Orchestra | Von Hans-Jürgen Schaal

Gedanken zum Dilemma der Musikvermittlung

Foto: Albrecht Fietz – Pixabay

Idealerweise sollte Musik so vermittelt werden, dass sie dabei als etwas Vieldeutiges, Unerschöpfliches, ständig neu zu Erlebendes erfahrbar bleibt. Dafür müssten Musikvermittler allerdings ihr Selbstverständnis von Grund auf hinterfragen. Komplexität ist notwendig.

Als Musikjournalist bin ich selbst gewissermaßen in der Musikvermittlung tätig. Ob in Werkeinführungen für Programmhefte, CD-Rezensionen für Jazzmagazine oder Musikerporträts fürs Radio – ich vermittle zwischen der Musik und den Lesern beziehungsweise Hörern. Dabei bin ich mir durchaus klar darüber, dass ich nicht nur Brücken baue, sondern gelegentlich auch Hindernisse. Als Musikvermittler wirke ich nämlich wie ein doppelter Filter. 

Erstens ist meine eigene Musikwahrnehmung speziell und subjektiv, abhängig von meinen persönlichen Hörprägungen und Hörerwartungen. Zweitens ist die Art, wie ich meine Musikwahrnehmung für die Leser beziehungsweise Hörer versprachliche und aufbereite, ebenfalls wieder subjektiv.

Selbst wenn jemand anderes die Musik ganz genauso wahrnehmen und empfinden könnte wie ich, würde er oder sie dennoch auf eine etwas andere Art über die Musik schreiben oder reden. Wahrscheinlicher aber ist, dass er oder sie die Musik anders wahrnimmt als ich. Grundsätzlich, so glaube ich, können zwei Per­sonen dieselbe Musik so unterschiedlich „vermitteln“, dass gar keine Gemeinsamkeiten miteinander mehr erkennbar sind.

Auf ein bescheidenes Minimum

Wenn aber zwei Musikjournalisten bereits so unterschiedlich zu Werke gehen, wie verschieden sind dann erst die Prägungen, Erwartungen, Voraussetzungen und Interessen der vielen potenziellen Hörer?

Während ich „vermittelnd“ eine Gruppe von Lesern begeistere und neu­gierig mache, vergraule ich womöglich andere, die aber durchaus ihren eigenen, anders gearteten Zugang zu dieser Musik finden könnten. Um das Musikerlebnis als offenen Entdeckungsraum für alle zu bewahren, müsste sich Musikvermittlung deshalb auf ein ganz bescheidenes Minimum zurücknehmen.

Das könnten zum Beispiel begleitende Informationen sein, etwa zur Bio­grafie von Komponisten oder Interpreten, zu ihrer Intention, zum historischen Kontext. Gleichzeitig müsste aber deutlich werden, dass sich Musik niemals im Biografischen oder Intentio­nalen (zum Beispiel in politischen Botschaften) erschöpft. Musikvermittlung müsste auch von jeder Art von qualitativer oder historischer Wertung Abstand nehmen. Denn jede individuelle Hörhaltung die Freiheit haben sollte, ihre eigenen Maßstäbe zu entwickeln. Letztlich, so sage ich mir, vermittelt sich Musik nur dadurch, dass sie gehört wird.

Das Hörerlebnis als Musikvermittlung

Wir alle kennen Musikwerke oder Musikaufnahmen, die uns früh geprägt haben, die uns dauerhaft beschäftigen oder zu denen wir immer wieder zurückkehren. Warum ist das so? Weil wir diese Musikerlebnisse nicht beim ersten Hören entschlüsselt haben – auf welcher Ebene auch immer. Selbst wenn wir ein Musikstück im Detail analysieren würden, könnten wir letztlich wohl kaum begründen, warum uns eine bestimmte Stelle jedes Mal so tief trifft, während wir eine andere, ebenso kunstvolle, nur „ganz schön“ finden. Die magische Kraft von Musik – übrigens jeder Art von Musik – liegt im Rätselhaften, Mehrdeutigen und Eigenwilligen. 

Am meisten faszinieren uns jene Musikerleb­nisse, deren Wirkung wir uns selbst nicht recht erklären können. Das gerade macht ja die Tiefe einer ästhetischen Erfahrung aus: dass sie ein wenig dunkel und unauslotbar bleibt. Die Romantiker meinten, Musik spreche von dem, was durch Worte nicht gesagt werden könne. Wir sollten uns also nicht einbilden, ausgerechnet mit Worten die Macht und Botschaft der Musik übersetzen zu können.

Eigene Rätselhaftigkeit und Vieldeutigkeit

Wenn wir zu einem Musikstück zurückkehren, weil es uns beschäftigt, weil es uns fasziniert oder ein dauerhaftes Rätsel ist, dann scheint es manchmal so, als würde die Musik jedes Mal auf andere Weise zu uns sprechen. Oder aber: Wir sind in der Zwischenzeit einfach ein anderer geworden. Für jeden Hörer kann ein Musikstück seine eigene Rätselhaftigkeit und Vieldeutigkeit besitzen. 

