Im vergangenen Jahr wurde Lajos Dudas 80 Jahre alt – ein guter Zeitpunkt, um Bilanz zu ziehen. Seinen Nachlass hat der Meisterklarinettist bereits dem Stadtarchiv der Stadt Neuss vermacht. Dort am linken Rheinufer war er heimisch geworden, als er vor einem halben Jahrhundert von Ungarn nach Deutschland kam.
Das HiFi- und Musikmagazin “Fidelity” schrieb 2013: “Lajos Dudas spielt mit unseren Herzen. Der Ungar ist ein Hexenmeister der weichen Nuancen, der blühenden Läufe, der modern aufflackernden Phrasen, der endlos aus sich selbst sprudelnden Fantasie. Sein riskantes Spiel zwischen Tradition und Avantgarde swingt bedingunglos – und scheint zugleich die Dynamik und Ausdruckswelt des Jazz ständig um neue Zwischentöne zu bereichern. Dudas’ Meisterschaft besteht in dieser kontrollierten, feingestrickten Virtuosität, die nie auftrumpft. Leise, mutig, mitreißend.”
In Budapest hatte er die Klarinette einst ganz klassisch studiert – am Konservatorium und an der Musikhochschule. “Während meiner Studienzeit, zumindest am Anfang, habe ich mich nur mit klassischer Klarinette beschäftigt”, erzählt Dudas. “Mit 15 oder 16 Jahren bekam ich dann ein Altsaxofon von meinen Eltern. Zwei, drei Wochen später stand ich schon mit meinem ‘Toneking’ auf der Bühne und habe gejazzt. Ich habe mir im Jazz irgendwie alles selbst beigebracht, das schien gar nicht so schwer. In den 1950er Jahren wurde überall Jazz gespielt, obwohl Jazzunterricht noch gänzlich unbekannt war. Unser Pianist hämmerte im Probenraum stundenlang Akkorde, bis wir die Changes drauf hatten. Nach meinem Studium habe ich dann fast alle Arten von Musik gespielt, in Kaffeehäusern, Bars und Varietés, in Dixiebands, sogar im Zirkusorchester. Besonders lehrreich waren die Jahre in den US-Clubs. Die Wünsche dort reichten vom ‘Klarinettenmuckl’ bis zu Jimi Hendrix. Mal mit Klarinette, mal mit Saxofon.”
Du musst präzise sein
In den 1970er Jahren, schon in Deutschland, beschloss Dudas, sich wieder ganz auf sein studiertes Instrument zu konzentrieren. “Es gab damals einfach viele gute Saxofonisten”, erklärt er, “aber nur wenige moderne Jazzmusiker mit der Klarinette als Hauptinstrument. Der Grund: Die Klarinette ist schwer zu spielen. Auf ihr musst du präzise sein. Nicht alle Jazzer haben Lust dazu – ich schon.” Die Frage war nur: In welche Richtung sollte es gehen mit der Klarinette? Wichtig war ihm, nicht den bekannten Vorbildern wie Benny Goodman zu folgen. Dudas erarbeitete sich spezielle Übungen, experimentierte viel, suchte sich Anregungen in anderen Genres und bei anderen Instrumenten. “Ich vermied es, Klarinettisten zu hören. Bloß nicht irgendetwas ungewollt kopieren!” Lieber hörte er Jazzsolisten wie Bennie Wallace (Tenorsaxofon), Bill Evans (Piano), Attila Zoller (Gitarre), Art Pepper (Altsaxofon), Kenny Wheeler (Trompete), Charles Lloyd (Tenorsaxofon)…
Lajos Dudas fand in der Tat seinen eigenen Weg zwischen nuancenreichem Modern Jazz und frecher Avantgarde-Komposition. Er selbst umschreibt sein stilistisches Spektrum so: “Pseudo-Klassik, Jazzig-Kammermusikalisches, Bluesig-Rockiges, freie Improvisation, schroffe Atonalität, abgefahrener Bebop, auch mal Standards mit ‘richtigen’ Akkorden…” Drei Fixpunkte in seinem langen Schaffen waren die großen “B” – Bach, Bartók, Blues. “Bach ist eine wichtige Inspirationsquelle für mich”, sagt Dudas. “Und Bartók ist ein Gigant. Allerdings bin ich da lieber vorsichtig. Jeder Osteuropäer, der ein Instrument halten kann, behauptet mittlerweile, er sei von Bartók geprägt. Manchmal lasse ich mich beim Komponieren sogar von Folklore beeinflussen – so wie übrigens Bartók auch. Oder ich bin auf einem abstrakten, atonalen, freien Pfad – dann sind meine geistigen Väter eher Webern oder Schönberg. Bin also ein Suchender, so wie andere Komponisten.”
