Ludwig van Beethoven ist – auch wenn Corona viele Veranstaltungen ausfallen ließ – wohl das berühmteste Geburtstagskind des Jahres 2020. Vermutlich kennt jedes Grundschulkind die berühmten Klänge der „Ode an die Freude“. Markus Theinert findet, dass Beethovens stärkere Werke ein wenig in Vergessenheit geraten sind…
Vor 250 Jahren wurde Ludwig van Beethoven geboren. Ein Jubiläum, das groß gefeiert worden wäre, wäre nicht Corona dazwischengekommen… Was ist eigentlich immer noch so faszinierend an Beethoven?
Beethoven war im musikalischen Sinne revolutionär – und er ist es bis heute geblieben. Er hat sich in seinen Sinfonien mit der Sonatenhauptsatzform in einer Art und Weise auseinandergesetzt, wie es keiner vor ihm getan hat. Dieses zweite Thema, das in der Musiktheorie in der Regel als Seitenthema bezeichnet wird, hart er zu einer vollwertigen und selbstständigen Kontraststruktur etabliert. Er hat also das Konzept der Sinfonie in einer Weise ausgearbeitet, die sich von der klassischen Sonate abwendet. So hat er zum Beispiel erkannt, dass die Wiederholung im ersten Teil strukturell überflüssig ist. Denn die Kontraste haben ja bereits in einer einmaligen Weise auf unser Bewusstsein gewirkt, sodass die Durchführung unausweichlich wird.
Bruckner hat dann die Beethoven’sche Form mit einem dritten Thema in seiner triangulären Form noch erweitert. Aber danach hat es eigentlich niemand mehr geschafft. Vielleicht sind wir in unserer Wahrnehmung von Musik damit auch »ausgereizt« und gar nicht fähig, eine noch komplexere Form zu verarbeiten. Beethoven schuf einen kompositorischen Meilenstein, der bis heute Bestand hat. Auch in der neo-romantischen und neo-klassizistischen Musik wurde sein Schaffen immer wieder aufgegriffen. Musikalisch gesehen ist Beethoven bis heute ein Revolutionär geblieben. Niemand kann behaupten, dass seither nichts mehr passiert ist, aber er ist nach wie vor ein packender Komponist.

Liegt das auch oder hauptsächlich an Klassikern wie »Ode an die Freude“ aus der 9. Sinfonie oder populären Klavierwerke wie „Für Elise“?
Hier bin ich mit der populären Sichtweise gar nicht so einverstanden. Denn Beethovens schwächere Werke scheinen doch mehr bekannt zu sein. Seine echten Meisterwerke sind vom breiteren Publikum noch unentdeckt. Die populären „Hits“ sind nicht unbedingt das, was Beethoven für mich ausmacht. Sie rühren eher von seiner Schwäche für die Wirkung aufs Publikum her. Die eigentliche filigrane Kompositions- und Instrumentierungstechnik, die vorausschauende Erweiterung des Sonatensatzes, aber auch des Orchesterapparats selber, das alles wird heute gar nicht so geschätzt, wie er es verdient hätte. Die populären Melodien, die man auf der Straße pfeift und die heute mit dem Namen Beethoven verbunden werden, sind aber absolut nicht das, was für sein Talent und seine Schaffensperiode steht.
Beethoven ist demnach durch seine populären Werke bekannt, seine Meisterwerke sind aber in Vergessenheit geraten? Zumindest bei der breiten Masse?
Das sicherlich auch, weil sie anspruchsvoller sind. Denn im Allgemeinen haben es anspruchsvollere Werke beim breiten Publikum immer etwas schwerer. Das hängt auch damit zusammen, dass die Aufmerksamkeitsspanne nachgelassen hat und Hörgewohnheiten für komplexere Formen nicht mehr so verbreitet sind. Natürlich ist es leicht, die „Ode an die Freude“ als Auszug des sinfonischen Schlusssatzes mit Beethoven zu verbinden – ohne den Rest des Satzes zu kennen.
Das zeigt, wie beschränkt wir Beethoven heute wahrnehmen. „Für Elise“, ein Werk, das jeden Klavierschüler auf seinem Weg begegnet, ist auch in den Medien sowie als musikalische Hintergrundberieselung präsent und zeigt auf, wie sehr Beethoven heutzutage unterschätzt und wahrgenommen wird.
In Vergessenheit gerät seine Genialität auch deshalb, weil heute nur noch wenige Orchester wissen, mit seinen Meisterwerken etwas anzufangen. Man sagt sich einfach: Die 5. Sinfonie wurde tausende Male eingespielt – was soll man mit dem Stück noch machen? Aber mit einer solchen Einstellung wird man keinem Komponisten gerecht. Denn wir müssen ihn immer wieder neu entdecken und uns frei machen von all den »Belastungen«, die uns die Musikgeschichte und Aufführungspraxis hinterlassen haben. Dazu gehört leider auch der Versuch, Beethoven in die authentische Ecke zu stellen. Historische Aufführungspraxis unternimmt den Versuch, seine Zeit in der heutigen akustisch und stilistisch widerzuspiegeln.

