Man hat »den Rhythmus im Blut«, heißt es. Oder eben auch nicht. Doch stimmt das so überhaupt? Wir haben uns mit Markus Theinert über den Takt, das Metrum und den Rhythmus unterhalten, über die Rolle des Dirigenten in Bezug auf diese Parameter. Am Ende wird es gar philosophisch.
Hat man den Rhythmus eigentlich sprichwörtlich im Blut? Oder kann man den auch intravenös verabreicht bekommen?
Der Rhythmus ist nicht etwas, das ein Mensch besitzen kann. Rhythmus ist eine strukturierte Artikulation der erlebten Zeit. Ich kann daran teilnehmen oder außen vor bleiben. Aber »haben« tut man ihn nicht.
Wir erleben doch den Rhythmus als etwas ganz Natürliches im täglichen Leben: der Wechsel von Tag und Nacht, die Jahreszeiten, Ebbe und Flut und so weiter. Die Gliederung der Zeit, also eine Form der Artikulation, ist für jeden Menschen im Leben erfahrbar.
Und wenn wir das nun auf die Musik übertragen, so ist auch da die Zeit, in der Musik erlebt wird, artikuliert. Das nennen wir Rhythmus. Und es gibt Menschen, die dafür empfänglicher sind oder schneller mit ihrem Körper oder ihrem Bewusstsein darauf reagieren als andere. Aber wir können rhythmisches Empfinden doch nicht wie eine Medizin verabreichen.
Hier liegt das Missverständnis: Rhythmus ist nicht erlernbar wie eine Fähigkeit oder Technik. Tatsächlich ist Rhythmus etwas, das sich in der Wirklichkeit der Zeit abspielt und sich auch auf unseren eigenen Rhythmus – etwa auf den Herzschlag oder den Gang – übertragen lässt.
Also ist ein »Rhythmusgefühl« in stärkerer oder weniger starker Ausprägung bei jedem vorhanden?
Wenn es darum geht, Rhythmus selbst mit eigenen Mitteln auszudrücken – mit Armen, Händen, Beinen etwa –, das ist als Körpertechnik sicherlich erlernbar. Der Tanz zum Beispiel ist eine körperliche Ausdrucksform des Rhythmus – aber das Tanzen ist bekanntermaßen ja nicht jedermanns Sache. Auch auf dem Instrument oder mit dem Schlagwerk ist die Technik, Rhythmus in der Zeit darzustellen, natürlich Übungssache und Resultat einer gewissen körperlichen Begabung.
Das Erleben von Rhythmus hingegen hat mit der expressiven rhythmischen Aktivität weniger zu tun als mit der Aufnahmefähigkeit des eigenen Bewusstseins. Wir kennen das ja alle, dass auch unter ganz fantastischen Musikern manche dabei sind, die weder tanzen können noch wollen und keinen Bezug zur Körperlichkeit des Rhythmus entwickeln können.
Das bedeutet aber keineswegs, dass sie unrhythmische Menschen sind. Sie können sich lediglich mit dieser dezidierten Ausdrucksform körperlich nicht identifizieren und fühlen sich demnach dabei unwohl. Da spielen sicherlich noch andere Faktoren eine Rolle als nur technisches Unvermögen.
»Rhythmus« ist ja nicht mit dem »Takt« gleichzusetzen. Wird das in der Musik gelegentlich verwechselt?
Sicher geht es bei den Begriffen in der Musik wild durcheinander. Aber das ist nicht weiter tragisch, solange man sich nur alleine seine Gedanken darüber macht. Wenn man sich mit anderen über diese Dinge unterhält, sollte man die Terminologie jedoch als Basis der Diskussion präzise definieren und aufeinander abgleichen.
Auch der Takt ist eine Gliederung der Zeit, in dem er einen musikalischen Ablauf in metrische Einheiten unterteilt. Die klangliche Wirklichkeit der Artikulation wird von uns aber als Metrum empfunden, nicht als Takt.
Denn der Takt ist im Grunde genommen nur die notierte Einheit, die nicht immer dem metrischen Geschehen in der Musik entspricht. Die Taktstriche unterteilen das Notenbild visuell. Im Idealfall entspricht die Länge eines Taktes auch der Länge eines Metrums. Das hängt aber immer davon ab, wie der jeweilige Komponist oder Arrangeur das metrische Geschehen auf die Notation übertragen hat.
Ein gutes Beispiel hierfür ist die alternierende Schwerpunktauflösung im Wiener Walzer. Der Wiener Walzer wird in der Regel im ³/₄-Takt notiert. Das metrische Geschehen aber beinhaltet im Grunde genommen zwei Takte.
