Brass, Orchestra, Wood | Von Klaus Härtel

Musik wirkt! Prof Eckart Altenmüller im Gespräch

Altenmüller
Prof. Dr. med. Eckart Altenmüller (Foto: Sebastian Neumann)

Beim Thema „Musik und Medizin“ kommt man an Prof. Dr. Eckart Altenmüller aus ­Hannover nicht vorbei. Er ist der Experte auf dem Gebiet der Neurophysiologie und Neuropsychologie in Zusammenhang mit der Musik. Wir sprachen via Zoom über ­Mozart vs. Hardrock, Musik hören vs. Musik machen und auch darüber, wie wichtig Musik „in diesen Zeiten“ ist.

Herr Professor Altenmüller, was meinen Sie, ist Musik ein Lebensmittel?

Ich würde sagen, dass Musik ein Lebensmittel ist, ja. Musik trägt zum Wohlbefinden bei und ist in unseren Genen angelegt. Alle Menschen in ­allen Nationen haben zu allen Zeiten Musik gehabt und Musik gemacht. 

Warum machen Menschen denn überhaupt Musik? 

Musik verbindet die Menschen. Die Musik ist emotionale Kommunikation. Musik kann zusammen mit Tanz kräftige Koalitionen in Menschengruppen festigen. Und Musik kann eben die Stimmung heben, kann Trost spenden und kann sogar die Verbindung zum Jenseits herstellen wie in vielen schamanistischen Kulturen beispielsweise. Musik kann uns aktivieren und uns mit Lebensmut füllen.

Damit deuten Sie schon an, was Musik bewirken kann in uns. Was konkret passiert denn eigentlich durch Klänge und Töne? 

Musik ist ein sehr reichhaltiger Stimulus, wenn man das einmal naturwissenschaftlich ausdrücken möchten. Musik führt dazu, dass einerseits in unserem Gehirn eine sehr mächtige Vernetzung stattfindet. Es werden zahlreiche Hirnareale angesprochen: Hören, Sehen, Bewegen, Emotionen. Gleichzeitig führt Musik auch zu einer Ausschüttung von bestimmten Neuro-Hormonen – vor allem das Freudehormon Dopamin und das Glückshormon Endorphin. Musik kann aber auch dazu führen, dass mächtige Erinnerungsstürme ausgelöst werden. Vor allem geht es da um Erinnerungen, die an bestimmte Emotionen gebunden sind, Emotionen, die wir beim Hören bestimmter Musik haben. Die emotionale Wirkung von Musik ist eng mit meiner Biografie verbunden. Die Musik, die ich zwischen 14 und 24 Jahren gehört habe, ist ganz besonders tief im emotionalen Gedächtnis verankert. Diese Musik hat mich sehr stark geprägt und mich in meiner Persönlichkeitsbildung begleitet. 

Was bedeutet diese Wirkung denn letztlich für die seelische Gesundheit und infolge­dessen natürlich auch für die körperliche?

Schon das Musikhören kann uns in bessere Zeiten zurückversetzen und uns distanzieren von etwaigen schlimmen Umständen in der heutigen Zeit. Musik kann durch Erinnerungen die Stimmung verbessern und Musik kann vor allem auch Trost spenden, indem sie die Bitterkeit des Lebens und der Erlebnisse quasi umformuliert in etwas, was für uns Sinn ergibt. Musik verbindet uns ja mit der Vergangenheit und mit der Zukunft gleichermaßen. Und das tut sie sowohl beim Prozess des Hörens als auch beim Prozess des kreativen Schaffens seit Jahrtausenden – und wird sie mit Sicherheit auch noch Jahrtausende weiter tun.

Was körperliche Wohlbefinden angeht: Musik kann, wenn es die richtige Musik ist, Stress reduzieren, den Blutdruck senken und den Puls stabilisieren. Die Ausschüttung vor ­allem des Freudehormons Dopamin ist für die Akti­vie­rung von bestimmten Körperfunktionen ganz entscheidend. Stressreduktion ist unter anderem in der Musiktherapie ganz wichtig. Musik wird bei Schlaganfallpatienten sehr intensiv eingesetzt. Schon das Hören von Musik reduziert die Angst und den Stress, was so zu einer besseren Rehabilitation führt.

