Bei kaum einem Thema gehen die Meinungen so weit auseinander: Improvisation. Die meisten Musiker bewundern zwar die Künstler, die es in der Improvisation zur wahren Meisterschaft gebracht haben, entwickeln jedoch selbst geradezu panische Angst vor Situationen, in denen sie, wenn auch nur für wenige Takte, zum Improvisieren aufgefordert werden.
„Was soll ich denn da bloß spielen?“, „Da fällt mir doch spontan nie was Gescheites ein!“, „Kannst du mir da mal was aufschreiben?“, „Das würde ich so gern können, aber ich weiß doch gar nicht, wie das geht“. Wer hat das noch nicht gehört, oder sogar selbst gesagt?
Dabei hat es doch irgendwie schon jeder, bewusst oder unbewusst, einmal getan. Beim Üben, beim Einspielen vor der Musikprobe, bei der Hausmusik, als kleiner Jux oder gar beim gemeinsamen Proben. Für Schlagzeuger oder Tubisten bei der Begleitung von Kollegen ist es meist sowieso nichts Außergewöhnliches. Nicht nur die großen Meister der Improvisation von Johann Sebastian Bach über Miles Davis bis Till Brönner sind hier berufen, nein, jeder kann es tun: improvisieren!
Improvisation macht nicht nur ungemein Spaß, sondern bringt uns musikalisch so viel weiter: auf dem Instrument und im Kopf. Sie lässt unser inneres Ohr aufblühen und nebenbei: sie schafft Gemeinschaft.
Hier kommt sie, die ultimative Lobhudelei auf die Improvisation – ganz gewiss nicht nur für Jazzer:
Zugegeben, Improvisation umgibt ein Hauch von Magie, ein Mythos. Entweder ist dieser Mythos verbunden mit den großen Vertretern seiner jeweiligen Epoche oder heutzutage mit einer Musikrichtung, die die Gemüter spaltet: dem Jazz. Dabei ist die gesamte Musik – so wie wir sie heute kennen – ohne Improvisation nicht denkbar.
Liegt in der Probe ein schönes Arrangement für Blasorchester oder für Bigband auf dem Pult und die herrlichen ausgedruckten Noten – so unveränderlich, fast wie in Stein gemeißelt – warten darauf, zum Leben erweckt zu werden, macht sich der Musiker oft gar nicht mehr bewusst, wie viel Improvisation hinter dieser scheinbar unumstößlichen Komposition auf dem Pult stecken kann. Da ist doch die Frage berechtigt: Worin liegt denn eigentlich der Unterschied zwischen Komponieren und Improvisieren? Der amerikanische Komponist Frederic Rzewski (*1938) sagt dazu Folgendes: „Der Unterschied zwischen Komponieren und Improvisation ist der, dass du in der Komposition so viel Zeit hast wie du möchtest, um darüber nachzudenken, was du in 15 Sekunden sagen möchtest, während du in der Improvisation nur 15 Sekunden hast.“
Wenn alles passt, kann die beste Melodie sogar in Sekunden entstehen
Theoretisch können also alle Parameter eines Werks bis ins Detail durchdacht werden, aber wenn alles passt, kann die beste Melodie sogar in Sekunden entstehen. Erst fertig aufgeschrieben wird sie dann zur Komposition. Angeblich hat der große Filmkomponist Henri Mancini (1924 bis 1994) seinen vielleicht berühmtesten Song „Moon River“ in 15 Minuten komplett fertig zu Papier gebracht. Ohne gute Improvisationsfähigkeit nicht denkbar!
Spielen Musiker in kleinen Besetzungen, ob im Jazz, bei der alpenländischen Hausmusik oder auch in einer Egerländer-Formation, sind neben dem Thema – also der Hauptmelodie – schon alle anderen Parameter, wie Begleitung oder Nebenmelodien, oft improvisiert. Diese Art der Instantkomposition gibt allen Anlass dafür, ein bisschen nach den Grundlagen, Hintergründen und der Geschichte der Improvisation zu forschen. Denn eines ist klar: Sie entlockt aus jedem von uns ungeahnte Fähigkeiten sowie ganz viel Kreativität und macht auch vieles einfacher.