Wir haben im ersten Takt einen Schwerpunkt auf die Eins, der durch eine Auflösung im zweiten Takt ergänzt wird. Das kommt nicht nur in der Führung des Basses zum Ausdruck, sondern zeigt sich auch in den Tanzschritten des Wiener Walzers, wo man die vollständige Drehung im Raum erst mit dem zweiten Takt abschließt.
Das heißt: Es gibt beim ersten Takt eine Vorwärtsbewegung und beim zweiten Takt eine komplementierende Rückwärtsbewegung. Und dann fängt das Ganze wieder von vorne an. Zur Vollständigkeit der metrischen Einteilung gehören hier also zwei Takte, während das aus dem Notenbild so nicht ersichtlich ist.
Also müsste die metrische Form des Walzers im 6/4-Takt notiert sein und nicht im ³/₄-Takt. Dies ist ein klassisches Beispiel für die Diskrepanz zwischen notierter und erlebter Einheit. Idealerweise sollten Taktlänge und Metrum natürlich übereinstimmen.
Inwiefern ist denn der Rhythmus ein »innerer« Wert, der Takt aber ein »äußerer«, eine technische Vorgabe des Komponisten?
Den Takt kann man einfach nur abzählen. Beim metrischen Verständnis muss ich davon ausgehen, dass das artikulierte musikalische Geschehen bereits erlebt wurde. In der Definition ist das Metrum die erste abgeschlossene Einheit, in der alle rhythmischen Kräfte ausgeglichen sind.
Es ist sozusagen die Zellstruktur im rhythmischen Ablauf, in der es zum ersten Mal zu einem inneren Ausgleich der Wirkungen unterschiedlich gerichteter Pulsschläge kommt, also zu einer Balance zwischen Impuls und Auflösung.
Der einfachste Fall ist, dass nach einem Impuls eine Auflösung folgt. In diesem Fall sprechen wir von einem »Alla breve«, also der »kürzesten« metrischen Grundform. Denn einen Schlag allein kann ich in sich nicht bestehen lassen, weil er nicht vollständig ist. Er setzt etwas in mir in Bewegung, das erst nach der erlebten Auflösung als Einheit empfunden werden kann.
Wenn nun zu Impuls und Auflösung noch eine zweite, wesentlich anders gerichtete Auflösung folgt, dann sprechen wir von einem sogenannten Triangel, das heißt einer dreiseitigen metrischen Form, die vom primären Impuls ausgehend eine erste partielle Auflösung und eine weitere schwächere Auflösung erfordert, um die Kraft des Impulses abzurunden.
Die komplexeste und wohl auch häufigste Form des Metrums wäre dann das Kreuz, in dem neben der ersten Betonung auch eine zweite Betonung platziert wird – also eine Hauptbetonung, eine Auflösung, eine Nebenbetonung und eine weitere Auflösung.
Diese Form eröffnet auch die meisten Möglichkeiten für metrische Spielarten wie zum Beispiel im ⁶/₈-Siciliano, bei dem nach einer betonten Viertel eine Achtelauflösung folgt, dann auf dem vierten Schlag eine weitere Viertel als Nebenbetonung und die letzte Achtel im Metrum als finale Auflösung dieser Zelle.
Aber der Takt gibt hier nur wenig Auskunft, denn ein notierter ⁶/₈-Takt kann sowohl ein Alla breve sein als auch ein Kreuz, das ist zumindest von der Taktbezeichnung allein voneinander oft gar nicht zu unterscheiden. Vom Metrum her gibt es hier allerdings ganz deutliche Unterschiede.
Wer ist denn für den Rhythmus eigentlich zuständig? Der Dirigent? Das Schlagwerk? Jeder für sich?
Weder noch! Es ist die musikalische Textur des Klangs, der sich in Raum und Zeit artikuliert. Ich kann auf den fahrenden Zug aufspringen oder auf dem Bahnsteig zurückbleiben. Wenn wir von unrhythmischem Musizieren sprechen, dann sind wir nicht im Geschehen drin.
Wenn wir dabei sind, kann es gar nicht anders als rhythmisch sein, rhythmisch nicht im Sinne des mechanischen Ablaufs akustischer Bewegungen, sondern im Sinne der strukturierten Formgebung musikalischer Ereignisse.
