Orchestra | Von Renold Quade

Repertoirevorschlag: Toshio Mashimas „Birds“

Birds

Sich einfach einmal in die Lüfte schwingen zu können, ganz leicht zu sein, Kapriolen zu schlagen, einen Sturzflug zu wagen, die Welt auch mal von oben betrachten zu können – das fasziniert die Menschheit schon von je her. Dafür beneiden wir etwa die Vögel, denen Gottes Schöpfung eben diese Gaben verliehen hat. Und innerhalb dieser Gattung, da gibt es wiederum auch Unterschiede, denn auch unsere gefiederten Freunde faszinieren mit einer bunten Vielfalt. Angefangen von Federkleid, Gesang, Gesten und Flugtechniken begeistern sie mit daraus resultierender Individualität und vielen Eigenarten. Ja, ihre Einflüsse reichen gar bis hin zu mystischer Symbolik. Ein Beitrag über Toshio Mashimas „Birds“.

Toshio Mashima wurde am 21. Februar 1949 in der Stadt Tsuruoka, in der japanischen Präfektur Yamagata, geboren. Beruflich war er zunächst in Richtung Ingenieurswesen unterwegs. Aber er brach sein Studium der Ingenieurswissenschaften an der Fakultät Universität Kanagawa ab und schrieb sich ein für den »Yamaha Band Director’s Course«. Weiter studierte er intensiv Harmonielehre, Komposition und Arrangement bei Satoshi Kanade und Jazz-Theorie bei Makoto Uchibori. Nach seinem Diplom im Jahre 1971 war er in der Praxis als Posaunist und Keyboarder bei verschiedenen Pop- und Jazzorchestern unterwegs und arbeitete schließlich als Assistent bei Naohiro Iwai. Eine wohl prägende Begegnung, denn von da an widmete er sich immer intensiver der Welt der Blasorchester. 

Der Komponist

Seine Werke für Blasorchester und auch für Jazz-Ensemble sind international verlegt und werden rund um den Globus gespielt. Nicht nur in Japan besonders beachtete Werke, jenseits des Mainstreams, sind die sinfonische Dichtung »Landscape With Waves« (1985), »Coral Blue« (1991) oder »The Winds Of May« (1997). Die Werke seiner »Mirage«-Reihe beschäftigen sich mit dem Genre »Symphonischer Jazz«, Werke wie »Three Japonismes« experimentieren mit und zielen ab auf die Verschmelzung von japanischen Modi mit westlichen Harmonien.

Birds

»La Dance Du Phenix« gewann 2006 den französischen Kompositionswettbewerb »Coupe De Vents«. Für Jobims Escola de Música do Estado de São Paulo in Brasilien schrieb er 2008 »Song Of The Great Tree«, ein Konzert für Marimba und Band. Als Arrangeur machte er sich einen Namen mit ausgefeilten Bearbeitungen von Klassikern wie »Turandot« (Puccini) oder »An American in Paris« (Gershwin). Nicht unerwähnt bleiben sollte auch sein Schaffen für japanische Fernseh-Produktionen. Musikpädagogisch engagierte er sich als Berater am »Sobi Institute of Education«, sowie für die »Yamaha Music School«. Er verstarb 2016 im Alter von 67 Jahren. 

Die Idee

Toshio Mashima war alles andere als ein Luf­tikus, aber die bereits eingangs geschilderte Faszination für gefiederte Lebewesen und deren Aura war ihm zu »Birds« eine große Inspiration. Er zählte »Luft« und »Luft« zusammen, beobachtete konkret Künstler der Lüfte, wie Schwalben und Möwen, tauchte zudem noch ein in die Mystik und Symbolik eines Kultvogels und bediente sich an von Luft betriebenen
In­strumenten, wie dem Solo-Altsaxofon und einem kompletten großen Blasorchester. Da kommen dann gut und gerne 20 Minuten Musik zusammen, die Satz für Satz ihre eigene Geschichte erzählen. Das Werk wurde für Nobuya Sugawa, den 1. Saxofonisten und Konzertmeister des Tokyo Kosei Wind Orchestra, geschrieben.

Der Ablauf

Swallow (Schwalbe) 

Schwalben sind auf allen Kontinenten, die Antarktis ausgenommen, verbreitet. Sie gehören zur Ordnung der Sperlingsvögel. Man sagt ihnen ein sensibles Gehör nach und sie kommunizieren gerne und beständig mit einer großen Bandbreite von Lauten. Sie ernähren sich von Fluginsekten und daher stammt auch ihre so charakteristische Anpassung an den Nahrungserwerb in der Luft. Die Flughöhe der Insekten erhöht sich bei Hochdruck, bzw. sinkt bei Tiefdruck. Meine Großmutter wusste daher schon zu prognostizieren: »Die Schwalben fliegen tief, das Wetter ändert sich«. Da sich im Winter das Insektenaufkommen in den Breiten Nord- und Mitteleuropas stark vermindert, ziehen sie dann in ihre Winterquartiere. 