Der Islamwissenschaftler Thomas Bauer schreibt: „Ein Kunstwerk wird dann angemessen rezipiert, wenn ihm, von jedem Rezipienten unterschiedlich, verschiedene Lesarten und Bewertungen zugeordnet werden, eben gerade aus dem Grund, weil das Kunstwerk ambig [mehrdeutig] ist.“ Das heißt: Eine Musikvermittlung, die vorgibt, ein Musikwerk erklären oder verstehen zu können, raubt dem Musikerlebnis gerade das, was seine Kraft und Faszination ausmacht.

Musik in ihrer ganzen Uneindeutigkeit wahrzunehmen und anzunehmen – das ist doch das eigentliche Vergnügen beim Hören. Musikvermittlung sollte sich daher hüten, die reiche ­Erfahrung des Ästhetischen auf ein einfaches »Verstehen von Musik« zu reduzieren.

Musikvermittlung: Erleben statt Erklären

Sagen wir doch einfach: Beim Musikhören ist das erhebende Erlebnis wichtiger als das analytische Verstehen. Das Ziel jeder Musikvermittlung müsste daher sein, der Musik ihre Komplexität zu belassen und die Erfahrung dieser Komplexität im Hören zu fördern.

Für den Musikpädagogen Karl Heinrich Ehrenforth ist der Hörer ein Mitwirkender beim Erlebnis Musik. Schon 1976 schrieb er, die Musikvermittlung („didaktische Interpretation“) habe „vor allem die Aufgabe, den Raum für die persönliche Erfahrung und Aneignung, für das Ins-Spiel-Kommen, das En­gage­ment des Mitspielers ‚Hörer‘ offenzuhalten, damit der Ort seines Interesses, das heißt seines Dazwischenseins, das Einbringen seiner eigenen Erfahrungen, nicht erdrückt wird im übermächtigen Anspruch des Werkes“. 

Daher sollte Musikvermittlung nicht vorgeben, ein „objektives“ Verständnis von Musik liefern zu können. Auch sollte sie keinen Wertekanon („Klassik ist gut“) suggerieren. Der offizielle „gute Geschmack“ der Prestigehörer ist das Gegenteil von musikalischer Offenheit und einem Sich-Einbringen. Viel verdienstvoller wäre es, die Freude an der Vielschichtigkeit, Viel­fältigkeit, Rätselhaftigkeit und möglicherweise sogar Unverstehbarkeit von Musik zu entfachen. Oder mit den Worten der Designkünstlerin Franziska Agrawal: „Fantasie ist wichtiger als Wissen.“

Wieder Kind sein!

In der Begegnung mit Musik sollten wir daher alle wieder ein wenig wie Kinder sein. Erinnern wir uns an den Zauber der Kindheit. Vieles war für uns unverständlich, rätselhaft und wunderbar. Wir hatten mehr Fragen als Antworten, mussten selbstständig auf spannende Ent­deckungsreisen gehen und eine Sache zu unserer eigenen machen mitsamt der unge­lösten Fragen darin. 

Als Erwachsene dagegen halten wir Mehr­deutiges und Ungelöstes häufig nicht mehr für faszinierend und wunderbar, ­sondern für un­angenehm, problematisch, minderwertig oder nebensächlich. Wir leiden unter einem allge­meinen „Erklärungs- und Ver­stehens­wahn“, wie Thomas Bauer es nennt. Stattdessen sollten wir wieder lernen, „gerade in der Dunkelheit und Opakheit“, zum Beispiel von Kunstwerken, „einen besonderen Reiz zu erkennen“. 

Komplexitätskompetenz

Komplexität oder Ambiguität zu akzeptieren, sogar zu genießen – das widerspricht unserem täglichen Verständnis von effektivem und lösungsorientiertem Handeln. Doch die Fähigkeit, mit Mehrdeutigkeiten und unaufgelösten Wider­sprüchen glücklich zu werden, könnte eine Kernkompetenz für unsere Zeit sein. Die Vielfalt kultureller Traditionen und Lebensentwürfe wür­digen zu können, ohne Aggressivität und Dis­kriminierung, scheint in einer globalisierten Wirklichkeit immer wichtiger zu werden.

Wenn wir Komplexität und Mehrdeutigkeit in der Musik positiv erleben, entwickeln wir auch im Alltag leichter eine tolerante und differenzierte Einstellung. Der Musikjournalist Holger Noltze schreibt: „Ästhe­tische Erfahrungen können uns in der Fähig­keit trainieren, Schwieriges auszuhalten, Unerklärbares anzunehmen.“

Insofern wäre komplexe musikalische Erfahrung eine gute Übung für Pluralismus und Sozialkompetenz. Hier sollte Musikvermittlung ihre gesell­schaft­liche Verantwortung sehen. Dagegen ist eine Musikvemittlung, die Zusammenhänge und Widersprüche erklären, auflösen, vereinfachen und auf den Begriff bringen möchte, weder der musikalischen Sache noch der gesellschaftlichen Wirklichkeit angemessen.