Orchestra | Von Hans-Jürgen Schaal

Musik und Gehirn. Das große Glücksprogramm

Gehirn
Foto: Tumisu – Pixabay

Wie verlässlich unsere Herzklappen schließen und wie gut unsere Leber funktioniert, das können wir nur beschränkt beeinflussen. Aber welche Schaltungen in unserem Gehirn vorgenommen werden, dafür sind wir selbst verantwortlich. Musik formt die Nervenbahnen im Gehirn.

Nichts geht ohne das Gehirn. Unsere Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen, In­stinkte, Bewegungen, Reflexe, Körperfunktionen – alles wird von da oben gesteuert. Das Gehirn ist weit mehr als ein Organ, es ist eine komplexe und flexible Schaltzentrale, in der sich viele verschiedene Funktionsstrukturen dynamisch überlappen. 

Das Tollste am Gehirn ist seine Plastizität: Seine Schaltungen, Nervenbahnen und Netzwerke können sich ständig neu strukturieren. Lernen wir etwa eine besondere sensomotorische Fertigkeit (zum Beispiel Tischtennis spielen), verdichten sich die im Gehirn dafür zuständigen Synapsen. Fällt ein Gehirnareal aus (zum Beispiel durch eine Verletzung), können andere Areale seine Funktionen übernehmen. Und ist eine bestimmte Funktion etabliert und eingeübt, wird die Schaltungsdichte in der zuständigen Hirn­region sogar „rationalisiert“ und damit Platz eingespart.

Wer intensiv musiziert, dessen Gehirn verstärkt die fürs Musizieren nötigen Nervenbahnen

Auf nichts antwortet diese „Neuroplastizität“ stärker als auf Musik. Die Neurologie vermag die Gehirne von Berufsmusikerinnen und -musikern durchaus an ihrer Anatomie zu erkennen. Denn wer intensiv musiziert, dessen Gehirn verstärkt die fürs Musizieren nötigen Nervenbahnen und -verschaltungen. Bei Musizierenden ist die Hörrinde an einer bestimmten Stelle stärker ausgeprägt – Melodien, Frequenzen, Klangfarben werden genauer wahrgenommen, die hirnelektrischen Reaktionen darauf sind deutlich verstärkt. Auch die Repräsentationen einzelner Körperteile im Gehirn – die zehn Finger bei Pianisten, die Greifhand bei Streichern, der Mundansatz bei Bläsern – nehmen mehr Raum ein. Außerdem ist bei Musikerinnen und Musikern der „Balken“ zwischen den Gehirnhälften stärker entwickelt, weil die Koordination zwischen rechter und linker Hand besonders gefordert ist. Es finden sich bei ihnen auch Vergrößerungen und Verdichtungen im Kleinhirn, das zur feinmotorischen Justierung beiträgt, und im Broca-Areal links, dem Sprachzentrum. Letzteres erklären Neurologen damit, dass Berufsmusikerinnen und -musiker analy­tischer hören und mehr Wissen mit dem Gehörten verbinden.

Durch ständige Wiederholung werden Verschaltungen verstärkt und verbessert.

Wer ein Instrument spielt, schafft neue Wege und „Bahnen“ in seinem Gehirn. Die neue Sy­napsen­bildung, die Verbindung zwischen Nervenzellen, erfolgt oft schon nach wenigen Tagen, Stunden, Minuten. Um diese Synapsen zu erhalten und zu stärken, muss man sie aber ständig „benutzen“. Deshalb ist es wichtig, dass man am Instrument regelmäßig (täglich) übt. Nervenverbindungen, die nicht gebraucht werden, bilden sich nämlich wieder zurück. „Use it or lose it“, sagen die Profis. Durch ständige Wiederholung werden Verschaltungen verstärkt und verbessert. Es entwickeln sich – wohl in den Basal­gang­lien – Steuerungsprogramme für die Sensomotorik, die schneller funktionieren als unser Denken. So hilft uns das Gehirn bei allem, was wir tun. Letztlich sind wir selbst für die Leistungsfähigkeit unseres Gehirns verantwortlich. 

Musik kommt überall an

Wir hören mit den Ohren. Das heißt: Schallwellen erreichen das Innenohr und werden dort in Nervenimpulse übersetzt. Diese Nervenimpulse „streuen“ in verschiedene Areale unseres Gehirns aus und werden dabei immer detaillierter verarbeitet. An der Cochlea (Hörschnecke) sind nur wenige tausend Nervenzellen aktiv. Im auditiven Cortex, dem Hörsektor in der Hirnrinde, warten dagegen 500 Millionen Nervenzellen. (Es gibt auch Impulse, die vom Hirn zum Ohr wandern, sozusagen eine Rückmeldung, um die Rezeption „scharf“ zu stellen.) 

Nicht nur den auditiven Cortex, das eigentliche Hörzentrum, erreichen die Impulse vom Innenohr – sie kommen gleichzeitig noch in diversen anderen Hirnregionen an, zum Beispiel zunächst im Hirnstamm. Er steuert wesentliche Körperfunktionen wie Atmung und Blutdruck. Damit hat Musik einen direkten Effekt auf Muskel­reflexe und Herzschlag und stimuliert ohne Umwege unser Bedürfnis nach Bewegung. Der Rhythmus fährt uns quasi direkt in die Glieder. Auditorische Nervenimpulse erreichen ebenso Hirnregionen im Zwischenhirn (zum Beispiel Thalamus, Hypothalamus) sowie den Nucleus accumbens, der beispielsweise für die Dopamin-Ausschüttung verantwortlich ist.