In der Musiktherapie gibt es zahlreiche Ar­beits­felder. Ist dann in der Regel die Ausschüttung der Hormone hier der entscheidende Faktor?

Durch Musik werden einerseits Freudehormone vermehrt ausgeschüttet, andererseits aber Stresshormone weniger stark. Und ja, diese beiden Hormone sind die entscheidenden Faktoren für eine bessere seelische wie körperliche Rehabilitation. Musiktherapie hat natürlich noch viel mehr Aspekte. Ein wichtiger ist dabei die Kommunikation. Mithilfe von Musik kann ich meine Emotionen, die ich vielleicht nicht in Worte fassen kann, laut machen. Musiktherapie hat auch etwas mit sogenannter Selbstwirksamkeitserfahrung zu tun. Ich merke plötzlich: Ich werde gehört! Für alle Menschen ist sehr wichtig, dass sie das Gefühl haben, wahrgenommen zu werden. Deshalb kann man Musik sehr gut etwa bei Kindern mit Autismus, mit Strukturierungsstörungen oder Sprachentwicklungsstörungen einsetzen. 

Spielt es eigentlich eine Rolle, welche Art von Musik verwendet wird? Der Laie könnte vermuten, dass Mozart anders wirkt als Hardrock…

Das könnte man meinen. Aber es ist tatsächlich weniger wichtig, welche Art von Musik verwendet wird, sondern vielmehr, wie ich zu der Musik stehe und welche Musik ich gewohnt bin zu ­hören. Wenn ich ein eingefleischter Fan des ­Wacken-Festivals bin, dann kann mich eine gute Hardrock-Band nach meinem Schlaganfall wieder aufbauen und meine Rehabilitation verbessern. Es muss nicht immer Mozart sein. Grundsätzlich ist es so, dass die Wirkung von Musik stark biografisch ist. 

Im Sport gibt es den Begriff Übertraining. Kann man eigentlich auch zu viel Musik hören?

Man kann auf jeden Fall zu viel Musik machen. Beim Musikhören kann tatsächlich auch eine starke Gewöhnung und schließlich eine Art von Sucht entstehen. Ich kann zur Dosissteigerung neigen und dazu, etwa die Lautstärke immer weiter aufzudrehen. Es gibt zudem bei be­stimmten dazu veranlagten Menschen eine Art von Eskapismus. Wenn man mit dem Leben nicht zurechtkommt, flüchtet man sich in die ­Musik. Und ab dem Moment kann man die Musik eigentlich nicht mehr genießen. Man ist nicht mehr frei, sondern ihr ausgeliefert und braucht deshalb diese Dosiserhöhung. Musik kann bei manchen Menschen – und das sind meistens seelisch traumatisierte Menschen – eine Sucht auslösen. 

Schon Paracelsus hat ja gesagt: Die Dosis macht das Gift. 

Genau. Was uns aber alle betrifft: Wir tendieren dazu, Musik zu unachtsam zu hören. Dabei entstehen dann Gewöhnungsprozesse, die das differenzierte Hören ein wenig in den Hintergrund rücken. Man wird im Kaufhaus, im Fahrstuhl, aus dem Radio ständig beschallt. Dadurch verlernt man das richtige Hören und schaltet früher ab. Das ist meines Erachtens eine Aufgabe der Eltern, der Schule und der frühen musikalischen Förderung: das achtsame Hören zu trainieren. 

Musik machen und Musik hören sind zwei verschiedene Dinge. Auch, was die neuropsychologische Wirkung angeht?

Das aktive Musizieren ist natürlich noch sehr viel wirksamer, wenn es um die Gehirnvernetzung geht. Ich muss unter sehr genauer zeitlich-räumlicher Kontrolle Bewegungen planen und durchführen. Gleichzeitig muss ich aber den Effekt der Bewegung auch noch hören und die Emotionen dabei steuern! Das aktive Musizieren führt zu einer Anpassung des Gehirns, man nennt das die Neuroplastizität. Das heißt, die Anforderungen an das Gehirn werden durch Wachstum von Nervenzellen und Wachstum von Synapsen beantwortet. Das sind Effekte, die man heute mit modernen Methoden – etwa mit dem Kernspintomogramm – nachweisen kann. 