Birds

Allegro vivace, im Dreivierteltakt, quasi mit Einzelschlägen, eröffnet im Tutti eine für mich in den ersten vier Takten eher fragende Einleitung, durchaus »aufschreiend«, diesen Satz. Ab Takt fünf schält sich dann aber so langsam ein fließendes Dreiermetrum heraus, das ab Takt 9 im hohen Holz die Motivik des ersten Themas freigibt. Vier zunächst ruhig ansteigende, dann torkelnd abfallende Takte vermitteln die melodische Idee eines durchaus unruhigen Fluges. Diesen ersten Gedanken weiter entwickelnd, folgen dreimal vier Takte, bevor ab Takt 25 das Solosaxofon ins Geschehen »einfliegt«. Mit der etablierten Motivik formt und bestätigt es de­finitiv den ersten Themenkomplex, der über 16 Takte Raum greift. 

Kapriolenhafte Taktwechsel

Ab Takt 41 bestimmen kapriolenhafte Taktwechsel ein eher unruhiges Bild, ab Takt 49 beruhigt ein eher cantilenes Orchestertutti die Szenerie und gibt »im Schwarm« Raum für die »Soloschwalbe«. In der Folge wiederholen und verspielen sich die bisherigen Gedanken nuanciert. Eine gewisse Aufgeregtheit liegt stets in der Luft, die sich erst vor Takt 125 nach kurzem Motivstau beruhigen möchte und vom bislang bestimmenden b-Moll nach D-Dur führt. 

Der bisherige stürmische Gesamteindruck wandelt sich vollkommen. Eine ruhige, fast verträumte Melodie, ein zweites Thema, schwebt im Vierertakt ins Geschehen. Dem solistischen Vortrag des Saxofons folgt, nun in F-dur, ab Takt 142 ein ebenso entspannter, wie klangschöner Wiederaufgriff im Orchester, den ab Takt 150 das Solosaxofon aber wieder ablöst. Eine ritardierende Motivrepetition führt, zuvor noch einmal kurz aufgeschreckt durch einen Harfeneffekt, in eine Solokadenz. Die wirkt auf mich, bei allem Glanz der perlenden Skalen­effekte, aber sofort schon unterschwellig aufgeregt. Sie führt hin zu Takt 167, zurück zu b-Moll und reprisenhaft zurück zur quirligen Aufgeregtheit des ersten großen Themenkomplexes. Ab Takt 209 schält sich nach Taktwechseln eine kleine Coda heraus, die diesen ersten Satz nach gut 6 Minuten beendet. 

Seagull (Möwe) 

Möwen erfreuen sich nahezu weltweiter Verbreitung, sind am artenreichsten in den gemäßigten und kalten Klimazonen beider Erdhalbkugeln und gehören zur Ordnung der »Regenpfeiferartigen«. Die meisten Möwenarten leben an den Küsten, einige Arten brüten auch im Binnenland an größeren Gewässern. Sie sind meist weiß-grau gefiedert, oft mit schwarzer Färbung am Kopf, haben relativ lange, schmale, eher spitze Flügel und sind mit kräftigen, schlanken Schnäbeln, im Oberschnabel leicht nach unten gekrümmt, ausgestattet. Ihre drei nach vorn gerichteten Zehen sind durch Schwimmhäute verbunden. Möwen sind ziemlich lautstarke Vögel, was häufig noch durch ihr geselliges Auftreten verstärkt wird. Ihre Schreie werden oft gereiht ausgestoßen. Sie sind ausgezeichnete Segelflieger, insbesondere auch bei starkem Wind. Sie suchen vor allem den Strand nach Nahrung ab, sind dabei durchaus frech und selbstbewusst und jagen auch gerne einmal anderen Vögeln die Beute ab. 

Wer nun bei der Möwe ein nicht minder aufgeregtes musikalisches Gezeter erwartet hat, der wird überrascht. Eine Solo-Oboe und sanfte Klarinetten vermitteln einleitend das Gefühl eines milden und ruhigen Tages am Strand. Ein kleines »Windchen« bäumt sich in Takt 5 und 6 kurz auf, verspielt sich aber schnell und führt modulierend und ritardierend zum ersten Themeneinsatz A, Takt 9, im Solosaxofon. 

