Orchestra, Szene | Von Hans-jürgen Schaal

Im grotesken Galopp – Strawinsky und die Bläser

Wenn Igor Strawinsky (1882 bis 1971) in seiner Musik pointiert die Bläser einsetzte, hatte das immer etwas von ironischer Übertreibung. Denn seine Musik spielt mit den Klischees und Konnotationen der Blas­instrumente. Sie bedient sich nur zu gerne beim allzu Typischen – und verfremdet es zugleich durch eine provokante formale und harmonische Sprache oder durch groteske Gegensätze und Brüche. Strawinsky überspitzt den Bläserklang bis hin zur Satire.

Strawinsky und die Bläser… Das weich näselnde, melancholisch hohe Fagott am Anfang des »Sacre«. Die infernalischen Blechbläser-Tiefen und die bizarren Klarinetten-Portamenti beim Höllentanz im »Feuervogel«. Die Trompeten-Fanfaren zu Beginn des Balletts »Agon«. Die wie ein Elektromotor schnurrende Bassklarinette im dritten Satz des »Ebony Concerto«. Das galoppierende Polka-Blech im »Scherzo à la ­russe«. Die ländlerische Klarinettenbegleitung in der Valse der zweiten Suite für kleines Orchester… All diese zackigen Marschsignale auf dem Kornett, die grotesk aufgeregten Oboen, die klirrenden Piccoloflöten, die walzernden Klarinetten, die blechernen Polka-Fanfaren, die glissandierenden Posaunen, die gestopften Trompeten, die meckernden Fagotte… Und all die irisierend schrillen, widerspenstig dissonanten, extrem weit gesetzten oder geheimnisvoll dräuenden Bläserfarbenmixturen… 

Folklore als Vorwand

Schon in Strawinskys frühen Balletten (1910 bis 1913) bilden die Bläsercouleurs und Bläsermischungen das eigentliche Aroma der Musik. »Der Feuer­vogel«, »Petruschka« und »Le Sacre du Printemps« profitieren von der Emanzipation, die der Bläserklang in der Orchestersprache des 19. Jahrhunderts erlebt hat. Es waren die Komponisten der Romantik – Weber, Schubert, Berlioz, Wagner, Bruckner, Strauss, Mahler –, die die Gefühlswelt der Blas­instrumente endlich befreit hatten: die Emotionalität der Klangfarbe, die Alchemie der Timbre­mischungen, die Wirkungskraft geballter Bläsergruppen. Strawinskys frühe Musik greift häufig auf diesen romantischen Bläserzauber zurück. Aber: Sie benutzt ihn mit Hintersinn, signalartig, plakativ, oft scheinbar ohne inneren Zusammenhang. Der Vorwand des Komponisten – seine Entschuldigung – lautet: Folklore. 

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