In der europäischen Musik sind Formen der Improvisation schon seit der Renaissance überliefert. Im Barock war die Fähigkeit, über ein Musikstück zu improvisieren, sogar höchstgeschätzt und war für ausübende Musiker wie zum Beispiel für Organisten Pflicht. In der Person des wohl bekanntesten Musikers dieser Epoche, Johann Sebastian Bach (1685 bis 1750), gelangt diese Kunst zur absoluten Perfektion. Viele Anekdoten und Legenden ranken sich um sein außergewöhnliches Improvisationstalent. So wie die vom geplanten Wettstreit mit dem französischen Meisterorganisten Louis Marchand (1669 bis 1732), der sich wie Bach im Herbst 1717 am Dresdner Hof aufhielt. Nachdem Marchand Bach heimlich bei der Improvisation auf der Orgel zugehört hatte, trat er sofort fluchtartig den Heimweg an. Berühmt ist auch die Geschichte, als Friedrich der Große (1712 bis 1786) Bach bei einer Audienz höchstpersönlich aufforderte, eine komplette mehrstimmige Fuge über ein vom König selbst geschriebenes Thema aus dem Stegreif zu improvisieren.
Improvisationen in Form von Kadenzen sind bis heute beliebt
Improvisationen in Form von Kadenzen in Klassik und Romantik oder Variationen über Themen bleiben bis in die heutige Zeit beliebt. Die besten wurden aufgeschrieben und gerne von ihren Urhebern mit Titeln wie Fantasie, Variation oder Impromptu bezeichnet.
Für die Blechbläser unter uns stellen noch heute die Variationen von Jean-Baptiste Arban (1825 bis 1889) über den berühmten „Karneval von Venedig“ beliebte technische Herausforderungen dar und sind letztlich nichts anderes als kleine Improvisationen über das Thema vom „Hut mit den drei Ecken“. Interessant ist auch, dass gerade dieses Liedchen so viele berühmte Kollegen zu Improvisationen und Variationen beflügelte: Paganini, Chopin, Johann Strauss Vater. Alle wandten sich ihm zu, um es mit ihrer Kunst der Improvisation und Variation zu veredeln.
Und heute, wo wird da noch improvisiert? Überall dort, wo Musik noch traditionell über das Hören weitergegeben wird. Eine beliebte Melodie oder ein Rhythmus wird als Basis vorgegeben und alle Instrumentalisten und Sänger, die allerdings teilweise – wie in Indien etwa – eine jahrelange komplexe Ausbildung durchlaufen müssen, können darauf einsteigen. In diesem Zusammenhang sollte man nicht vergessen, dass auch in unserem Kulturkreis im Rahmen von traditioneller Hausmusik gerne miteinander musiziert, improvisiert und nach Gehör gespielt wird und dass dies im Alpenraum einen großen Teil der Musikkultur ausmacht.
Improvisation in Jazz- und Rockmusik
Nicht wegzudenken ist die Improvisation aus der Jazz- und Rockmusik: Bei Bands wie Deep Purple und Led Zeppelin macht diese Fertigkeit einen großen Teil des Œuvre aus. Die großen, fast inszeniert wirkenden Battles zwischen Musikern wie Jon Lord (1941 bis 2012) auf der Hammond-Orgel und Richie Blackmore (*1945) mit der E-Gitarre bleiben in Erinnerung.
