Orchestra, Schwerpunktthema | Von Stefan Fritzen

Musik und Kirche: Geistliche Kunst in einer zunehmend agnostischen Zeit

Seit der Reformation spielt die Musik im kirchlichen Gemeindeleben eine große und großartige Rolle. Für den wortgewaltigen deutschen Kirchenreformator Martin Luther war die Musik zum Lobe Gottes eine der ureigensten Sprachen eines Christen zur Verkündigung des Evangeliums, zum Lobpreis Gottes, für die Liturgie und die Ausgestaltung der großen kirchlichen Feste.

Luthers Choräle

Luthers gewaltige Choräle haben auch heute noch nichts von ihrer Kraft verloren und sind oft vertont worden. In diesem Kontext müssen aber auch die wunderbaren Gedichte und Liedtexte von Paul Gerhardt (1607 bis 1676) genannt werden, die im 20. Jahrhundert in den Texten Dietrich Bonhoeffers (1906 bis 1945) eine Entsprechung finden.

Es ist beeindruckend und ergreifend, dass beide Theologen ihre tröstenden Lieder in Zeiten schlimmster Bedrängnis schrieben: Paul Gerhardt inmitten des Dreißigjährigen Krieges und Dietrich Bonhoeffer in der furchtbaren Nazihaft im Angesicht seines zu erwartenden gewaltsamen Todes.

Paul Gerhardt

»Befiehl du deine Wege
und was dein Herze kränkt
der allertreusten Pflege
des, der den Himmel lenkt.
Der Wolken, Luft und Winden
gibt Wege, Lauf und Bahn,
der wird auch Wege finden,
da dein Fuß gehen kann.«

(1. Strophe)

Dietrich Bonhoeffer

»Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.«

(7. Strophe)

Beide Lieder sind unzählige Male in Musik gesetzt worden. Michael Praetorius (1571 bis 1621) war der erste, der die Verse von Paul Gerhardt vertonte; viele andere Komponisten folgten ihm. Der Bonhoeffer-Text wurde mehr als 70 Mal vertont. Der siebten Strophe des Bonhoeffers-Gedichts wurde bereits 1959 von Otto Abel eine Melodie beigefügt und danach in das Evangelische Gesangbuch aufgenommen. Die Melodie von Siegfried Fietz aus dem Jahr 1970 gilt als die beliebteste und wird heute allgemein gesungen und gespielt.

Einbeziehung der Gemeinde in die Liturgie durch Musik

Neu und entscheidend im Leben der evangelischen Kirche waren die Musik und die Einbeziehung der Gemeinde in die musikalische Gottesdienstgestaltung. Ein Blick in die Gesangbücher zeigt, welche Bedeutung der Gemeindegesang im kirchlichen Leben besitzt. Lieder zu allen Anlässen füllen das Gesangbuch, und die Komponisten der Texte gehörten oft zu den Besten ihrer Zeit.

Luther sagte, dass ein fröhliches Herz zum Gotteslob singen solle und er empfand Musik auch als Mut machende Gottesverkündigung. Nach der Reformation entwickelte sich in Deutschland folgerichtig auch die Kirchenmusik mit ihren Kirchenchören und Bläsergruppen.

Barockale Pracht: Die Orgel

Seit der Barockzeit wurde die Orgel zum wichtigsten Instrument in der Kirchenmusik. Die Möglichkeiten ihrer klanglichen Vielgestaltigkeit durch Registrierung und die Tatsache, dass man nur einen Spieler benötigte, machte sie unverzichtbar.

Orgeln von Gottfried Silbermann (1683 bis 1753) gehören noch heute zu den absoluten Sternstunden in der Kunst des Orgelbaus. Aber auch die großen romantischen Orgeln des 19. Jahrhunderts in Frankreich revolutionierten die Musik in der Kirche.

Aristide Cavaillé-Coll (1811 bis 1899) war ein französischer Orgelbauer, Akustiker, Wissenschaftler und Erfinder. Er gilt als Maître des Maîtres (»Meister der Meister«) des französisch-romantischen Orgelbaus und gehört zu den bedeutendsten Orgelbauern aller Zeiten. Ziel des französischen Orgelbaus war es, den immer opulenter werdenden romantischen Orchestern in der Kirche ein klangliches Äquivalent zu bieten.

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