Er begann früh – als hätte er geahnt, dass ihm nicht viel Zeit bleibt. Schon mit 19 Jahren war Lee Morgan der wichtigste Trompeter des Hardbop. Als der Jazz später andere Töne anschlug, wollte auch Lee Morgan Neuland betreten, doch sein Leben endete abrupt. Vor 50 Jahren starb einer der „Great Giants of Jazz of All Time“ (Joe Lovano).
Er galt als „Wunderkind“, als Naturbegabung. Mit 13 Jahren bekam er seine erste Trompete, und schon kurze Zeit später gehörte er zu den gefeierten Lokalgrößen der Jazzszene von Philadelphia. „Seine Eltern brachten ihn zu den Jamsessions in seiner Heimatstadt, verschafften ihm durch familiäre Unterstützung einen echten Vorsprung“, so formulierte es der Pianist Cedar Walton. „Für einen 15-Jährigen klang er unglaublich gut“, erinnerte sich der Komponist Cal Massey, der ebenfalls in Philadelphia aufwuchs.
Als Lee Morgan 18 wurde, nahm seine Karriere bereits große Fahrt auf. Dizzy Gillespie, der Star-Trompeter, holte ihn 1956 in seine Bigband. „Man kriegt ein wenig Angst, wenn man sieht, wie schnell sich solche Kids wie er entwickeln“, sagte Gillespie. 1956 entstanden auch schon Morgans erste Combo-Aufnahmen unter eigenem Namen. Es war dasselbe Jahr, in dem Clifford Brown, von dem er einiges gelernt hatte, tödlich verunglückte – mit nur 25 Jahren. Lee Morgan war bereit, Browns Rolle als Hoffnungsträger des Hardbop zu übernehmen.
Der junge Himmelsstürmer
In den folgenden fünf Jahren machte Lee Morgan fast im Monatsrhythmus große Jazzaufnahmen. Als Bandleader hörte man den „Rising Star“ meistens im Quintett oder Sextett. Saxofonisten wie Hank Mobley, Pepper Adams, Clifford Jordan oder Benny Golson waren seine bevorzugten Bläserpartner. Auch ein Quartettalbum ohne einen zweiten Bläser entstand: „Candy“, ein Balladen-Programm, eine bemerkenswerte Wahl für einen 19-Jährigen. Das Label Blue Note förderte Morgans Karriere, indem es den jungen Trompeter auch großzügig als Sideman platzierte – auf Alben von Tina Brooks, Johnny Griffin, Clifford Jordan, Hank Mobley, Jimmy Smith und anderen. Auf John Coltranes vielgelobtem Hardbop-Klassiker „Blue Train“ spielte Morgan die Rolle des „Himmelsstürmers“, so ein Coltrane-Biograf. Sein außergewöhnliches Talent und sein früher Erfolg verliehen Morgan viel Selbstbewusstsein, auch einen Anflug von Arroganz. Aber er vergaß nicht, sich bei seinen Förderern zu bedanken. Den beiden Blue-Note-Produzenten Alfred Lion und Francis Wolff widmete er 1960 das Stück „The Lion And The Wolff“.
„Miles Davis ist ein schönes Beispiel für Einfachheit – aber ich will etwas anderes“
In diesen frühen Jahren (1956 bis 1961) entwickelte Lee Morgan seinen ganz persönlichen Stil. Anders als Dizzy Gillespie oder Freddie Hubbard war er ursprünglich kein „explosiver“ Bläser, sondern einer, der die Töne in langen Ketten flüssig aneinanderreihte. Er sah sich in der Tradition der Bop-Trompeter Fats Navarro und Clifford Brown, also näher an der „gleichmäßigen“ Phrasierung des Saxofonisten Charlie Parker als an der abrupten, sprunghaften Spielweise Dizzy Gillespies.
Im Lauf der Zeit setzte Morgan aber immer bewusster expressive Höhepunkte, bluesige Ausbrüche, bedeutungsvolle Pausen – er entwickelte sich zum prägenden Hardbop-Trompeter. „Ich habe immer eine Menge Töne gespielt“, sagte er einmal. „Miles Davis ist ein schönes Beispiel für Einfachheit – aber ich will etwas anderes. Ich will den ganzen Tonumfang meines Instruments ausspielen und einen großen, schönen Sound haben.“ Sein Trompeterkollege Eddie Henderson würdigte ihn einmal mit den Worten: „Lee Morgan hatte in seinem Spiel Feuer, Zärtlichkeit, Schönheit und Humor. Ich liebe es, wie er ein Solo bauen konnte und die Melodie zum Leben erweckte.“
Von „Moanin’“ bis „The Sidewinder“
Seinen wichtigsten Sideman-Job erhielt Lee Morgan 1958 bei Art Blakeys Jazz Messengers. Blakey beauftragte damals den Saxofonisten Benny Golson, die Band wieder auf Vordermann zu bringen – sie war vor allem durch zu viel Drogenkonsum heruntergewirtschaftet. Golson schlug daraufhin vor, sämtliche Mitmusiker auszuwechseln. Er selbst übernahm den Saxofonjob und vertraute ansonsten auf seine „Philly-Connection“: Wie er selbst kamen die neuen Akteure ausnahmslos aus Philadelphia, allen voran der damals 20-jährige Lee Morgan. „Moanin’“, das erste Album dieser neuen Messengers, wurde ein durchschlagender Erfolg. Der brillante Lee Morgan war der Star dieser Band – bis 1961 machte er rund ein Dutzend Alben mit den Jazz Messengers. Morgans Stücke „Pisces“ und „The Witch Doctor“ wurden auch zu Albumtiteln der Band. „Ich habe mit vielen großen Trompetern gespielt“, sagte Art Blakey einmal, „aber Lee Morgan war mir der liebste.“

Letztlich brach der Erfolg von „The Sidewinder“ Blue Note das Genick.