Dopamin ist ein Neurotransmitter, der immer dann eine Rolle spielt, wenn es um Spaß und Kitzel geht: beim Essen, beim Sex, bei Drogen (von Schokolade bis Kokain) – und eben bei Musik. Dopamin gibt unserem Gehirn Kraft, damit das Gedächtnis, das Lernen, die Gefühle funktionieren. So belohnt sich das Gehirn stets selbst. Ein anderes Hirnareal, das auf auditorische Muster reagiert, ist der Hippocampus. Dort werden Hormone wie Oxytocin und Vasopressin produziert, die für ­soziale Emotionen wichtig sind. Das heißt: Wir verbinden mit Musik stets auch die Gemeinschaft, die menschliche Bindung, die Gefühle füreinander – Glück des Zusammenseins. 

Der auditive Cortex

Eine Hirnregion gibt es, die ganz aufs Hören ­spezialisiert ist. Das ist der auditive Cortex, die „Hörrinde“ im Schläfenlappen des Großhirns. Der Schwerpunkt für Musik liegt dabei in der rechten Gehirnhälfte (Hemisphäre) – dort werden Töne in Millisekunden analysiert: Frequenz, Klangfarbe usw. Die Neuronen dort sind quasi nach Tonhöhe angeordnet und reagieren entsprechend. Dagegen findet die zeitliche Auf­lösung von schnellen musikalischen Abläufen mehr im linken Schläfenlappen statt, wo das Sprachzentrum sitzt. Tatsächlich bilden Musik und Sprache ein gemeinsames, untrennbares Netzwerk im Großhirn. Neurologen beschreiben die Sprach-Verarbeitung daher auch als einen Sonderfall der Töne-Verarbeitung. Musikalität ist die Basis der Sprache. 

Erkennen, Entschlüsseln und Wiedererkennen von Mustern sind archaische Überlebens-Strategien des Homo sapiens – sie führen zur Ausschüttung von Glückshormonen.

Weil Sprache und Musik neuronal so enge Verknüpfungen haben, erlernen wir sie leichter, wenn sie miteinander verbunden sind – im Lied, in der betexteten Melodie, im vertonten Text, im Reim. Pädagogen und Therapeuten wissen: Musik fördert die Sprachentwicklung und hilft bei der Behandlung von Sprachstörungen. Auch beim Erlernen einer Fremdsprache tun sich Musi­zie­rende leichter. Umgekehrt prägt unser Verständnis für Sprache (Grammatik, Wortschatz) unsere Verarbeitung von Musik. Das Gehirn sucht in den Tönen stets – wie in der Sprache – nach einem syntaktischen Bau, nach der Logik „grammati­kalischer“ Muster. Wir versuchen, die Nerven­impulse vom Innenohr in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Das Gehirn „konstruiert“ Bedeutung. Solches Erkennen, Entschlüsseln und Wiedererkennen von Mustern sind archaische Überlebens-Strategien des Homo sapiens – sie führen zur Ausschüttung von Glückshormonen. Wieder belohnt sich das Gehirn selbst.

Die Chemie der Emotionen

Bei der Verarbeitung von Musik wirken mehrere Netzwerke im Gehirn zusammen. Das ist ein hochkomplexes und nicht immer eindeutig loka­lisierbares System. So viel aber steht fest: Die Wahrnehmung auditiver Muster löst im Gehirn ein „biochemisches Feuerwerk“ (Stefan Kölsch) aus. Hormone und Botenstoffe werden ausgeschüttet: Opioide und Endorphine, Adrenalin, Noradrenalin, Oxytocin, Prolaktin, Immunglobulin A, Cortisol, Dopamin und mehr. Das Musikmachen und -hören bringt reichlich Leben in die Bude unterm Schädelknochen. Musik ist ein großes Trainings- und Glücksprogramm fürs Gehirn.

Auch wenn Musik immer mit viel Emotion verbunden ist, sollten wir uns darüber im Klaren sein: Die Emotion steckt nicht in der Musik, sondern in der Gehirnchemie. Und dafür ist entscheidend, wie wir die Musik „bewerten“. Wir können Harmoniefolgen entweder schön oder langweilig finden. Wir können Dissonanzen entweder scheußlich oder interessant finden. Zwei Menschen können dieselbe Musik unterschiedlich beurteilen, je nach ihrem biografischen oder kulturellen Hintergrund. Musik, die uns angenehm ist, setzt unweigerlich eine Menge „fröh­licher“ Botenstoffe im Gehirn frei. Aber auch unangenehme Musik erzeugt Emotionen – Ängste und Spannungen. (Hier kommt die Amygdala ins Spiel.) 

Weil in der Pubertät Emotionen einen besonderen Stellenwert haben, sind wir in diesem Alter auch enorm empfänglich für Musik. Die Musikstücke, die wir in unserer Jugend mochten, behalten häufig eine besondere Bedeutung für uns und unseren Gefühlshaushalt. Da spielen dann bei der Musikverarbeitung auch individuelle neuronale Netzwerke eine Rolle – Netzwerke aus Erinnerungen, Gerüchen, Bildern usw. Die Strukturen unseres Gehirns sind letztlich das Ergebnis unserer Biografie.