Orchestra | Von Hans-Jürgen Schaal

Musik – letztes Asyl der Bildungsidee?

Bildung
Foto: Gerhard / Piuxabay

Wenn marktwirtschaftliche Interessen bestimmen, was Bildung heißt, wird der spielerische Freiraum der Musik wichtiger denn je. „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“ (Friedrich Schiller).

Die Bildungsdiskussion kommt nicht zur Ruhe. Im Oktober 2022 meldete die OECD freudig, dass „das internationale Bildungsniveau“ steige – so jedenfalls formulierte es die ARD-Tagesschau. Genauer gesagt ging es um die wachsende Zahl „hoher Bildungsabschlüsse“ – gemeint waren Fachqualifikationen, die die Einkommens- und Arbeitsmarktchancen der Absolventen erhöhen sollen. Wohlgemerkt: Die OECD ist eine internationale Wirtschaftsorganisation. Ihr Bildungsinteresse beschränkt sich darauf, Ausbildungen an die Erfordernisse der kapitalistischen Wirtschaft anzupassen. Bildung im Sinne der OECD bedeutet: Kompetenzerwerb und Schulung, Leistungsschau und Abrichtung, Erzeugung von Humankapital und Abschöpfung von Talenten. Die Bedürfnisse der internationalen Ökonomie wirken längst tief hinein in die Organisation unserer Ausbildungseinrichtungen. Selbst in den einfachen Schulen geht es im PISA-Zeitalter um Rankings, Qualitätssicherung, Effizienzorientierung und Konkurrenztests. Ganz wie im Wirtschaftsleben. 

Haben Qualifikationen und Kompetenzen überhaupt etwas mit „Bildung“ zu tun? Zugegeben: „Bildung“ ist ein altmodisches Wort. Eine Übersetzung in andere Sprachen fällt schwer. Was einmal gemeint war mit „Bildung“ – bei Kant, bei Humboldt, in Anknüpfung an Aristoteles –, war die Herausbildung des mündigen Menschen. Der Philosoph Peter Bieri hat das schön formuliert (2005): „Bildung ist etwas, das Menschen mit sich und für sich machen: Man bildet sich. Ausbilden können uns andere, bilden kann sich jeder nur selbst. […] Eine Ausbildung durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können. Wenn wir uns dagegen bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden […].“ Und was ist es, was wir werden wollen? Nun, zum Beispiel: freie, kenntnisreiche, glückliche Menschen, selbstständig denkende und handelnde Wesen, starke, individuelle Persönlichkeiten, fähig zu Selbsterkenntnis, Weisheit, Empfindungs- und Erlebnistiefe. Unsere sogenannten „Bildungseinrichtungen“ im Sinne der OECD erschaffen dagegen allenfalls „teamfähige Klons“. So formuliert es der Philosoph Konrad Paul Liessmann. 

Die Faszination der Sache

Die sogenannte Bildungsdiskussion ist eigentlich eine Diskussion über den Erwerb von beruflich nützlichen Kompetenzen und Qualifikationen. Unsere Schulen, Berufsfachschulen, Hochschulen vermitteln Fertigkeiten, Methoden und Techniken für spätere Praxis – als würde sich Praxis nicht schneller verändern als jeder Lehrplan. Schulen vermitteln Verfahrensweisen und Präsentationsformen, sie beschäftigen sich immer weniger mit Inhalten. Wir erwerben nicht Wissen, sondern allenfalls Methoden, wie man sich beliebige Informationen besorgt – so, als wäre Wissen eine Ware, die man einfach im Internet bestellt. Wir kennen vieles, aber wir erkennen und verstehen nur noch weniges. 

Diese Entwicklung – weg vom gewussten Inhalt, hin zur Wissens-Kompetenz und digitalen Fitness – wirkt bis in den Lese- oder Deutschunterricht der Schulen hinein, also dorthin, wo es um das Wesentliche geht, unsere Menschensprache, den Ausdruck unseres bewussten Seins. Schülerinnen und Schüler werden im Fach Deutsch immer weniger dazu angehalten, sich Texte anzueignen, sich mit Inhalten auseinanderzusetzen. Stattdessen lernen sie, wie man prinzipiell mit Texten zu verfahren habe. Sie erwerben eine methodische Kompetenz für den Textumgang. Die soll ihnen im späteren Leben nützlich sein.