Leider blieben Blakeys neue Musiker nicht lange „clean“. Der Bandleader, der ziemlich offen Drogen konsumierte, hatte einen schlechten Einfluss auf die Youngsters. 1961 musste Lee Morgan eine „Auszeit“ antreten und seine Karriere zwei Jahre lang auf Eis legen. Es ging sogar das Gerücht um, er sei gestorben. Als er auf die Szene zurückkam, geschah es aber mit einem Paukenschlag. „The Sidewinder“, sein erstes Solo-Album für Blue Note nach vier Jahren Pause, stellte 1964 die Jazzwelt auf den Kopf.

Das Titelstück schlug hohe Wellen und wurde sogar in den Billboard-Popcharts notiert. Es ist ein 24-taktiger Blues mit interessanten Breaks, rhythmisch eine Mixtur aus Soul-Jazz und Boogaloo. Eigentlich war das Stück nur als Albumfüller geplant, aber die Leute bei Blue Note spürten sein Potenzial als Tanz- und Clubnummer und machten es zum Opener. „The Sidewinder“ wurde der bis dahin größte Verkaufserfolg für Blue Note, man kam mit dem Nachpressen kaum hinterher. Danach erwartete der Markt von dem Independent-Label ständig neue Soul-Jazz-Hits. Hohe Bestellzahlen und hohe Retouren überforderten bald die logistischen und finanziellen Möglichkeiten. Letztlich brach der Erfolg von „The Sidewinder“ Blue Note das Genick.
Offen für Neues
Auch für Lee Morgan war der Riesenerfolg eine Belastung. Er spürte den Druck, Folge-„Hits“ liefern zu müssen. Versuche in dieser Richtung waren die Stücke „The Rumproller“ (von Andrew Hill), „Yes I Can, No You Can’t“ oder „Cornbread“ – alle schon 1965. Doch die Rolle des Soul-Jazz-Stars hat Morgan nie richtig angenommen – sie schränkte ihn zu sehr ein. Im Jazz der 1960er Jahre passierte ja eine Menge – und Lee Morgan, noch keine 30 und als Trompeter besser denn je, war offen und empfänglich für viele neue Impulse.
„Search For The New Land“, das Titelstück seines ersten Albums nach „The Sidewinder“, enthielt zum Beispiel ausgedehnte Out-of-tempo-Passagen und sorgte damit bei den Soul-Jazz-Fans für einige Verstörung. „Ich gehöre zu denen, die gerne swingen“, räumte Morgan später ein, »aber ich habe auch mit freien Formen experimentiert, etwa auf Grachan Moncurs Album ‚Evolution‘ und Andrew Hills ‚Grass Roots‘ – da wird auch mal ohne Rhythmus gespielt, gegen den Rhythmus, ihn missachtend, dieses ganze Freiheits-Ding. Auch mit Larry Young, dem Avantgarde-Organisten, habe ich ein Album gemacht.“
„Der schwarze Mann ist zu verängstigt, um irgendetwas zu sagen“
In den späten 1960er Jahren öffnete sich Lee Morgan nicht nur den „freien“ Strömungen im Jazz, er ergriff auch das Wort im damaligen politischen Kampf – sein großes Selbstbewusstsein kam ihm da zugute. Der Journalist Ed Williams nannte ihn 1968 einen „großen Denker und Vermittler seiner Gedanken“: „Er weiß eine Menge zu sagen über das Musikbusiness, die Unterhaltungs- und Kommunikationsmedien, über Politik, Politiker und die Schwarzen.“
Der Trompeter engagierte sich besonders im „Jazz and People’s Movement“, einer Bewegung, die mehr Jazz und „Black Music“ in den Medien forderte und dafür auch kleine Skandale provozierte. „Der schwarze Mann ist zu verängstigt, um irgendetwas zu sagen“, meinte Morgan einmal. Das Doppelalbum „Live At The Lighthouse“ von 1970, heute auch als 8-CD-Set erhältlich, war seine letzte große Veröffentlichung. Im Februar 1972 wurde Lee Morgan in einem New Yorker Jazzclub von seiner Lebenspartnerin im Streit angeschossen. Weil gerade ein Schneesturm wütete, kamen die Sanitäter zu spät zum Tatort. Lee Morgan wurde nur 33 Jahre alt.
Albumtipps
- Candy (1957/58)
- The Sidewinder (1963)
- Search For The New Land (1964)
- The Gigolo (1965)
- Live At The Lighthouse (1970)
Als Sideman
- John Coltrane: Blue Train (1957)
- Art Blakey & The Jazz Messengers: Moanin’ (1958)
- Grachan Moncur III: Evolution (1963)
- Joe Henderson: Mode For Joe (1966)
- Andrew Hill: Grass Roots (1968)