Schon der Begriff “Musikpädagogik” gibt zu denken. Meinen wir die Erziehung zur Musik? Oder die Erziehung mithilfe von Musik? Die erzieherische Vermittelbarkeit von Musik? Oder den erzieherischen Wert von Musik an sich? – In der Vieldeutigkeit des Begriffs versteckt sich ein tieferer Sinn. Das Musikalische ist nämlich vom Menschen und seiner Erziehung einfach nicht zu trennen. Musikalische Erfahrung triggert unser emotionales Erleben, unsere intellektuellen Fähigkeiten, unsere sozialen Handlungen.
Musik erregt praktisch alle Areale unseres Gehirns – sie ist in der Natur des Menschen verankert. Eine Erziehung, die Musik außer Acht ließe, hätte ein beschädigtes Bild vom Menschen. Das Gestalten und Erleben von Musik und das Reflektieren über sie sind ein wichtiger Bestandteil unseres Handelns. Die Musikerfahrung gehört zu unserer Wissensaneignung, unserer Biografie, unserer Identität. Es gibt nicht nur Schreiben, Reden, Lesen, Rechnen – es gibt auch eine kreative menschliche Aktivität, die sich auf Musik bezieht. Der Musikpädagoge David J. Elliott nennt diese Aktivität “Musicing”.
Pestalozzi und die Früherziehung
Die pädagogische (oder allgemein menschenbildende) Bedeutung von Musik war schon in der Antike unumstritten. Der Philosoph Platon betonte, wie sehr Musik auf Charakter und Haltung des Menschen wirke, ihn zu Ordnung und Struktur erziehe, “weil Rhythmus und Harmonie am meisten in das Innere der Seele eindringen und sie am meisten ergreifen”. Sein Schüler und Gegenspieler Aristoteles meinte, das Erleben von Musik sei gut und nötig. Weil es dem Menschen ein erfülltes Leben schenke. Musik lehre uns die Lebensfreude, die Heiterkeit, die Ausgeglichenheit: “Wir verändern uns in der Seele, wenn wir Musik hören.”. Musik, so meinte er, lindere den Schmerz, reinige die Seele von quälenden Gefühlen. Schon in der antiken Philosophie hat also die Beschäftigung mit Musik den pädagogischen Sinn, einen sowohl sozial verantwortlichen Menschen als auch einen glücklichen Menschen zu schaffen. Das Schöne (die Klangkunst) ist zugleich das Gute (das ethisch Richtige).
Auf diesem Gedanken beruht letztlich auch die Bildungsidee der Aufklärung. Aus der Sicht von Kant und Humboldt ist der gebildete Mensch “ein guter, anständiger, aufgeklärter Bürger” – positiv, eigenständig, glücklich, kooperativ, erlebnis- und gefühlsfähig. Die Reformpädagogik von Johann Heinrich Pestalozzi (1746 bis 1827) nahm sich zum Ziel, solche “allseitig gebildeten” Persönlichkeiten zu schaffen. Die Grundlage aller Erziehung ist dabei die positive Bindung des Kindes an die Welt, speziell an die Mutter, die Eltern, die täglichen Dinge.
Musik, so schreibt Pestalozzi, “bereitet die Seele für die edelsten Eindrücke vor und bringt sie gleichsam mit ihnen in Einklang”
Für Pestalozzi besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Stimme der Mutter, der sinnlichen Erfahrung von Tönen, der Entwicklung der Sprache und dem Erleben von Musik. Das Üben erster Vokalreihen und Wortreihen, die Schulung des Gehörs und der frühe Umgang mit Musik/Stimme sieht er als Voraussetzung für ein harmonisches Verhältnis zur Welt. Als Verehrer von Jean-Jacques Rousseau versteht Pestalozzi hier die Ton-, Wort- und Sprachlehre als ein Ganzes – Musik ist “wie” Sprache. (Rousseau war der Meinung, dass Musik und Sprache einst eine Einheit gebildet hätten – eine These, die von Neurobiologen und Anthropologen heute wieder stark vertreten wird.)
Musik, so schreibt Pestalozzi, “bereitet die Seele für die edelsten Eindrücke vor und bringt sie gleichsam mit ihnen in Einklang”. Musik sei wichtig in der Erziehung, “weil sie die höchsten Gefühle, deren der Mensch fähig ist, zu erzeugen und zu unterstützen vermag”. Die Bindung zur Musik helfe nicht nur dem schulischen, sondern auch dem ethischen Lernen. Bei Pestalozzi ist das Musikalische ein konstitutiver Teil der Menschenbildung. Das Schulwerk des Komponisten Carl Orff (1895 bis 1982) hatte – mehr als 100 Jahre später – einen ähnlichen Ansatz. Orff glaubte, dass Menschen ein natürliches Bedürfnis hätten, sich durch Sprache, Musik und Bewegung auszudrücken. Der spielerische Umgang mit Musik bereite den Boden für emotionale, intellektuelle und soziale Entwicklungen des Kindes. Erst Musik macht den Menschen ganz.