Die Möwe schwebt entspannt, gar verträumt, im Wind

Über acht plus einen Takt »schwebt« die Möwe entspannt, gar verträumt, im Wind. Die Begleitung stützt dieses Schweben, welches natürlich rhythmisch definiert ist, aber nicht so extrem rhythmisch auffällt, da sich auch das Vibrafon klanglich eher unauffällig einbettet. Minimal rhythmisch treibende Aufmerksamkeit erweckt erst der zweite Themeneinsatz bei B, Takt 18. Es bleibt selbstverständlich bei der Ballade, aber stärker ins Gewicht fallen begleitende Achtelbewegungen. Ab C, Takt 27, beginnt ein in Sequenzen angelegter melodisch neuer B-Teil, der insgesamt, und nicht nur durch die angehobene Dynamik, intensiver und drängender wirkt.

Sein Wiederaufgriff ab Takt 35 lässt die Spannung zunächst nicht abfallen, auf halbem Wege wirkt es aber so, als würde es entspannter auslaufen. Das macht es auch definitiv, setzt dabei additiv noch einen Takt an und stellt die Weichen für D. Kurz, über vier Takte, schiebt sich das Orchester in den Vordergrund. Poco ritardando und im decrescendo gehört die Bühne dann aber schnell wieder (wie eingangs) einem Solisten, der Solo-Oboe. Sie nimmt in E, Takt 48, dem Solosaxofon, das die kleine Verschnaufpause sicher gerne genossen hat, noch schnell die ersten vier Takte seines Themen-Wiederaufgriffs ab.

Der Saxofonsolist steigt erneut genüsslich zu

Ab F, Takt 57, entspinnt sich ein dritter Themenkomplex, sicher von der Kernmotivik nicht neu oder gar kontrastär. Er erzählt aber andere musikalischen Geschichten. In den langen Ton des Solisten hinein, ab Takt 65, staut ein im tiefen Blech auch harmonisch wirkungsvoll (modulierend) angelegter Auftakt kurz. Er lässt in der Folge, in neuen tonalen Glanz, G, Takt 67, im Orchestertutti das Eingangsthema noch einmal aufleben. Starke Umspielungen verleihen dieser Nuance eine große Intensität.

Ab Takt 75 reduziert sich das Orchester wieder, derweil der Saxofonsolist erneut genüsslich zusteigt. Er führt das erste Thema mit Hilfe der Schlusswendung des zweiten Themas an das Ende des Satzes. Bei H, Takt 82, sorgt ein letzter sanfter großer Orgelpunkt für finale Spannung. Die kleine Kadenz der letzten beiden Takte lässt die Möwe noch einmal Richtung Abendsonne abdrehen, bevor sie gänzlich in ihr entschwindet. Der zweite Satz nimmt knapp sechs spannende Minuten Raum ein. 

Phoenix 

»Wie Phönix aus der Asche…« – auch heutigentags wird diese populäre Redewendung herangezogen, wenn etwas verloren Geglaubtes doch wieder in neuem Glanz erscheint. Viele religiösen Weltanschauungen eint eine Grundvorstellung. Das Licht der Sonne sei die Grundlage allen Lebens und daraus manifestiert sich die Idee, dass das göttliche Licht den Lebenszyklus bestimmt. Gemäß der Bibel begann das Leben, nachdem Gott das Licht geschaffen hatte. Der griechische Wortstamm »phoinix« bedeutet »der Wiedergeborene, der neugeborene Sohn« und beschreibt einen mystischen Vogel, der am Ende seines Lebenszyklus stirbt, bildlich verbrennt, um aus seinem verwesenden Leib, bildlich aus seiner Asche, wieder neu zu entstehen. Der Phönix wurde zum Symbol der Unsterblichkeit und zum Sinnbild der Auferstehung. 

Der dritte Satz ist mit gut acht Minuten der Längste. Er beginnt in drei Anläufen, angefacht von Triolenauftakten im moderaten Zweihalbe-Metrum aus der Tiefe, die zumindest entfernt an ein »Show-Opening erinnern. Der jeweilige Einsatz des Solosaxofons mit Fermaten-Ende gibt dem ganzen aber auch wiederum eine kadenzierende Wirkung. Das kleine accelerando im dritten Anlauf mündet in einen Taktwechsel, der ab Takt 25 beruhigende Ordnung suggeriert und ab Takt 27 von der Einleitung zum eigentlichen Beginn führt. 

Die harmonisch jazzige Grundstimmung, schon in der Einleitung deutlich spürbar, bricht nun vollends durch und man fühlt sich durchaus in einen Jazzclub versetzt, indem gerade eine intensive Ballade gegeben wird. Farbige Jazzakkorde auf der einen Seite, hier und da ein wenig Zuckerguss in den verzierend begleitenden Orchesterstimmen, bestimmen diese ersten sechszehn Takte. Das »poco accelerando« vor »con moto« deutet aber schon Neues an. Ab Takt 43 vermitteln kurze dynamische Wechsel und sich aufplusternde Skalengänge wogende Bewegung und bringen Unruhe ins Spiel. Die steigert sich bis zum sfp und fortissimo im Tutti, um aber unmittelbar danach, poco ritardando, auch wieder in sich zusammen zu sinken.

