Dresden oft nur auf die unsäglichen Pe­gida-Demonstrationen reduziert wird. „Ich habe viel gelernt über die Klanggeschichte und Kulturgeschichte – eine besondere in der Welt.“ Vielleicht war es auch das Karma, das ihn nach Dresden geführt hat. Oder ist es Zufall, dass Dresden „Elbflorenz“ genannt wird? Sein Geburtsort La Spezia ist nicht weit entfernt vom „echten“ Florenz. Barizza schmunzelt. „Es gibt auch eine ­große Verbindung zwischen Dresden und Venedig. Canaletto war hier! Aus der Gegend um Vene­dig stammt ein Teil meiner Familie!“ Jetzt lacht er schallend.

“Dieses Orchester ist nur offiziell ein Amateurorchester.”

Im Sommer 2019 – er war gerade nach Bremen umgezogen – fragte ihn jemand, ob er Interesse habe, die Nachfolge von Stefan Fritzen anzu­treten. Hatte er. Die Bläserphilharmonie habe er natürlich gekannt. „Und obwohl das Orchester kein Profiorchester ist, habe ich es übernommen.“ Er erklärt: „Normalerweise hätte ich mir das gut überlegt. Denn ich bin dabei, meine Karriere aufzubauen. Und ich war an einem Punkt, an dem meine Entscheidungen sehr wichtig sind. Ein ‚Amateur-Blasorchester‘ zu übernehmen, hätte eine falsche Entscheidung sein ­können.“ Doch er ist mehr denn je überzeugt: „Dieses Orchester ist nur offiziell ein Amateurorchester.“ Was er hier in jeder Probe erlebe, sei enorm – „nicht das Können – vor allem der Wille! Das ist eine Erfahrung, die man sehr selten macht!“ Und trotzdem findet er, es sei noch „viel Platz nach oben! Und es ist meine – unsere gemeinsame – Aufgabe, diesen Platz zu füllen.“

Mir ist es egal, ob ihr Amateure oder Profis seid. Ich werde mich hier benehmen, wie ich mich bei meiner Arbeit mit den Profis be­nehme.“

Barizza verlangt viel von seinen Musikern. Das habe er gleich beim ersten Treffen klargestellt: „Mir ist es egal, ob ihr Amateure oder Profis seid. Ich werde mich hier benehmen, wie ich mich bei meiner Arbeit mit den Profis be­nehme.“ Eine Probe sei „kein Spaziergang am See – wie man in Italien sagt“. Er erwartet von seinen Musikern, dass sie wach sind und konzentriert arbeiten. Eine Probe sei kein Treffen, um nur Spaß zu haben.

Kurz vor der Probe in Dresden weilte der Dirigent 14 Tage in Portugal, wo er ein Auswahlorchesterprojekt betreute. Ein Projekt für Sinfonieorchester wohlgemerkt. Aber auch um die Unterschiede zwischen Blasorchester und Sinfonieorchester macht er kein Fass auf. Und das, obwohl er bislang noch kein vollständiges großes Blas­orches­ter dirigiert hat. Denn ihm gehe es schlicht um den Klang. Es gebe Blasorchester, die ihm persönlich zu „brassy“, zu blechlastig klingen. Das sei natürlich völlig legitim – „aber wir wollen hier den besonderen Dresdner Klang. Das ist die wichtige Aufgabe, die ich übernommen habe.“ Natürlich seien Sinfonie- und Blasorchester „andere Welten, denn schon die Rolle der Klarinetten ist eine völlig andere“. Und jede Welt hat zudem ihr eigenes Repertoire. Barizza schwärmt von den vielen „guten Komponisten, die für das Blasorchester komponieren. Arrangements sind eine tolle Sache, aber wenn ich Originalliteratur spiele, weiß ich, dass der Komponist für diese Besetzung gedacht hat und nicht für eine an­dere.“

Die Aufgabe im Sinne von Stefan Fritzen weiterführen

Andrea Barizza will die Aufgabe im Sinne von Stefan Fritzen weiterführen. „Leider habe ich ihn nie persönlich kennengelernt, aber ich habe die Konzerte erlebt.“ Stefan Fritzen habe es eindrucksvoll geschafft, für dieses Orchester einen Platz zu finden. Das sei in Dresden nicht zu unterschätzen. „Viele Menschen denken ja, dass die Qualität eines Orchesters von der Qualität seiner Streicher abhängt“, erklärt Barizza. Dieses Denken habe natürlich auch seinen Grund, „aber wir bekommen es ohne Streicher hin! Und Stefan Fritzen hat es geschafft, die Leute zu überzeugen, dass auch ein sinfonisches Blas­orchester zu großer Leistung fähig ist!“

