Orchestra | Von Renold Quade

Godspeed! von Stephen Melillo

Godspeed

“Stormworks is a Life-lesson in ‘positive obsession’, the rigorous regard from History and its Heroes, the pursuit of transcendent Love despite the storms of the world and an unwavering belief in the Brotherhood of Man”«”. Das ist eine der ersten Botschaften, die sich einem Leser eröffnen, wenn sich dieser auf Stephen Melillos Website umsieht. Das ist in wenigen, aber starken Worten die Philosophie, die hinter Melillos Antrieb zu dessen kompositorischem Schaffen steht. Diesmal gehts um “Godspeed!”

Seine Musik (besonders für große Blasorchester) bezeichnet er persönlich ganz bewusst und allumspannend mit dem Begriff “STORMWORKS”. Dieser Begriff fasst für ihn etliche Aspekte zusammen. Etwas frei übersetzt, bedeuten Stormworks für ihn eine Art von Schule des Lebens in positiver Besessenheit und mit rigorosem Respekt vor der Vergangenheit, vor der Geschichte und deren Helden. Inbegriffen sind zudem das starke Streben nach transzendenter (grenzüberschreitender, jenseits aller Erfahrungen der Ge­genständlichkeit) Liebe und der unerschütterliche Glaube an die Brüder- und Schwesterlichkeit der Menschheit – trotz aller Stürme in dieser Welt.

Der Komponist

Stephen Leonard Melillo wurde am 23. Dezember 1957 in Port Chester, etwa 50 Kilometer von New York City, geboren. Nach der Regelschule begann er zunächst ein Physikstudium, das er jedoch abbrach, um am Boston Conservatory of Music ein Musikstudium aufzunehmen. Nach seinem ersten Diplom dort erwarb er nach weiteren Studien an der Columbia University seinen Master, u.a. auch in Dirigieren. 

Sein umfangreiches Schaffen reicht von Film­musik (weit über 20 TV-Produktionen, Werbe­musik, Musik für Nintendo, Sega und IBM sowie Erkennungsmusik für Sportler wie die NY Nets, die Yankees und Giants), drei Symphonien und Instrumentalkonzerten bis hin zu einem großen, ständig erweiterten Zyklus von Werken für großes Blasorchester, die “STORMWORKS”.

Seine “Stürme” erzählen häufig von Leid, Dunkelheit, Bedrohung und wollen dabei aber gleichzeitig immer das Bedürfnis nach Erlösung, Licht, Freiheit und Frieden ausdrücken. Das Publikum soll Melillos Werke nicht nur hören, sondern auch im wahrsten Sinne des Wortes, “erleben”. Die Aussagen seiner sehr persönlichen, durchaus eigenwilligen und in dieser Ausprägung wohl mit Alleinstellungsmerkmal versehenen Musikerphilosophie lassen sich nicht auf bestimmte politische oder religiöse Richtungen reduzieren. Er ist schlicht und ergreifend “engagiert” und “aufgewühlt” und schreibt dazu: “Große Musik schafft die Vergangenheit neu, erkundet das ewig Gegenwärtige und bewirkt, dass sich bald neue Abenteuer für die Menschheit entfalten.” Seine Werke zieren stets das Datum ihrer Fertigstellung und die Bemerkung, dass sie zur Ehre Gottes, IGNA (In Gods Name Always), geschrieben sind.

Melillo war Trompeter

Melillo war zu Beginn seiner Karriere auch als Jazztrompeter unterwegs, er beschäftigte sich mit Sphärenharmonien, adaptiert aus barocken Theorien, mit ganzzahligen Proportionen in der Bewegung von Planeten oder auch “nur” mit den klanglichen Eigenschaften einer schwingenden Saite oder Luftsäule. Geprägt hat ihn zudem eine intensive Beschäftigung mit Mathematik, Naturwissenschaften und Pädagogik. Ihn bewegen schon immer mehr als lediglich die allgemeinen Spielregeln der Musik. Er bezieht viele Phänomene mit ein in den Bauplan seiner Kompositionen. 

Melillo
Klaus Härtel mit Stephen Melillo während der Aufnahmen mit dem Musikkorps der Bundeswehr.

Dabei spielen auch Angaben zur Sitzordnung eine Rolle. Ihm sehr wichtige Empfehlungen zur Optimierung des Orchesterklangs, wie etwa der bewusste Einsatz von Kontrabassinstrumenten, im einfachsten Fall elektronisch mit PAD-Bass, sind mehr als nur Hinweise. Sie dienen in seinem Sinne als Fundament und Grundlage für ein reicheres Obertonspektrum. Er scheut sich zudem nicht, klare Spielanweisungen zu formulieren, die wichtige Interpretationshilfen sind, um seinen durchdachten Ideen für ein zeitgenössisches Blasorchester zur idealen Wirkung zu verhelfen. (Hier noch abrundend erwähnenswert, wenn auch weniger bekannt, sein pädagogisches Werk »Function Chorales«, eine Schulung zur Verbesserung der Intonation im Orchester.)

