Orchestra | Von Klaus Härtel

Theinerts Thema: Die Proben- und Partiturvorbereitung

Markus Theinert

Eigentlich ist es eine Binsenweisheit: Je besser man vorbereitet ist, desto besser klappt es dann auch im „Ernstfall“. Das gilt für alle Bereiche, doch für die Musik herrschen auch hier besondere Voraussetzungen. Je besser der Dirigent, die Probe und die Partitur vorbereitet ist, desto näher kommt man dem Ziel. 

Herr Theinert, Pädagogen sprechen ge­legent­lich von „Schwellenpädagogik“, wenn erst an der Türschwelle zum Klassenzimmer der Unterricht „vorbereitet“ wird. Gibt es so etwas auch bei Dirigenten? Und würde das funktionieren?

Es kommt schon vor, dass Dirigenten den Probenraum betreten und sich erst dann mit der Partitur auseinandersetzen oder mit der Reihenfolge der Stücke, die sie an dem Abend proben wollen. Oft haben sie dann nur ein kurz- oder allen­falls mittelfristiges Ziel vor Augen. Das sind natürlich Dinge, die dem musikalischen Erfolg im Wege stehen, leider aber gängige Praxis sind. Das gilt allerdings für die Berufsdirigenten genauso wie für die Amateure in den Musikvereinen.

Wir wissen natürlich, dass das nicht ideal sein kann! Wenn Lehrer zur Schwellenpädagogik greifen, mag das manchmal aus der Not geboren sein, etwa wenn man für einen Kollegen einspringen muss. Auch der Dirigent muss sicher einmal vertreten werden, damit die Probe nicht ausfällt. Ich mag nicht behaupten, dass es keine Situation gibt, in der man nicht kreativ und spontan reagieren muss. Aber in der Regel sollte sich der Dirigent selbstverständlich gut vorbereiten. Alles andere wäre zerstörerisch für die Qualität des Orchesters und ein großes Maß an Zeitverschwendung. 

Dann gehen wir einmal vom Ideal aus. Wann genau beginnt denn eigentlich eine Probenvorbereitung?

Der Begriff Probenvorbereitung lenkt uns vom eigentlichen substanziellen Bedarf ab. Die Vorbereitung der Probenpädagogik, das Zeitmanagement für die Probe oder die Planung einer technischen Herangehensweise an gewisse Stellen – all das ist im Grunde genommen Nebensache. Wichtig ist, dass sich der Dirigent und die Mitglieder des Orchesters mit dem Stück, mit der Partitur, mit der Stimme beschäftigt haben. Und zwar vor der Probe! Die Probenvorbereitung besteht in erster Linie aus der Partiturvorbereitung.

Ich kann eine Probe im musikalischen Sinne nicht leiten, wenn ich von der Struktur und Landschaft der Komposition keine oder nur wenig ­Ahnung habe. Die Probenvorbereitung fängt dort an, wo ich den ersten Blick in die Partitur werfe. Möglicherweise sogar schon vorher, wenn ein Werk für das nächste Konzertprogramm in Er­wägung gezogen wird. Die Repertoireauswahl ist also ein Vorläufer der Probenvorbereitung. Denn sie hat nicht unerheblichen Einfluss auf die Probe selbst. Mein Orchester muss die musikalische Nahrung ja auch verdauen können. 

Die Partiturvorbereitung erfordert, dass ich mich mit dem Stück in seiner Gänze auseinandersetze – und nicht nur mit dem Ausschnitt, den ich in der nächsten Probe zu bearbeiten gedenke. Denn es ist nichts voneinander zu trennen. Im Stück hat alles seinen Zusammenhang. Der ­erste Satz ist nicht für sich alleine zu verstehen oder zu erarbeiten, wenn ich das Ende nicht angeschaut habe.

Ist dann die Partiturvorbereitung von der ­didaktischen Vorbereitung zu trennen?

Im Grunde genommen ergibt sich das zweite aus dem ersten. Pädagogik, Didaktik, Methodik – der Weg, wie ich mich dem Stück annähere und wie ich mich zusammen mit dem Orchester damit auseinandersetzen kann – hängen doch davon ab, was der Komponist gewollt und was er aufgeschrieben hat. Natürlich haben die Bedingungen, die im Orchester herrschen, die Besetzung, die technische Versiertheit der Musiker einen Einfluss auf den Gang der Probe. Davon wird der Fortschritt, den ich in einer oder zwei Stunden machen kann, maßgeblich beeinflusst. Wenn das Niveau des Ensembles höher ist, kann ich mir natürlich auch andere Ziele setzen. Das Ziel hängt aber nicht von meiner strategischen Entscheidung ab, sondern ergibt sich daraus, wie das Orchester mit einem Satz oder einer Passage umgeht. 