Spielt es beim Musik machen eine Rolle, ob ich für mich alleine, im Ensemble oder in einem großen Orchester musiziere?

Das ist noch nicht sehr gut untersucht worden. Die meisten Untersuchungen haben das allei­nige Spielen, das Üben zu Hause zum Gegenstand. Bei Chorsängerinnen und Chorsängern aber hat man herausgefunden, dass es zwei bestimmte Hirnregionen im linken Schläfenlappen und im linken Stirnlappen gibt, die genau das programmieren, dass ich mit meinem Chorkolleginnen und -kollegen im Gleichklang bin. Diese Region ist bei professionellen Chorsängerinnen und -sängern auch vergrößert.

Das Ensemblemusizieren bringt also auch wieder spezifische Anpassungen. Das ist aber auch nicht verwunderlich, weil unser Gehirn ja das abbildet, was wir gerne und was wir viel machen. Das Gehirn ist eben nichts statisches, kein Kristall, der quasi nach dem Abitur fertig ist. Das Gehirn bildet das ab, was wir gerne machen. Die Zentren, die sehr viel und mit großer Freude angesprochen werden, werden dann größer. Und wenn ein Musiker dann nicht so viel Zeit hat, Schach zu spielen, werden die Zentren im Schläfenscheitellappen kleiner. Das ist eine tolle Einrichtung der Natur. 

Wie wichtig ist es gerade in der heutigen Zeit – seit zwei Jahren Pandemie und nun der Krieg mitten in Europa –, Musik zu haben? 

Musik kann in der Hinsicht nicht nur Trost spenden, sondern die Künstlerinnen und Künstler beziehen auch Stellung für die Ukraine. Wir können Verbundenheit demonstrieren und wir können Menschen in Not signalisieren, dass wir zu ihnen stehen und sie unterstützen. In Deutschland ist unsere Musik ein Teil unserer nationalen Identität. Sie ist Teil von uns allen. Und wenn wir nun beispielsweise die ukrainische Nationalhymne spielen, zeigen wir Solidarität. Ich glaube, da ­verfolgt die Kunst schon einen sehr wichtigen Aspekt – wir könnten da bisweilen noch aktiver sein. Also: Musik ist in jeder Hinsicht sehr wichtig, ein Lebensmittel! 

Altenmüller

Vom Neandertal in die Philharmonie 

Wie entfaltet Musik ihre Wirkung? Was geht dabei in unserem Gehirn vor? Fördert Musik die Intelligenz? Dient sie dem Gruppenzusammenhalt? Teilt Musik Emotionen mit? Das Buch „Vom Neandertal in die Philharmonie: Warum der Mensch ohne Musik nicht leben kann“ von Eckart Alten­müller erklärt die zahlreichen Wirkungen von Musik auf Fühlen und Denken, auf die Organisation von Gruppen sowie auf unsere körperliche und geistige Gesundheit. Im ersten Teil des Werkes werden die evolutionären Grundlagen der Musikwahrnehmung und des Musizierens dargestellt. Die faszinierenden neuen Erkenntnisse zu den positiven, aber auch den negativen Auswirkungen intensiven Musizierens auf das Nervensystem werden in den folgenden Kapiteln geschildert. Glück­licher­weise macht Musik nur selten krank – viel wichtiger sind die bislang noch gar nicht ausgeschöpften heilenden Potenziale und die große Macht der positiven Emotionen, die durch Musik ausgelöst werden. Mit diesen erfreulichen und zukunftsweisenden Aspekten schließt das Buch, das jeden ansprechen wird, der eine Liebe zur Musik empfindet, sei es als Musizierender oder als Hörer.

Eckart Altenmüller: Vom Neandertal in die Philharmonie. Warum der Mensch ohne Musik nicht leben kann (Neuauflage ab 15. Juli 2022;
Springer-Verlag)

ISBN 978-3-6626-1563-8