Orchestra | Von Kristin Thielemann

Musikfreizeit während der Corona-Krise?!

Musikfreizeit

In der Schweiz ticken die Uhren bekanntlich anders. Auch in der Corona-Krise geht die Eidgenossenschaft einen anderen Weg, setzt auf mehr Eigenverantwortung und ­gesteht insbesondere Kindern und Jugend­lichen viel größere Freiheiten zu, als es ­derzeit in vielen anderen Ländern Europas ­üblich ist. Wie sieht der Alltag auf ­diesem Sonderweg für die musikalische Nachwuchsförderung aus? Unsere Autorin berichtet.

Manchmal möchte man sich staunend die Augen reiben, wenn man hier in der Schweiz die Schülerinnen und Schüler bis zur 6. Klasse ohne Masken in die Schulhäuser spazieren sieht. Lediglich im öffentlichen Nahverkehr sind diese auch für Grundschüler Pflicht. Musikschulen sind seit ­Beginn des Schuljahres 2020/2021 wieder „ganz normal“ geöffnet; Ensemblespiel für Schülerinnen und Schüler bis 20 Jahre gehört dazu und seit Anfang März 2021 sind sogar Kinder­chor­proben wieder erlaubt. Natürlich mit Schutzkonzepten, diese können aber regional (heißt hier von Kanton zu Kanton) durchaus unterschiedlich streng sein.

Händewaschen, regel­mäßige Desinfektion und Abstand sind Pflicht, Plexiglaswände und abgesagte Schülerkonzerte an der Tagesordnung. Hin und wieder gibt es eine Online-Lektion, wenn sich ein Schüler in Quarantäne befindet, sich nicht ganz gesund fühlt oder Familien für sich entschieden haben, dass sie mehr als den gesetzlich geforderten Abstand einhalten möchten. Das kulturelle Leben in den Blasmusikvereinen liegt – sofern man sich nicht am digi­talen Ersatz versucht – brach und viele, insbesondere freiberufliche Kulturschaffende sind längst am Ende ihrer Kräfte angekommen, finan­zielle Einbußen drücken und die immer noch andauernde Krise schlägt aufs Gemüt. 

Schweizer Corona-Regelungen

Doch trotzdem hat man häufig das Gefühl, in einem Asterix-Comic zu Gast zu sein, wenn man die Schweizer Corona-Regelungen mit denen der Nachbarländer vergleicht, wo derzeit Ausgangssperren an der Tagesordnung sind und Musiklehrerinnen und -lehrer vielerorts darum kämpfen, überhaupt Präsenzunterricht geben zu dürfen. 

In der Eidgenossenschaft hat man Verständnis für diejenigen, denen die Regelungen zu lasch sind, versucht aber auch, den Forderungen derer Rechnung zu tragen, die immer neue Öffnungen und mehr Freiheiten wollen. Der aus sieben Mitgliedern bestehende Bundesrat nimmt all dies wahr und versucht es in Corona-Verordnungen zu gießen, die es zwar nicht allen recht machen können, aber eine möglichst ­große Balance zwischen Gesetz und Selbstbestimmung wahren. Auch die Kantonsregierungen mischen kräftig mit und lassen sich bei der Um­setzung der Vorgaben teilweise nur bedingt hineinreden. Und so ist auch hierzulande das ­Lesen von wechselnden Verordnungen der neue Sport der Musik- und Kulturschaffenden. Ein Lehrstück in Sachen Politik für Migrantinnen wie mich.

Ein genehmigtes Schutzkonzept

Im Sinne der Schülerinnen und Schüler entschied sich Stefan Roth, Dirigent der Jugend­musik Kreuzlingen und ihrer Nachwuchsorchester, eine Musikfreizeit in den Frühlingsferien 2021 zu lancieren. Unterstützt von einem Team aus Vereinsleitung, einem Musiklehrer und weiteren Helfern entwickelte man unter seiner Leitung ein Schutzkonzept, welches zunächst von der Kantonsregierung abgesegnet werden musste. Da im ursprünglich geplanten Domizil in Graubünden Kinder- und Jugend­frei­zeiten von der Kantonsregierung verboten waren, wurde kurzerhand ein geeignetes Haus im Kanton St. Gallen gefunden und gebucht. 