Viel hängt dabei davon ab, welche Dirigentenpersönlichkeit dort auf dem Podest den Taktstock schwingt. Ist ein Dirigat mehr Diktatur? Oder doch eher Demokratie? Andrea Barizza holt weiter aus: „Bis Claudio Abbado Dirigent wurde, hat der Dirigent bestimmt: ABC! Und das Orchester hat gespielt: ABC.“ Natürlich sei nie alles Schwarz oder Weiß, aber heute sei das Orchester mehr in den Prozess involviert. „Arvids Jansons, der Vater des Dirigenten Mariss Jansons, der auch der Lehrer meines Lehrers war, hat immer gesagt: ‚Der Dirigent ist da, um den Musikern zu ermöglichen, Musik zu machen.‘ Das geht natürlich nicht mit Leuten, die dich vielleicht hassen, weil du ein Diktator bist. Es ist also wichtig, ein involviertes, ein demokratisches Orchester zu haben.“

“Der Dirigent ist nicht wichtiger ist als der 4. Hornist!”

Barizza denkt nach. „Aber was heißt Demokratie?“, fragt er. Er zweifelt an, ob immer alle über alles sprechen müssten. Natürlich sei freie Meinungsäußerung wichtig, „aber wenn alle Meinungen gleich viel zählen, wird es delikat. Es kann ja nicht sein, dass meine Meinung beispielsweise über eine Struktur die gleiche Bedeutung hat, wie die eines Ingenieurs.“ Hierarchien seien nicht dazu da, um Macht zu demonstrieren, sondern um Prozesse zu entwickeln. „Das gilt für jeden Prozess! Also auch den musikalischen. Der Dirigent hat seine Rolle. Das bedeutet aber nicht, dass der Dirigent wichtiger ist als der 4. Hornist!“ Das Orchester solle involviert sein, es funktioniere nicht nach dem Muster „Befehlen – Ausführen!“ Aber: „Ich bin überzeugt, dass der Dirigent führen und Entscheidungen treffen muss. Hierbei ist das Überzeugen wichtiger als Bestimmen.“ Und nicht zuletzt sollte das Orchester auch vertrauen können.

„Orchester ist Zivilisation!“

„Ich werde nie aufhören, mich bei meinem Professor Christian Kluttig zu bedanken. Denn der hat mich nicht nur die Schlagtechnik gelehrt, sondern auch, wie ich mich auf dem Podest ­verhalten muss.“ Natürlich sammelt man die Erfahrungen auch im Laufe des Lebens. Vor allem seien die Erkenntnisse nie absolut. Jedes Orchester arbeitet anders. Befehle zu erteilen sei seine Sache nicht, denn „ich brauche aktive Musi­ker! Denn am Ende spielen ja sie, produ­zieren sie den Klang. Ich kann das nur er­mög­lichen!“

Dresdner Bläserphilharmonie im Kulturpalast (Foto: Armin Koch)

„Ein Orchester ist eine Metapher für unsere Gesellschaft“, findet Andrea Barizza. Viel mehr als das der Fußball sei. Es gebe zwar Parallelen, weil hier wie dort jeder seine Rolle spiele, um als Mannschaft erfolgreich zu sein. Doch das gemeinsame Agieren „kann ich in der Musik viel besser lernen als im Fußball! Alle spielen gleichzeitig! Im Fußball aber: Wenn der Stürmer den Ball hat, ist der Torwart ‚arbeitslos‘. Das passiert im Orchester nicht.“ Im Orchester sei jede Person anders, jede Person aber sei integriert. „Musik funktioniert nicht, wenn kein Respekt gegenüber anderen da ist.“ Es wäre so wichtig, wenn alle Kinder Orchestermusik machen würden. Das Niveau sei da zunächst zweitrangig. „Im Orches­ter lernt man seine Rolle in der Gesellschaft!“ Barizza wird energisch. Klopft mit der flachen Hand auf den Tisch. „Jeder! Spielt! Seine! Wichtige! Rolle! Im Orchester lernt man fürs Leben! Orchester ist Zivilisation!“

19. Sinfonische Bläserkonzert im Dresdner Kulturpalast

Er lehnt sich zufrieden zurück. Das musste jetzt mal gesagt werden, lässt sein triumphierendes Lächeln erahnen. Jetzt geht es wieder an die Arbeit – wieder ein bisschen mehr Zivilisation in die Gesellschaft bringen. Andrea Barizza ist derzeit viel unterwegs. Im vergangenen Jahr zählte er 43 Flüge. Doch das Reisen sei kein Problem. „Ich mag das.“ Seine Hauptaufgabe ist für die nächsten Wochen erst einmal das 19. Sinfonische Bläserkonzert im Dresdner Kulturpalast am 23. Februar. Mit der Dresdner Bläserphilharmonie plant er langfristig. „Ich will weiter wachsen! Und das Orchester hat das Zeug dazu! Und zwar über Dresden hinaus.“ Barizza ist voller Tatendrang, ist überzeugter denn je, das richtige getan zu haben „Wenn ich nicht überzeugt gewesen wäre, hätte ich schon am Anfang ‚nein‘ gesagt.“ Jetzt will er die Früchte der gemein­samen Arbeit ernten.

https://www.andreabarizza.com/