Die Idee

Das Werk wurde beauftragt von “The Muncie Central High School Symphonic Band, Mr Bill Pritchett, Conductor”. Inspiriert wurde es nicht zuletzt von einem Brief, in dem Bill Prichett, sich, seine liebevolle Beziehung zu seinem Orchester und ihrer beider engagierter Einsatzfreudigkeit, bei durchaus auch begrenzten Ressourcen, erklärte. Unter anderem beschreibt er ihre gemeinsame Philosophie wie folgt: “All of these kids should feel as if they were a part of something meaningful.” Jeder möge sich als wichtiger Teil von etwas Bedeutsamen fühlen.

Dieser Enthusiasmus war Wasser auf die Mühlen von Melillo und er fasste den positiven Geist, der ihm da entgegenwehte, für ihn typisch mit dem Wort “Godspeed!” zusammen. Er knüpfte dabei an, an eine ihm schon lange eigene Gepflogenheit, mit genau dieser kleinen ergänzenden Floskel Briefe zu unterschreiben. “Godspeed!” heißt einfach übersetzt “Gott sei Dank”. Es wird aber in der Regel im erweiterten Sinne benutzt und wünscht zum Beispiel eine gute Reise oder viel Erfolg oder einfach auch nur viel Glück. 

Der Aufbau

Vieles in den Gedankenwelten von Stephen Melillo mag nüchternen Betrachtern eher phantastisch, versponnen, überspannt oder (esoterisch) abgehoben erscheinen. Er ist ohne Frage durch und durch nicht konventionell, aber dabei, auch aus der rein handwerklichen Sicht von bestaunenswerter Ausdruckskraft. Er arbeitet natürlich mit Dur und Moll, laut und leise, schnell und langsam, lang und kurz, aber gerne auch einmal ein wenig darüber hinaus. Zudem lässt er andere Gedankengänge und Ebenen, wie etwa die der mathematischen Symbolik oder das geschichtliche Erleben erweiternd zu. Er schafft so musikalische Erzählungen, die man in ihrer Wirkung auch als musikalische Rhetorik bezeichnen kann. Markige verbale Anmerkungen im Notentext unterstreichen dies immer wieder.

Zeugnis seiner wohldurchdachten Konstruktionstechniken geben dabei seine allgemeinen Hinweise im Klappentext der Partitur, die er gerne und reichlich gibt. So beginnt er mit technischen Anmerkungen, wie zum Beispiel: “Empfohlene Tempoangaben stärken eine stabile innere Architektur des Werkes. Sie helfen den Musikern mit größerer Leichtigkeit durch sonst ggf. langatmig wirkende Passagen zu kommen.” Weiter weist er darauf hin, das “Godspeed!” nach der Fibonacci-Folge konstruiert ist. (Leonardo Fibonacci, Mathematiker, beschrieb unter anderem im Jahre 1202 mit der Zahlenfolge
0 – (0+1) – 1 – (1+1) – 2 – (1+2) – 3 – (2+3) – 5 – (3+5) – 8 – (5+8) – 13 – … Wachstumsvorgänge in der Natur, wie etwa die Kaninchenpopulation.)

In der Summe sind es 33 Metrenwechsel, die das Werk beleben und in Takt 78, (im Idealfall) nach 33 Minuten und 33 Sekunden ist die “goldene Mitte” des Werkes erreicht. Und dass am 10. Mai (1998), dem angegebenen Kompositionsabschluss von “Godspeed!”, die von ihm geschätzten Komponisten Dimitri Tiomkin und Max Steiner Geburtstag haben und die “Symphony #1” Premiere hatte, hält er auch für erwähnenswert.

Blumige Ausdrucksweise von Melillo

Und los gehts. “Spectacle!” Schauspiel! Mit einer “repeated flourish phrase”, einem sich wiederholend aufblühenden Motiv, so die blumige Ausdrucksweise von Melillo, starten die Klarinetten (Stabspiele) harmonisch ausgesetzt im vorantreibenden 7/8-Takt. Er empfiehlt hier (und auch an ähnlichen Stellen im Werk) Trillergrifftechnik und kluge, abwechselnd organisierte Atemtechnik (“stagger breath”), damit der Fluss der Musik gegeben ist. Hörner steigen nach vier Takten mit langen Tönen im unisono bedeutungsvoll dazu, der PAD Bass verstärkt das Szenario. Ab Takt 9 übernehmen die Trompeten das Ostinato, ab Takt 11 formen die mittleren und tiefen Lagen, unter ständigem Wechsel des Metrums, eine melodische Linie, die in Takt 15 in einen hämmernden Tuttirhythmus mündet, der in Takt 17 eine solistische Glissando-Harfe freigibt.