Bilanz ziehen
Auf besonderen Album-Compilations versammelt Lajos Dudas seit Jahren seltene Preziosen aus verschiedenen Phasen seiner langen Karriere. Schon 1997 erschien die CD “Music For Clarinet” mit sehr diversen Aufnahmen “zwischen” Konzertmusik und Jazz. Darauf zu hören: Dudas’ “Concertino für Klarinette” (mit Orchester), aber auch Solo- und Duostücke sowie zwei Titel im Klarinettenquartett. Das Album “Artistry In Duo” (2006) präsentierte dann Duo-Aufnahmen mit verschiedenen Partnern aus drei Jahrzehnten. Die “Jubilee Edition” (2001) schlug den Bogen sogar zurück bis zum Saxofonspieler Dudas in den 1960er Jahren. Auf dem Album “Radio Days” (2016) waren Rundfunkaufnahmen aus den Jahren 1985 bis 2006 zu hören. Danach kam die CD “Return To The Future” mit sehr verschiedenen Aufnahmen aus den Jahren 1979 bis 2013. Zwei Jahre später folgte die Compilation “The Lake And The Music”, dann wiederum (2021) eine Zusammenstellung von jazz-konzertanten Stücken (“On The Third Stream Path”).
“Es gibt häufig gute Tracks, die es nicht auf eine Platte schaffen”, erklärt Dudas seine Compilations. “Auch einige Clubs machen gute Live-Mitschnitte. Die Aufnahmen landen dann in der Schublade – und du hörst sie vielleicht erst Jahre später an und staunst: Das sind tolle, zeitlose Sachen! Also raus aus der Versenkung! Ich höre dann oft wochenlang die Aufnahmen an, wiege ab, was passt, und selektiere.”
Seine neueste Compilation heißt “Radio Days Vol. 2”. Das Besondere daran: Er hat sie nicht auf CD oder Vinyl gepackt, sondern exklusiv auf einen USB-Stick (ca. 160 Minuten). “Während der Pandemie habe ich meine Schubladen noch einmal durchgecheckt”, sagt Dudas. “Ich fand Dutzende Musikkassetten und CDs mit Radiosendungen über mich und mit mir. Aber wie sollte ich das hören? Ich habe schon längst keinen Kassettenspieler mehr. Ich musste mir erst einen kaufen. Es war eine Riesenmenge an Musik. Es ging ans Sortieren, Suchen, Schneiden, Bearbeiten. Das war Arbeit für Wochen und Monate.”
833 Franc pro Takt
Am Ende sind es 25 Stücke geworden, die einen Karriere-Zeitraum von über 40 Jahren abdecken. Die älteste Aufnahme (“Fragments”) stammt noch aus den Siebzigern – der WDR-Mitschnitt einer Musikschul-Bigband, die von Dudas mit Jazzprofis aufgemotzt wurde. Ebenfalls aus den Siebzigern kommen “Adagio” und “Fuga” – es sind jazzige Bach-Bearbeitungen für Klarinette, Bass und Schlagzeug, “eine klangliche und rhythmische Umformung Bachscher Violinsonaten”, wie Dudas einmal erklärte. “Ich kann viele Bach-Kompositionen mit wenigen Griffen zu einem Jazzstück machen”, sagt der Klarinettist heute. “Man muss allerdings die oft pausenlose Melodieführung auflockern, die gnadenlose Linie abspecken und das alles mit Jazzfeeling würzen.” Die Platte “Reflection Of Bach” war 1977 übrigens seine Debüt-LP gewesen.
Seinen ganz eigenen Weg als Jazz-Modernist fand Dudas wenige Jahre später. Das Album “Detour” (1980) wurde Jazzplatte der Woche im SWF. Das Stück “Urban Blues” vom Album “Monte Carlo” (1983) gewann damals sogar einen internationalen Kompositionspreis. “Dieser schräge, atonale Blues hat mir 10 000 französische Franc Preisgeld beschert”, verrät Dudas. “Das waren die bestbezahlten zwölf Takte meines Lebens!” In den 1990er Jahren lernte Dudas den Gitarristen Philipp van Endert kennen, der zu einem dauerhaften und verlässlichen musikalischen Partner wurde. Auf nicht weniger als neun Stücken von “Radio Days Vol. 2” ist er zu hören. “Philipp ist nicht nur ein großartiger Ideengeber für meine musikalischen Eskapaden”, sagt Dudas, “er ist auch ein guter Freund geworden. In jüngster Zeit bevorzuge ich das Duospiel mit ihm.” In den Radiomitschnitten aus Augsburg, Meersburg, Budapest usw. spielen Dudas und van Endert nicht nur im Duo zusammen, sondern auch im Trio, Quartett oder Quintett.
Eine grandiose Retrospektive
Die Compilation “Radio Days Vol. 2” gibt eine grandiose Retrospektive auf das Werk eines besonderen Klarinettisten. Sie ist aber auch ein Dankeschön an die Radio-Redakteure beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk, die Dudas’ Karriere mit ermöglicht haben – darunter Joachim Ernst Berendt, Dietrich Schulz-Köhn, Manfred Niehaus, Werner Wunderlich, Herbert Uhlir, Reinhard Kager und Roland Spiegel.