Bildung dagegen – da sind sich die Philosophen einig, von Aristoteles bis Horkheimer – entwickelt sich gerade in der Auseinandersetzung mit Inhalten. Da geht es immer um Neugierde, um Hingabe, um Anstrengung und Geduld. Wenn wir in ein (geistiges, ästhetisches, naturwissenschaftliches, philosophisches usw.) Thema wirklich eintauchen, tragen uns die Faszination der Sache selbst und der Wille, sie zu verstehen. Die Welt erkennen und sie sich aneignen – so beschrieb Wilhelm von Humboldt den eigentlichen Bildungsprozess, der eine Wechselbeziehung darstellt: Indem wir eine Sache begreifen lernen, formt sich unsere Persönlichkeit, hinterlassen Anstrengung und Erkenntnis ihre Spuren in uns. Dass geistige Gegenstände komplex sein können, rätselhaft, herausfordernd, dass sie uns auf Abwege und in Sackgassen führen, ist Teil der Faszination und Teil des „bildenden“ Prozesses. Insofern gibt es kein unnützes Wissen. Geistiger Inhalt, so meinte Hegel, habe „Wert und Interesse in und für sich selbst“ – so abwegig, unproduktiv oder unbrauchbar er auch scheinen mag. Der Philosoph Liessmann schreibt: „Wer sich immer nur an Brauchbarkeit und Verwertbarkeit orientiert, wird letztlich beschränkt bleiben.“

Musikaneignung als Bildungsprozess

Im trostlosen Feld „zweckrational“ orientierter Kompetenzerwerbs-Diskussionen ist die Musik vielleicht das letzte, das eigentliche Asyl der Bildungsidee. OECD-relevante Karriere-Qualifikationen haben auf dem Gebiet der Musik wenig Sinn. Natürlich hätten wir nichts dagegen, mit Musik erfolgreich zu sein und reich zu werden. Aber letztlich ist es das Interesse an der Musik selbst, das uns leitet. Ein Musikstück verstehen, eine Interpretation erarbeiten, das tägliche Üben, das gemeinsame Proben, die konzertante Umsetzung – das ist die konkrete Auseinandersetzung mit einer Sache, die Aneignung geistiger Ideen, das Glück der Anstrengung. Und musikalisches Verstehen beschränkt sich nicht aufs Musizieren. Es steckt auch in der Rezeption, im Hören, im Sich-Erarbeiten und im Verarbeiten von Musikerlebnissen. Musikalisches Verstehen hat eine semantische Ebene, eine biografisch-historische Dimension, eine emotionale Konsequenz. Ethische, gesellschaftliche, sprachliche, mathematische, architektonische Momente spielen mit herein. Musikalisches Begreifen-Wollen ist der In­begriff dessen, was einen Bildungsprozess ausmacht.

Nicht ohne Grund bedeutet uns Musik in der Pubertät so viel. An Musik schulen wir in diesem Alter unsere ästhetische Erfahrung und unsere Empfindungsfähigkeit. Wir üben unsere Urteilskraft, unsere Selbstwahrnehmung, unser Verständnis für Komplexität, unsere verbale Artikulation, unsere Sensibilität in vielen Bereichen. Wir lassen es zu, dass Musik unsere Fantasie und Kreativität entzündet. In der Auseinandersetzung mit Musik schaffen wir als Pubertierende die Grundlagen einer eigenen Persönlichkeit. Wissenschaftliche Studien haben vielfach behauptet, dass die Begegnung mit Musik in jungen Jahren auch gesamtgesellschaftlich „nützlich“ sei, dass sie die soziale Kooperation fördere und die Intelligenz des Einzelnen („Mozart-Effekt„), dass sie positive „Transfereffekte“ für andere, angeblich wichtigere Bereiche (Schul­fächer) habe und damit eine erfolgreiche Business-Karriere erleichtere. Das mag so sein oder auch nicht. Der wahre Mozart-Effekt ist ein anderer: der der Persönlichkeitsbildung. Musik hilft, so schreibt der Musikpädagoge Peter W. Schatt, dass wir unser Leben „genussreicher, erkenntnisreicher, aufgeschlossener, vielfältiger, den Möglichkeiten der Welt angemessener, menschenwürdiger gestalten“ können. 

Endziel des Handelns

Wir sollten nicht nach irgendeiner ökonomischen „Nützlichkeit“ der Musik fahnden, sondern den Eigenwert der musikalischen Erfahrung schätzen. Die Beschäftigung mit Musik belohnt sich selbst. Als Freiraum des Nicht-Verwertbaren, als „unnützes Spiel“, bietet uns Musik das pure Glück – sie ist eine reine „Quelle des Wohlbefindens“ (Aristoteles). Wie alle echte Bildung braucht die Aneignung von Musik eine entschleunigte Schutzzone, braucht sie Raum und Muße – das, was das Wort „Schule“ einmal bedeutete: Zeit haben für das wirklich Wichtige im Leben. (Nicht: Erwerb von Berufsqualifikationen.) Glückliche, mündige Mitmenschen heranzubilden, das sollte der oberste Nutzen und Zweck der Gesellschaft sein: Ein Nutzen, „der über den rein ökonomischen Nutzen hinausgeht“, wie der Musikpädagoge Øivind Varkøy schreibt. Der Kulturhistoriker Johan Huizinga hat das einmal so formuliert: „Das Genießen von Musik nähert sich einem Endziel des Handelns, weil es nicht eines zukünftigen Gutes wegen, sondern um seiner selbst willen gesucht wird.“ Gerade weil Musik unnütz sei, sei sie wichtig und notwendig, meint Varkøy. Ihr gesellschaftlicher Nutzen liege eben darin, dass sich ihr „Unnützes“ als Kritik am herrschenden Nutzdenken entpuppe.