Hier liegt ein großer Unterschied zwischen der Mechanik oder der statischen Form einer Bewegung, wie sie zum Beispiel eine Maschine oder ein Metronom produziert, und dem körperlich empfundenen Rhythmus, der die erlebbare Proportion zwischen Schwerkraft und Auflösung tatsächlich auch in die klangliche Realität umsetzt.
Für mich sind Rhythmus und Körpergefühl nicht voneinander zu trennen. Wenn die Fußspitzen anfangen zu wippen, dann merkt man doch sofort, dass jemand von dem ergriffen und mitgenommen wird, was sich in der Musik abspielt. Aber es ist nicht etwas, das wir von unserer Seite in die Musik hineinprojizieren. Rhythmus wird vom inneren musikalischen Geschehen, von der Melodieführung und vom harmonischen Ablauf beeinflusst.
Selbstverständlich gibt es auch die abstrakte Form des Rhythmus, die frei von Klanglichkeit und nur mit Geräuschen wie Händeklatschen oder Schlagwerk ausgedrückt werden kann. Das ist sozusagen die Essenz der musikalischen Bewegungsform, also der artikulierten Zeit, die sich ohne tonale Harmonie auf die rein zeitliche strukturierte Form beschränkt.
Ich habe eine Definition gefunden, nach der der »Dirigent einem Ensemble den Rhythmus übermittelt«. Ist das dann nur ein Teil der Wahrheit?
Er hat gar keine Chance, etwas zu übermitteln, was der andere nicht auch so erlebt. Es gibt Dinge, die man nicht einfach übertragen kann auf sein Gegenüber oder die vielen Musiker im Raum. Ich kann allenfalls – und hier kommt die Funktion des Dirigenten ins Spiel – die Vereinheitlichung der verschiedenen Wahrnehmungen im Orchester mit der artikulierten Bewegung des Armes erleichtern.
Dadurch wird aber nicht der Rhythmus übermittelt, sondern die Proportion der einzelnen Pulsschläge in Bezug auf Impuls und Auflösung. Diese Schlagproportion kann der einzelne Musiker dann für sich auf das Geschehen übertragen. Damit wird natürlich nicht nur der Puls, den ja der einzelne Schlag des Dirigenten darstellt, sondern auch die Zeit zwischen den einzelnen Pulsschlägen in strukturierter Form dargestellt.
Diese zentrale Vereinheitlichung macht es möglich, sich mit den anderen im Raum ebenfalls zu synchronisieren. Es ist nicht notwendigerweise so, dass der Dirigent den Rhythmus vermittelt, der im Stück drinsteckt, sondern er schafft eine direkte Entsprechung zwischen der Schwerkraft im Arm und den metrischen Kräften in der Musik, sodass alle im Orchester sich mit der Einheitlichkeit aller klanglichen Parameter identifizieren können.
Arturo Toscanini hat einmal gesagt: »Jeder Esel kann den Takt schlagen, aber Musik machen – das ist schwierig.« Da ist also was dran, oder?
Absolut wahr! Zum Taktschlagen braucht man den Dirigenten nicht. Zählen können die meisten ja – auch wenn es einzelne Ausnahmen gibt. (lacht) Aber das Taktschlagen wäre eben nur die Darstellung einer mechanischen Bewegung, die in sich weder strukturiert noch artikuliert ist, sondern die lediglich die Zeitpunkte im Raum definiert, zu denen ein klangliches Ereignis stattfindet.
Der Unterschied zu einer metrischen Gestik des Dirigenten besteht eben gerade darin, dass es sich auf die formgebende Unterscheidung zwischen Impuls und Auflösung konzentriert, also auf die Qualität und Richtung der einzelnen Pulsschläge – etwa in der metrischen Grundform des Triangel von der Eins, die nach unten geschlagen ist zur Zwei, die wir nach außen schlagen, und dann die Drei, die noch leichter ist, indem sie nach oben geht und zurück zum Ausgangspunkt.
Hier zeigt sich eine ganz wunderbare Analogie zwischen der Bewegung des Arms im Raum und der tatsächlichen metrischen Aufgliederung in der Musik. Die Verhältnismäßigkeit und Differenzierung zwischen diesen drei fundamental unterschiedlichen Schlägen ist eben genau das, was die Musik ausmacht.
Wenn ein Taktschläger aber einfach nur drei Schläge in den Raum setzt, die voneinander in Bezug auf spezifisches Armgewicht, räumliche Richtung und individuelle Schlagproportion nicht unterscheidbar sind, dann kann man mit Toscanini durchaus einer Meinung sein. Das bloße »Taktschlagen« sehen wir leider viel zu häufig. Die Dirigenten beschränken sich darauf, die Zeit anzuzeigen, anstatt die musikalische Bedeutung eines jeden Pulsschlags mit dem Arm auszudrücken.