Ab Takt 18 beginnt, quer durch die Partitur, ein munteres verarbeiten der bis hierhin vorgestellten Motive. Die crescendierende Achtelpassage in Takt 20 denkt er eher breit, quasi legato und in Anlehnung an Phrasierung im jazzigen Stil. Ab Takt 24 wird der von der Basspartie begonnen Gedanke dicht geführt. “Keep Building!” Im Sinne von: Halte es immer aufbauend und steigend, die Energie nimmt nie ab. Hier ist eine enorme Disziplin in Sachen eindeutiger Rhythmen und Phrasierung notwendig, die mit sehr stabilem Tempoempfinden einhergehen muss.

Mit der Energie von “With Triumph & Hope” beruhigt sich ab Takt 35 das Partiturbild durchaus ein wenig, aber die Energie des Vorantreibens bleibt erhalten. Im hohen Blech schält sich ein viertaktiger, fanfarenähnlicher Melodiezug he­raus, derweil sich im mittleren und tiefen Blech zunächst heftige Gegenschläge, in der Folge antreibende Rhythmik, Gehör verschaffen. Die Substanz wird nuanciert wiederholt und mündet über lange Töne in einen langsamen Teil, der das Tempo von MM 160 auf MM 54 reduziert. 

Sehr intensiv zu erlebende Choral

Die Holzbläser präsentieren einen durchaus sphärisch anmutenden Choralsatz. Zweitaktige Phrasen addieren sich fortschreitend, das Tempo ist grundsätzlich klar, aber nicht starr – er empfiehlt »as felt«, wie gefühlt. Ab Takt 51 mischen sich die Hörner dazu und ab Takt 55, quasi im Schlusston der bislang vom Holz angeführten melodischen Linie, starten die Blechbläser (und Englischhorn) zunächst alleine ihre Version des Chorals mit “Reverenz”, mit Ehrfurcht. Takt für Takt füllt sich auch hier die Partitur wieder an. Im Prinzip bleibt der vollklingende, aber sehr intensiv (besonders von den Hörnern) zu erlebende Choral in ansonsten nicht zu hoher Lage das bestimmende Moment. Würzend sorgt das Momentum der Vierteltriole immer wieder für aufwühlende Unruhe.

Hin zu Takt 63 baut sich ein kleiner Zwischenhöhepunkt auf, ebbt aber schnell über zwei Takte wieder ab und leitet über, “In Prayer”, zu einem ruhigen Englischhorn-Solo, nur von Harfe, PAD-Bass und sanften, vereinzelten Percussion-Schlägen begleitet. Ab Takt 74 bilden dann Hörner, Klarinetten und hohes Holz eine Klanggemeinschaft, die sich zu Takt 78 hin (3:33 »happens here!«) zu kurzen, stimmungsvoll aufflammenden Tutti erheben, sich in den folgenden zwei Takten zurück zu Holz und Hörnern aber auch schnell wieder ausdünnen. Zudem schwächt sich die Dynamik ab. Durchaus überraschend, in Takt 82, bei dynamischem Anschwellen sich schon kurz andeutend, “accel back to MM 160, and Groove”. Das Werk schickt sich an, den Sturm und Drang des Beginns wieder aufzubauen. Takt 82, die Vorbereitung des Tempowechsels, sieht Melillo als “escape hatch”, als Notausstieg.

Recht wildes Harfenglissando

Ab Takt 83, MM 160 ist stabil etabliert, weisen sechsmal zwei Takte eines ostinaten Riffs, beginnend im tiefen Blech, die Richtung. Darüber, ab Takt 85 in Hörnern und Holz, ab Takt 91 in Trompeten und Saxofonen, Motivik, die an die Passage ab Takt 35 erinnert. In Takt 95 erklingt ein recht wildes Harfenglissando bei chromatisch aufstrebenden Saxofonen, in Takt 96 akzentuiert aufstrebende Achtel, in Takt 97 sprinten die Hörner (“Rip!” – im Sinne von reißend, krachend) in Sechzehntelläufen himmelwärts und bereiten den Boden für (“Heralding!”) ankündigende Trompeten, die mit der »repeated flourish phrase« des Eingangs die Reprise nun endgültig erreicht haben. 