Als Mutter zweier teilnehmender Kinder und nicht involvierte Lehrkraft der Musikschule beobachtete ich diese Herkulesaufgabe aus sicherer Entfernung, las Elterninfos und die Mailwechsel innerhalb der Schule neugierig mit, ob eine co­rona­freie Musikwoche wohl gelingen würde. Inner­halb der Elternschaft der teilnehmenden Kinder nahmen Ideen Gestalt an, sich selbst und die Kinder und Jugendlichen einige Tage vor Beginn der Musikwoche selbst zu isolieren, um das Vorhaben zu unterstützen. Am Ende traten 50 Kinder und Jugendliche in den frühen Morgenstunden eines regnerischen Frühlingsmorgens in Kleingruppen gestaffelt zum Coronatest an, um nach einem negativen Testergebnis sofort den bereitstehenden Doppeldeckerbus zu besteigen.

Zwei weitere Coronatests gab es während und am Ende der Musikwoche. Ergebnis: alle negativ! Wir Eltern mochten es fast nicht glauben, als wir 50 müde, aber glückliche Kinder nach fünf Tagen am Haus der Jugendmusik Kreuzlingen abholen konnten. Doch noch bevor wir unsere Kinder in Empfang nehmen durften, fand das beliebte Schlusskonzert der Musikwoche statt – seit Jahren eine feste Einrichtung. Doch in diesem Jahr spielten die Kinder und Jugendlichen für die ­Kameras, während wir Eltern frierend unter der großen und noch winterlich kahlen Linde auf dem Vorplatz des Musikschulgebäudes warteten und uns die Klänge nur durch ein gekippt stehendes Fenster erreichten. Dieses Konzert ist auf dem YouTube-Kanal der Jugendmusik Kreuzlingen zu finden. 

Viele neue musikalische Impulse

Meine Kinder, zwei junge Trompeter, aber auch meine mitgereisten Schülerinnen und Schüler sind nach dieser Musikwoche voll motiviert, haben viele neue musikalische Impulse erhalten und neue Ziele gefunden, für die es sich zu üben lohnt. Die Gemeinschaft des Orchesters trägt sie, wenn sie doch einmal in einem Motivationstief sind. Und wenn eine Schülerin oder ein Schüler müde von einem langen Schultag in die Unterrichtsstunde stolpert, muss ich als Musiklehrerin nur eines der Werke aus dem Orchester aufs Notenpult legen und schon strahlen die Augen wieder. 

Es ist ein kleines Stückchen Freiheit, was Stefan Roth und sein Team den Schülerinnen und Schülern der Jugendmusik Kreuzlingen auf diese ­Weise ermöglicht haben. Ein Stück Kindheit mit Erinnerungen aus dieser ­Coronakrise, die bleiben werden. Erinnerungen an den verpflichtenden Coronatest vor der Abfahrt, genau wie die Proben während der Musikwoche und die Schneeballschlacht mit allen Freundinnen und Freunden aus dem Orchester dort oben in den St. Galler Bergen. 

Mancher Leser mag mit Neid auf diese Zeilen blicken, die ich gerade schreibe, während ich an meinem nur noch lauwarmen Kaffee nippe, der seit Herbst 2020 nach gar nichts mehr schmeckt; Long Covid – Sie kennen das vielleicht. Andere wird es dazu inspirieren, selbst nach Wegen zu suchen, um Kindern und Jugendlichen auch während dieser Krise ein Stück Freiheit zu schenken, trotzdem größtmöglichen Schutz vor einer Ansteckung zu bieten und unser Kulturgut Musik auch unter Pandemiebedingungen und unter Berücksichtigung der jeweils geltenden Vorschriften an die nächste Generation weiterzugeben.