Ist das Empfinden von Rhythmus eigentlich kulturell bedingt? Ich denke da jetzt an kubanische, orientalische oder afrikanische Rhythmen, die für einen Mitteleuropäer zunächst einmal schwierig zu greifen zu sein scheinen…
Hier muss man sicherlich zwei Dinge unterscheiden. Das eine ist die technische Effizienz oder Fähigkeit, den Rhythmus auszuführen und mit den eigenen Mitteln darzustellen. Und hier gibt es selbstverständlich Kulturen, die viel weiter sind als der durchschnittliche Mitteleuropäer.
Zum einen, weil sie einfach mit einer Selbstverständlichkeit von polyrhythmischen Abläufen und komplexer Metrik aufgewachsen sind. In Afrika etwa gibt es einen unglaublichen Reichtum an rhythmischer Variation, der seinesgleichen sucht. Hier sind die Menschen von Natur aus auf einem ganz anderen Niveau, was die rhythmische Darstellung anbelangt.
Die andere Seite ist aber wiederum die Wahrnehmung durch das Bewusstsein. Hier sind wir durchaus lernfähig, komplexe Abläufe aufzunehmen und zu einer erlebbaren Einheit zu reduzieren. Das erfordert natürlich eine fokussierte Aufmerksamkeit, die uns unabhängig von den Erfahrungen werden lässt, die wir in unserer eigenen Kultur erlangt haben.
Wenn Sie aus einem Land kommen, in dem sich das Volksliedgut im einfachen ⁴/₄-Takt abspielt und ansonsten wenig Variationen erfährt, dann haben Sie sicher mit einem ¹¹/₈-Rhythmus der osteuropäischen Kulturen zunächst einmal Probleme, weil Sie es eben nicht gewohnt sind. Das hat aber nichts damit zu tun, dass Sie es nicht selbst ausführen können.
Sie können es eventuell in seiner ganzen Komplexität noch nicht erfassen und daher auch nicht zusammenbringen. Wir erleben in diesem Falle zunächst keine Einheit im Sinne des musikalischen Erlebnisses, sondern einen seriellen Ablauf von Eindrücken, der uns zunächst verwirrt und unbefriedigt zurücklässt.
Hier sind Hör- und Erlebniserfahrung sicherlich hilfreich, um den Einstieg ins Geschehen zu finden. Ich bin aber überzeugt davon, dass auch Menschen, die selbst nicht in der Lage sind, diese komplexen Rhythmen technisch darzustellen, durchaus lernen können sie zu erleben und zu verstehen.
Der römische Rhetoriker Quintilianus hat im 1. Jahrhundert gesagt: »Einige von den Alten nannten den Rhythmus das männliche, die Melodie das weibliche Prinzip.« Stimmt das?
Eine philosophische Frage, die sicherlich weitere Diskussionen erfordern würde. Das Melos und der Rhythmus sind auch für viele Denker nach Quintilian Gegenstand der Betrachtung und Beispiel für die Vollkommenheit in der Welt gewesen.
Das Ergänzende, das Komplementäre ist zunächst einmal natürlich auf Gegensätzlichkeit begründet. Und das ist auch im männlichen und weiblichen Prinzip der Fall, wie etwa auch im Yin und Yang. Auch im menschlichen Gehirn gibt es eine gewisse Trennung der rechten und linken Hemisphäre. Wir wissen, dass sich in beiden Gehirnhälften unterschiedliche Schwerpunkte und Zentren befinden.
Zum Beispiel wird von der rechten Gehirnhälfte im Wesentlichen die linke Körperhälfte kontrolliert. Hier finden wir auch das Melos, die Kreativität, das Ästhetische, das Sensitive – eben das Weibliche angesiedelt, wenn Sie so wollen.
Auf der anderen Seite, der linken Hemisphäre des Gehirns, welche die rechte Körperhälfte unter ihren Fittichen hat, da sehen wir das Strukturierte, das Rationale, das Rhythmische – hier könnte man also das männliche Prinzip zu Hause sehen.
Beide sind nur in ihrer Ergänzung vollständig. Es gibt gar keine Möglichkeit, auf das eine oder andere vollständig zu verzichten. Denn Melodie hat immer ihren Rhythmus und auch der Rhythmus hat in sich bereits eine melodische Phrasierung. Es gibt keine Trennung, aber gelegentlich eine stärkere Ausprägung in die eine oder andere Richtung.