In der Jazzmusik ist die Improvisation sogar das stilbildende Merkmal des gesamten Genres geworden. Alles ist dort möglich. Im Freejazz etwa steht das völlig freie Spiel für die ungebremste Freiheit des Künstlers. Doch in den meisten Fällen sind die Regeln klar festgelegt und gar nicht so weit von der klassischen Fantasie über ein Thema entfernt. Innerhalb des Harmoniegerüstes des Hauptthemas werden eigene Melodien erfunden, das Thema rhythmisch und tonal variiert. Vielfach ist es auch so, dass der Musiker sich dabei nicht nur auf seine eigene Intuition verlässt, sondern auch gute Ideen anderer Musiker übernimmt. Kleine, vorher gehörte und eingeübte Schnipsel, die „Licks“, werden in das Solo eingebunden, sodass aus diesen und der eigenen Kreativität etwas gänzlich Neues entsteht.
In den frühen Zeiten des Swing war es durchaus üblich, in Proben und Konzerten ein improvisiertes Solo nur so lang zu verändern, bis der Solist die für ihn schönste Melodik gefunden hatte. Diese Soli wurden dann immer wieder möglichst gleich gespielt und haben sogar Eingang in die von großen Verlagen später veröffentlichten Originalarrangements gefunden, wie etwa in Glenn Millers „In the Mood“ oder in Count Basies Version von „April in Paris“.
Improvisation über die Hits des Broadway
Im Bebop wurde gerne über die großen Hits des Broadway improvisiert. Für Musiker wie Charlie Parker (1920 bis 1955) und Dizzy Gillespie (1917 bis 1993) waren die Akkordverbindungen dieser Gassenhauer jedoch weit wichtiger als die ursprüngliche Melodie, die ja sowieso die Menschen auf der Straße pfiffen. Viele der großen Songs des „American Songbook“ wurden von den Musikern nur noch ohne Melodie gespielt, und gute Improvisationen, die immer wieder gespielt wurden, übernahmen dann die Funktion als neues Thema. Fast alle Kompositionen von Charlie Parker sind festgehaltene und von ihm selbst und seinen Kollegen immer wieder gespielte Fantasien über die Akkorde von Broadway-Hits. Beispiele dafür findet man in „Donna Lee“ (über „Indiana“ von James F. Hanley) oder „Ornithology“ (über „How High the Moon“ von W. M. Lewis).
Nun ist es natürlich sehr interessant, all diese Sachverhalte musikwissenschaftlich zu erörtern, jedoch für ausübende Musiker stellt es sich als viel reizvoller heraus, der eigenen Kreativität freien Lauf zu lassen und auch einfach mal drauflosspielen zu können, ohne in die Noten zu schauen. Auf dem eigenen Können und der eigenen musikalischen Erfahrung aufbauend darf man es getrost wagen, das Terrain der aufgeschriebenen Noten zu verlassen und auf das innere Ohr zu vertrauen. Ja, vielleicht braucht es für den ein oder anderen etwas Überwindung, aber es geht – und mit ein bisschen Übung sogar immer besser.
Also, nichts wie ran ans Improvisieren!
Wie wäre es mit einer kleinen Improvisation über die sehr einfache Volksliedmelodie „Kein schöner Land„? Ich möchte jeden Musiker inspirieren und einladen, beim Improvisieren mitzumachen. Springt über euren Schatten, spielt mal nach Gehör! Die Übung auf der gegenüberliegenden Seite ist für jeden etwas fortgeschrittenen Musiker gedacht und kann auf jedem Niveau und letztlich auch in jeder Stilistik fortgeführt werden. Die kleinen Melodieanfänge sind nur Vorschläge und können sinngemäß fortgeführt werden. Ganz eigene Versionen sind natürlich noch besser.
1.
Beginnt mit der Melodie: Wie wäre es, loszulegen, und zwar ohne sofort in die Noten von System 1 zu schauen und ohne großes Nachdenken! Falls sich ein falscher Ton einschleicht, ändert ihn nach kurzem Suchen einfach ab. Habt Geduld mit euch und macht das so lange, bis er stimmt. Verlasst euch auf euer Ohr und spielt die Melodie auswendig. Die wichtigste und erste Grundlage zur Improvisation ist damit gelegt: das Thema.