Dementsprechend kann man eine Probe auch nicht am Reißbrett entwerfen und muss von Werk zu Werk und auch von Probe zu Probe erneut von vorn vorbereitet sein?

Absolut. Da gibt es kein System 08/15, das für alle Fälle tauglich wäre. Im Gegenteil: Selbst, wenn ich aus langjähriger Erfahrung heraus eine ungefähre Ahnung habe, wieviel Zeit die Erarbeitung bestimmter Literatur in Anspruch nehmen wird, wird mir letztlich und zwangsläufig mein Gehör Auskunft darüber erteilen, wo ich am Ende der Probe angekommen bin. Ein Beispiel: Wenn ich mir vorgenommen habe, den Schwerpunkt meiner Aufmerksamkeit auf die Klarinetten zu legen, weil deren Passagen in einer ungewohnten Tonart schwer zu realisieren sind, dann aber merke, dass die Klarinetten wunderbar vorbereitet sind und die Passage viel besser als erwartet bewältigt wird.

Oder umgekehrt: Eine Stelle, die mir beim Studium der Partitur als problemlos erschien, stellt sich als eine unerwartet große Herausforderung dar. Ich kann das ja nicht ignorieren. Dann müsste ich mich auf etwas einlassen, was ich vielleicht gar nicht vorbereitet habe. Das heißt: ich kann zwar planen, was ich an jenem Abend erreichen möchte und dann auch auf die Uhr schauen, damit wir uns zeitlich nicht völlig verlieren. Aber letztendlich werden der Probenverlauf, das Probentempo und die gerichtete Aufmerksamkeit einzig vom Stück und dem Ergebnis der Probe bestimmt – und nicht von einem vorbereiteten, festgezurrten Konzept. 

Also muss der Dirigent flexibel sein und eben reagieren können. Ist das eine Fähigkeit, die der Erfahrung geschuldet ist?

Das kann schon sein. Allerdings möchte ich die Erfahrung nicht überbewerten. Ein junger unerfahrener Dirigent hat doch die gleichen Möglichkeiten. Wir müssen absolut verstehen, dass ohne die intensive Kenntnis der inneren Zusammenhänge eines Werks der Zugang gar nicht möglich ist – selbst wenn ich den Ablauf der ­Probe und die Schwerpunkte wunderbar geplant habe. Ich muss verstehen, was das Werk im Inne­ren zusammenhält. Ich muss mir die horizontalen Relationen und den vertikalen harmonischen Druck vollständig zu eigen gemacht haben. Und zwar zu jedem Zeitpunkt innerhalb des musikalischen Verlaufs! Nur so kann ich mich orientieren, welche Richtung ich einschlage und was noch fehlt an der Mittelstimme, dem Bass oder der Gestaltung der zweiten Stimme. Das hat alles nichts damit zu tun, ob ich mich auf den Ablauf der Probe gut vorbereitet habe oder nicht.

Ich kenne meine Musikerinnen und Musiker doch und weiß, wie sie wann reagieren, wann sie ihre Aufmerksamkeit fallenlassen und wann ich sie wieder motivieren muss. Doch nur damit werde ich dem Stück nicht gerecht. 

Das, was uns als Musiker wirklich zusammenhält und interessiert, ist zu erleben, was in dem Stück steckt. Es kommt nicht nur auf das extrinsische Erfolgserlebnis an, weil wir diese Stelle jetzt so gut geprobt haben… Natürlich darf man den Fortschritt des Ensembles auf der klang­lichen und technischen Ebene nicht unterbewerten, aber wie viel mehr und wie viel tiefer wäre das Erlebnis, wenn wir eine Stelle musikalisch bewältigt und erlebt haben. Denn es handelt sich ja nicht um ein abschließendes Erlebnis, sondern eins, dass wir immer wieder neu ent­decken – und immer wieder neu entdecken möchten. 

Gilt denn diese Vorbereitung vor allem vor der ersten Probe? Muss ich mich jedes Mal wieder neu vorbereiten? 

Ja, ich muss mich immer wieder aufs Neue mit der Partitur beschäftigen, als ob ich sie zum ersten Mal sehen würde. Denn sie enthält doch Details, die mir beim ersten Lesen entgangen sein könnten. Die Vielfalt der Struktur erscheint oft nach der ersten, zweiten oder dritten Probe in einem ganz neuen Licht. Der Prozess der Aneignung der Partitur ist einer, der mit dem Lesen anfängt. Aber dann setzt das Hören ein. Dann liest man wieder und hört erneut. Beim Hören wird die Aufmerksamkeit ganz anders gelenkt und ich erkenne Dinge und Zusammenhänge, die ich vorher so nicht bemerkt habe.

Diesen Prozess des Wiedereinsteigens haben wir nach jeder Probe. Im Idealfall ist es nicht das schrittweise Erlernen mit dem Orchester, sondern ich muss die Partitur kennengerlernt haben, soweit es mir ohne den Klang des Orchesters möglich ist. Und mit dem Klang in der Probe ergeben sich dann oft ganz neue Perspektiven.