Der Phoenix in seinem Feuerkampf.

Ab Takt 59 startet, angeführt von einem Solo-Horn, ein vergleichsweise in allen Belangen zunächst schlichtes und harmloses viertaktiges Motiv. Sechsfach wiederholt wächst es sich, hin zu Takt 83, im drängenden Dauer-accelerando, aber zu einem dramatischen Moment aus. Im fortissimo verkündet das Orchester­tutti scheinbar etwas Finales. Übrig bleibt ab Takt 91 eine Solo-Cadenza des Saxofons. Zunächst noch mit ausnotierten Passagen, dann mit Improvisationsangeboten, deren Rahmen ausgesuchte Jazzakkorde stecken. Hier befindet sich der Phoenix ganz offensichtlich mitten in seinem Feuerkampf.

Ab Takt 92 meldet sich das Orchester wieder mit dem ersten Thema zu Wort, mild und vergleichsweise unschuldig. Ab Takt 100, con moto, da ist es dann wieder mit von der Partie, das Solosaxofon, oder bildlich der Phoenix. Frisch und agil »pellt« er sich wohl aus der Asche. Die Motivik der Passage um Takt 43 lebt hier wieder auf, kann aber deutlich freundlicher gewertet werden. Eine durchaus als dramatisch wahrzunehmende Verdichtung hin zum 6/4 Takt, Takt 11, führt zum Finale der Auferstehung. 

Ab Takt 116, con moto, beginnt die Schluss­passage. Das vormals sich noch eher bedroh­liche entwickelnde Motiv aus der Passage um Takt 59 startet nun erneut, aber betont harmlos, gar naiv entspannt. Im Stile einer »Happy-End-Filmmusik« bleibt es dieser Stimmung treu und zieht weiter seine Kreise. Das sich steigernde Orchestertutti bedient sich noch einmal etlicher genretypischen Gestaltungsmittel und führt, vereint mit dem Solosaxophon, in einen optimistischen Schluss. 

Instrumentation 

Ein komplett ausgebautes großes Blasorchester amerikanischer Prägung ist die Basis für dieses Werk. Zweite Doppelrohbläser, Eb- und Altklarinette sind optional. Eine Harfe findet ihren Platz und zum Paukisten können sich locker fünf weitere Schlagwerker gesellen.

Da das Solosaxofon ein eben solches ist, setzt es besondere Fähigkeiten des Solisten selbstverständlich voraus. Neben perlenden Skalen, die rhythmisch wohl untergebracht werden wollen, ist z. B. die besonders hohe Lage, deutlich wichtig im zweiten Satz, sicher eine Erwähnung wert. Hier müssen Kraft, Grifftechnik und Sensibilität eng zusammenarbeiten, um diese besonderen Färbungen ausdrucksstark nutzen zu können.

Dem Orchester insgesamt wird allgemein ein hohes rhythmisches Geschick, besonders in stets sensibel zu behandelnden Begleitpassagen abverlangt. Den Hölzern speziell immer wieder gerne einmal Freude an schmückendem, aber technisch anspruchsvollem Laufwerk.

Fazit 

Wer sich auf allzu offensichtliche und rein plakative »leichte Kost« freut, der wird sicher überrascht damit, dass da durchaus auch künstlerischer Ehrgeiz mit im Spiel ist. Musiker und Zuhörer sind gleichermaßen aufgefordert mit den Inhalten ein wenig zu ringen und neben Offensichtlichem auch unerwartete Wendungen durchleben zu dürfen. 

Die Schwalbe »macht nicht nur den Sommer«, sie wechselt hektisch Richtung und Ziel, stürzt, torkelt und fängt sich wieder. Die Möwe zeigt sich von ihrer ruhigen und entspannten Seite, so gar nicht zänkisch oder angriffslustig. Der Phoenix erwartet seine zunächst wohl einmal letzten Momente in einer Jazz-Bar, bevor er seinen Umwandlungskampf angeht, um wieder frisch und optimistisch in die Zukunft blicken zu können. Die komplette Aufführung nimmt gut und gerne deutlich über 20 Minuten in Anspruch. Jeder Satz kann aber auch allein für sich stehen und seinen speziellen Charm entfalten.

Das Werk ist in der Partitur datiert mit Januar 2009. Ganz im Sinne des Phoenix wünsche ich einen guten Start ins Jahr 2024.