2.
Merkt euch die Tonart (hier B-Dur) und wie viele Takte das Thema hat (hier 10) und spielt es öfters. Übrigens: Falls ihr euch beim Auswendigspielen einer ganz neuen Melodie fragt, welche Tonart gerade gespielt wird – die meisten Melodien enden auf dem Grundton!
Geht es auch in einer anderen Tonart? Versucht es. Denn auch ein wenig transponieren zu können schadet nie. Damit ihr „Kein schöner Land“ mit mehreren Instrumentalisten spielen könnt, muss diese Version von Trompetern und B-Klarinettisten nach C-Dur und von Es-Alt-Saxofonisten nach G-Dur transponiert werden.
3.
Für die in diesem Thema versierteren Musiker kommt sofort der nächste Schritt: Spielt die Melodie zu zweit. Hört ihr im inneren Ohr die zweite Stimme? Wenn sie nicht sofort klar ist, nehmt euch ruhig die Zeit, sie innerlich zuerst still zu singen. Wenn ihr keine Idee habt, nehmt meinen Vorschlag aus System 3 (siehe Notenbeispiel) und führt diesen fort. Terzen eignen sich natürlich gut – Sexten sind besser, Gegenbewegungen die Königsklasse. Ist die 2. Stimme nun klar, spielt sie einfach dazu. Vielleicht trefft ihr euch jetzt schon mit mehreren vor oder nach der Musikprobe. Der Schlagzeuger und der Bassist können bestimmt einsteigen und schon ist sie da, eure erste Jamsession.
4.
Nach kurzer Zeit fangt ihr an, das Thema mit dem Material der Tonart ein bisschen zu verändern. Vielleicht erst mal nur rhythmisch – auch das ist Improvisation. Dann kommen ein paar Töne extra zwischen den langen Noten dazu. Vielleicht lassen sie sich ja schön verbinden, und immer mehr Variationen werden entstehen. Lasst euch ein wenig von den Versionen in den Systemen 4 bis 6 inspirieren und führt sie fort.
Übrigens: Die Systeme bauen aufeinander auf und werden zunehmend komplexer. Die Version aus System 4 bleibt bewusst im gleichen Rhythmus wie die Originalmelodie. Einfacher wird es für euch zu Beginn der Übung, wenn ihr am Anfang eines neuen Taktes den Grundton des Akkordes – er steht darüber – oder Akkordtöne wie die Terz oder die jeweilige Quinte verwendet.
Je öfter ihr die Übung macht, desto schneller werdet ihr euch davon lösen und vielleicht ganz andere Töne aus den Akkorden mögen. Ihr werdet feststellen, dass die Grundtöne nach ein wenig Übung bald langweilig werden.
5.
In den Systemen 5 und 6 kommen jetzt auch schon einige tonartfremde Töne zum Tragen, die aber ganz gewiss nicht schief klingen. Denn innerhalb der Blues-Pentatonik oder als chromatische Noten schaffen sie melodische und harmonische Verbindungen.
Ihr werdet sehen: Der Fortschritt auf dem Instrument ist schnell und nachhaltig spürbar, wenn ihr euch einmal überwunden habt. Und denkt immer daran: Es gibt nur eines, das euer Spiel jetzt noch bestimmt: euer eigener Geschmack.
Viel Spaß mit der Übung und viel Erfolg beim Jammen!


Adi Becker
ist seit über 20 Jahren Posaunist bei der Big Band der Bundeswehr und darüber hinaus als Solist, Dirigent, Arrangeur und Komponist für viele der bekanntesten Künstler und Orchester der nationalen und internationalen Szene tätig. Er ist Dozent für Jazzposaune an der Hochschule für Musik Saar in Saarbrücken. Hier betreut er im Hauptfach die Studierenden im Studiengang Bachelor of Music und Master of Music.