Eine Schablone für eine Probenvorbereitung gibt es nicht. Gibt es denn eine Anleitung, wie ich mich einer Partitur nähern kann?

Ich möchte zunächst noch darauf hinweisen, dass die Partiturvorbereitung nicht alles ist. Denn die menschliche Komponente enorm wichtig. Wir dürfen die Probe nicht als Einbahnstraße verstehen, in der wir das Erlernte mit dem Orchester umzusetzen versuchen. Man muss sich natürlich mit den menschlichen Befindlichkeiten, mit den einzelnen Persönlichkeiten im Ensemble auseinandersetzen. Andernfalls verlieren wir nicht nur die Aufmerksamkeit des Orchesters, sondern letztlich auch die Möglichkeit, das volle Potenzial unserer Musikerinnen und Musiker zu entdecken. Die menschliche Komponente stellt auch in der Probenvorbereitung für die meisten von uns eine unglaubliche Bereicherung dar – zumindest dann, wenn wir uns geistig mit jedem einzelnen im Orchester auseinandersetzen. Solche Dinge können einen großen Einfluss auf die Probenarbeit haben. Wenn wir das ignorieren, wird das Orchester im besten Fall zwar nicht gegen uns sein, aber auch nicht voller Enthusiasmus bei der Sache bleiben. 

Aber zurück zu Ihrer Frage nach dem Partitur­studium: Was ist der Prozess? Im Grunde gibt es zwei Prinzipien, die trivial erscheinen, aber nicht für jedermann selbstverständlich sind. Erstens: Wir müssen die Partitur von Anfang bis Ende durchlesen. Und zwar kontinuierlich, das heißt ohne Unterbrechung und Ablenkung. Das erfordert natürlich große Disziplin und einen nicht unerheblichen Zeitaufwand, der je nach Länge des Werks variiert. Die Beschäftigung mit einem Fünf-Minuten-Stück kann dann durchaus schon einmal ein paar Stunden oder länger dauern. 

Zwei Prinzipien beim Partiturstudium

Das zweite Prinzip besagt, dass eine Partitur von unten nach oben gelesen werden sollte. Das eröffnet mir die Möglichkeit, alle Stimmen mit einer zunächst neutralen Priorität wahrzunehmen, vor allem aber den harmonischen Verlauf und die harmonische Situation in jedem Moment des Stücks zu erforschen. 

Befolge ich dies nicht, dann nehme ich natürlich die Melodie als erstes auf – doch die sollte ich anfangs geflissentlich ignorieren. Ich muss mich erst einmal mit den Fundamenten der Komposition auseinandersetzen. Ich brauche die Mauern, bevor ich einen zweiten Stock einziehe und das Dach aufsetze. Dazu muss man sich zwingen. Wir alle, wenn wir ein Stück hören, werden zunächst die Melodie im Gedächtnis halten. Doch wir müssen mit dem harmonischen Verlauf anfangen und alle Mittelstimmen mit einbeziehen. Das geht nur, wenn ich von unten nach oben schöpfe. Wenn ich versuche, von oben nach unten einzutauchen in die klangliche Tiefe, bleibe ich meistens an der Oberfläche stecken.

Was muss in einer Probe passiert sein, damit ich sie als „gut vorbereitet“ einordnen kann?

Der Respekt gegenüber der Dirigentin oder dem Dirigenten rührt von Autorität und Kompetenz her. Die Erwartungen, die das Orchester stellt, sind in einem größeren Maße erfüllt, wenn der Dirigent zu seiner Linie steht und musikalische Kompetenz mitbringt sowie die Kenntnis der Partitur auch vermitteln kann. Letztlich ist entscheidend, was jeder einzelne am Ende der ­Probe erleben konnte. Es ist unglaublich wichtig, dass Fortschritt erlebbar wird. Es ist nicht wichtig, viel geschafft zu haben oder ein Stück weit vorangekommen zu sein. Im Gegenteil: eine 24-taktige Passage in einem Satz kann – wenn ich es schaffe, die Aufmerksamkeitsspanne nicht überzustrapazieren und jeden bei der ­Stange zu halten – durchaus zu einem großen Erfolgserlebnis werden. Womöglich mehr, als wenn ich fünf Stücke in einer Probe wie geplant durchboxe, bei denen aber keiner so recht spürt, was eigentlich genau erreicht wurde… 

Markus Theinert war Dirigent der Mannheimer Bläserphilharmonie und in Mannheim auch Professor für Dirigieren. Heute ist er – nachdem er 23 Jahre bei der Firma Miraphone  war –  Vice President-Marketing beim US-amerikanischen Instrumentenbauer Conn-Selmer. Für CLARINO hat er viele Jahre lang Theinert Thema beigesteuert.