Bekanntes motivisches Material wirbelt durchs Orchester. Die Hörner setzen ab Takt 112 eine Marke, die Trompeten ab Takt 116, das tiefe Blech ab Takt 118. Weiter gehts, dynamisch erst zurück, dann wieder steigernd (“Build!”) mit bereits bekannter, in ihre Wirkung hier zunächst wieder stauender Motivik. Takt 127 nimmt im hohen Holz schließlich noch einmal kräftig Anlauf und wir befinden uns quasi wieder am optimistischen Beginn des Werkes. Ein gesundes forte ist hier bei allem Jubel mehr als genug, denn das Werk möchte sich noch einmal steigern, ruft ab Takt 134 ein fortissimo (“Deliver!” – Befreiung!) auf und lässt die musikalische Grundidee noch zweimal (“Wild, Relentlees ­Build!” – wild und unbarmherzig aufbauend und “Huge” – ungeheuer) hochleben. Das muntere Treiben und Drängen mündet in einem lang ausgehaltenen Ruf und schließlich via Schluss­crescendo in einem im dreifachen forte akzentuierten Einzelschlusston.

Die Instrumentation

“Keiner würde darüber nachdenken, Software zu kaufen, wenn er nicht die dafür notwendige Hardware zur Verfügung hat. In diesem Sinne sollten Dirigenten bitte darauf achten, dass die notwendige Ausstattung für ‘STORMWORKS’ vorhanden ist.” Da ist Melillo klar positioniert. In den Hinweisen zur Aufführung seiner Musik unterstreicht er gleich zu Beginn die Wichtigkeit seiner “Systemanforderungen”, wie er sie nennt. Das gut besetzte “wind and percussion ensemble” wird erweitert um zwei sogenannte “synthesizers”. Als wichtige Klänge sind PAD-Bass sowie Harfe und Klavier (gerne auch akustisch) gefordert. Mal vergleichsweise neutral im Hintergrund, um Klangschichtungen (Erkenntnisse aus den Zusammenhängen von Mathematik, Physik und Musik) zu verstärken, mal mit Effektpotenzial. Die Sitzordnung ist ihm zudem wichtig, inklusive der präzisen räumlichen Zuordnung der Elektronik. Genaue Angaben dazu liefert ein umfänglicher Text in der Partitur, welcher auf seinen ausdrücklichen Wunsch bitte gerne allen Beteiligten zur Verfügung gestellt werden kann.   

Fazit

“The pseudo-professionals … whom I some­times call ‘the music masters’ … would be fa­tigued by such a piece, imposed upon by such demands to Give! That is what Mr. Pritchett means when he says, ‘I’ve worked with a college band and sure, the group is better, but not necessarliy better for me.’ He means that you guys have the Heart and the Soul to make Music. For that reason, I am honoured to have been asked to write this piece. It is for you.”

“Godspeed!” ist ein kompaktes, einsätziges Werk. Jugendlicher Elan und unbändige Energie sind gleich zu Beginn zu hören. Die Musik strebt nach einem virtuosen und kaleidoskopischen Klangbild. Sie wird in der Mitte von einem stillen Gebet unterbrochen. Die Kraft des ersten Teils setzt sich aber wieder durch und führt zu einem strahlenden, triumphalen Schluss. Nur Mut, manchmal kann man es auch schaffen, über seinen Schatten zu springen, wenn nicht Größenwahn, sondern positive Impulsgebung und kluge Vorbereitung zur Seite stehen. Ok, da bin ich grundsätzlich sehr nah bei ihm, bemerke aber bei allem Respekt vor Mut und Wille, dass das Orchester sich im Bereich ab Oberstufe definitiv eher sehr gut bewegen können sollte.

Ständiges Wechselbad von Hoffnung und Wagemut

Godspeed! Frei nach Melillo: “Innerhalb der angestrebten Zeitvorgabe von 5 Minuten und 55 Sekunden passiert viel. Da ist jugendliches Hochgefühl, der Flug eines unantastbaren Geistes, hektische Verwirrung und unschuldiger Eifer. Inmitten der Blitze und der Aufregung stehen ein ehrfürchtiges Gebet und eine Ode an die Stille und an das, was für immer still ist. Immer präsent das selbstbewusste Behaupten von Idealen und ein immerwährendes Gelübde, die Herausforderungen des Lebens anzunehmen. Ein ständiges Wechselbad von Hoffnung und Wagemut, von Selbstreflexion und Trauer. Spaß und Mut sind miteinander verheiratet, Dunkel wird von Licht überwältigt und es kommt die Stunde, wo sich der unbezwingbare Wille des ewig Tapferen zum siegreichen Triumph erhebt!”

Hören Sie doch mal rein: www.blasmusik-shop.de/Godspeed