Pubertät und Musik
Ebenso wichtig wie in der Früherziehung ist die Musik für die Entwicklung im Jugendalter. Pubertierende durchleben ein jahrelanges Gefühlschaos und eine Erschütterung ihrer Identität. Das Erfahren und Reflektieren von Musik kann ihnen hier einen direkten, sprachlich unverbauten Weg zu ihrer schwierigen Gefühlswelt aufzeigen und emotionale Spannungen abbauen helfen. Jugendliche (im Alter von ca. 10 bis 20 Jahren) können sich mit bestimmten Musikstücken so stark identifizieren, dass sie sie wie einen Teil ihrer Persönlichkeit erleben. Eigene musikalische Präferenzen auszubilden hilft ihnen, eine Identität zu entwickeln, sich von Autoritäten (zum Beispiel den Eltern) loszulösen und neue Orientierungen zu finden. Die meisten Musikpädagogen sind überzeugt davon, dass aggressive Musik (Heavy Metal, Hip-Hop u. Ä.) nicht etwa aggressive Gefühle weckt, sondern diese ableitet. Das »Musicing« (Musizieren oder Hören oder Reflektieren von Musik) liefert der Freizeit der Jugendlichen einen Inhalt und der alterstypischen Verweigerung einen Fluchtpunkt.
Für Musikpädagogen bedeutet die Arbeit mit Jugendlichen eine große Verantwortung – aber eine noch größere Chance. In keinem Alter ist der Mensch empfänglicher für die Nuancen der Musik als in der Jugend. Die Beschäftigung mit musikalischen Strukturen (Melodien, Nebenstimmen, Entwicklung, Aufbau usw.) fordert und stärkt den Intellekt. Der “Gefühlsraum” der Klänge wiederum hilft Jugendlichen, sich selbst zu erfahren und Sensibilität für die eigenen Emotionen zu entwickeln.
Und das gemeinsame Musikerlebnis stärkt zudem die soziale Bindung, Verständigung und Kooperation. Neben diesen persönlichkeitsbildenden Wirkungen (gerade im Jugendalter) gibt es außerdem die sogenannten “Transfereffekte” der Musik für die Schullaufbahn und den späteren Beruf. Dazu gehört, wie der alte Goethe schon wusste, dass Musik sprachliche und mathematische Fähigkeiten fördert. Über die musikalische Empfänglichkeit der Jugendlichen lässt sich zudem (zum Beispiel im Schulunterricht) eine Menge “Kontext” vermitteln. Etwa historisches Wissen, interkulturelle Kompetenz, ethische Wertvorstellungen.
Der unnütze Nutzen der Musik
Leider erfahren Jugendliche, wenn sie sich für eine Musik begeistern und sie stundenlang hören wollen, nicht immer Verständnis bei ihren Eltern. Die Beschäftigung mit Musik gilt Außenstehenden vielfach als “unnütz”. Auch die Lehrpläne der Schulen vernachlässigen die Musik häufig zugunsten “nützlicher”, zweckrationaler Kernkompetenzen (Sprachen, Mathematik usw.). Schon Erasmus von Rotterdam hielt Musik in der Schule für Zeitverschwendung. Sein Zeitgenosse Martin Luther war da allerdings anderer Meinung. Er sah den Aspekt der Menschenbildung und fand, dass die Menschen durch Musik “geduldiger und sanfter und einsichtiger” würden; deshalb sei es “unbedingt notwendig, die Musik in den Schulen zu erhalten”. Der Pädagoge Comenius (1592 bis 1670) kehrte den Nützlichkeitsgedanken sogar in diesem Sinne um. Nützlich sei, so meinte er, was das Dasein des Menschen bereichere und ihm ein gutes und erfülltes Leben schenke – zum Beispiel die Musik.
Dass die Beschäftigung mit Musik keinen praktischen Zweck zu haben scheint (außer bei angehenden Musikern), ist keine Schwäche, sondern die große Stärke der Musik. Sie setzt zur rational organisierten Gesellschaft einen wichtigen Kontrapunkt, nämlich das Spielerische, die Fantasie, die Verweigerung des Zweckdenkens. Der dänische Musikpädagoge Sten Clod Poulsen sieht gerade in dieser Verweigerung einen wichtigen Nährboden für Zukunftsvisionen und Protest, für ein neues Denken und Fühlen, also letztlich für sozialen Fortschritt.
Sein norwegischer Kollege Øivind Varkøy meint, ein gutes und erfülltes Leben beruhe gerade auf Tätigkeiten, “die im Sinne eines rigiden Nutzdenkens nichts wert sind. Wir alle begeistern uns für Spiele, Sport, Kunst, Natur, Religion oder das Zusammensein mit Freunden […]. Ich verstehe Musik als eine Form des menschlichen Handelns, die grundsätzlich einen Wert an sich und in sich selbst hat. […] Gerade weil sie ‘unnütz’ ist, ist sie wichtig und notwendig.” Mit anderen Worten: Der “Zweck” des “Musicing” ist das Musikerlebnis selbst.