Aber die damaligen Gegebenheiten waren Beethoven und seinen Visionen ja absolut hinterher. Er hat seiner Zeit weit vorausgedacht und das Orchester seiner Zeit überhaupt nicht als adäquat empfunden. Denn die Orchester der Beethoven-Epoche waren kaum größer als zur frühen Mozart-Zeit. Wie kann man da die 5. Sinfonie in ihrer ganzen Kraft und mit ihrer neuartigen Bläserinstrumentation angemessen darstellen? Er hatte gar nicht mehr Mittel zur Verfügung. Ein „historisch“ angepasstes Beethoven-Orchester wird dem zeitgenössischen Beethoven des 19. Jahrhunderts überhaupt nicht gerecht. Solche Versuche tragen noch dazu bei, dass sich eher die Spezialisten intensiv mit seinem Schaffen auseinandersetzen.
Da wären die zahlreichen Beethoven-Veranstaltungen, die leider durch Corona ausgefallen sind, eine Chance gewesen, den wahren Beethoven zu zeigen…
Ja, aber selbst ohne die Pandemie wäre es wohl schwierig geworden. Ich bin überzeugt davon, dass sich einige Orchester da etwas vorgenommen haben. Allerdings gab es das in den vergangenen Jahrzenten ja immer wieder. Es ist nicht einfach, einen Akzent zu setzen, der sich wesentlich vom normalen Konzertleben abhebt. Sinnvoll wäre es, wenn wir uns mehr mit dem Menschen Beethoven beschäftigen. Der war einsam und hatte es durch seine raue Natur und sein ungewöhnliches Erscheinungsbild in der Gesellschaft nicht leicht. Und damit auch musikalisch nicht.
Außerdem hat er bereits in jungen Jahren mit 32 langsam sein Gehör verloren – und das ist sein Kapital als Musiker! Aber ja, in diesem Jahr ist alles anders und selbst wenn es legitime Anstrengungen gab, Beethoven den Platz einzuräumen, den er sich verdient, hat es dieses Jahr nicht sollen sein. Aber ob man nun seinen 250. oder 251. Geburtstag feiert – es ist nie zu spät, sich mit ihm und seinen Kompositionen zu beschäftigen.
Beethoven galt zeit seines Lebens auch als Perfektionist, der seine Partituren immer wieder bearbeitet hat. Ist das ein Aspekt, der es den heutigen Musikern nicht so ganz leicht macht, ihn zu verstehen und darzubieten?
Ich glaube nicht, dass seine Arbeitsweise die Auseinandersetzung mit seinen Partituren erschwert. Sicherlich hat er ganz anders geschrieben als etwa Mozart, der in wenigen Tagen fehlerfrei ein Werk zu Papier gebracht hat und kurz vor der Aufführung den Musikern aufs Pult gelegt hat. Beethoven hat es Kraft und Mühe gekostet, zu dieser Vollendung der Form zu gelangen. Auf dem Gebiet der Sinfonik hat er aber tatsächlich Neuland entdeckt – und somit konnte er sich gar nicht an Existierendem halten.
Sein großer musikalischer Einfluss begann auch nicht in seiner Zeit in Deutschland am Rhein, sondern erst mit seinem Umzug nach Wien, wo er von Josef Haydn gelernt hat. Dessen späte klassische und humorvolle Sinfonik hat den frühen Beethoven beeindruckt. In seiner ersten Sinfonie war das noch ein bisschen präsent, in der zweiten und allen folgenden hat er das aber beständig weiterentwickelt. Er war nicht nur Perfektionist, sondern hat auch ein großes Stück Arbeit für die musikalische Form geleistet.
Wie ist seine einzige Oper „Fidelio“ in sein Gesamtwerk einzuordnen? Warum ist es bei einer Oper geblieben?
Es ist für uns alle unglaublich schwer vorstellbar, wie es einem Mann gehen muss, der Stück für Stück sein Gehör einbüßt. „Fidelio“ oder auch der Schlusssatz der 9. Sinfonie stellen technisch gesehen höchste Anforderungen an die Gesangstimmen. Soprane und auch die Tenöre sind in einer Lage geführt, die eine nahezu unmenschliche Kraftanstrengung verlangen. Eine Geige kann immer mal schnell in die obere Oktave springen. Die Instrumente des Orchesters lassen sich leichter durch den gesamten Tonumfang führen als die Sängerinnen und Sänger.
In seinem späteren kompositorischen Schaffen hat Beethoven die menschliche Stimme wie ein solches Instrument behandelt. Das hat dazu geführt, dass diese Werke für Chor und Solisten bis heute eine unglaubliche Herausforderung darstellen. Aber der „Fidelio“ zeigt sein Bemühen auf, auch hier über die Szenenoper hinaus sinfonische und musikalisch eigenständige Abschnitte zu schaffen. Das ist eine Errungenschaft der Beethoven’schen Zeit, auch wenn er nicht viel für die Opernbühne geschrieben hat.
Wie ist es möglich, trotz Schwerhörigkeit bzw. Taubheit solche Werke zu schaffen?
Die starke Vorstellungskraft, die er in jungen Jahren erlernt hat, hat offensichtlich gereicht, um das innere Ohr zu behalten. Er kannte die Wirkung auf das menschliche Bewusstsein und so konnte er Modulation, Struktur und Kontraste im Stück in einer Art ausarbeiten, die unglaublich geschlossen und kraftvoll im Beethoven’schen Sinne sind. Das ist auch für mich unerklärlich. Und ein Wunder der menschlichen Natur.
Welche Rolle spielen Bläser bei Beethoven?
Bläser spielen eine fundamental wichtige Rolle. Mozart hatte sich ja darum bemüht, die Klarinette ins Orchester zu integrieren. Sie wurde in Wien zu Beethovens Zeit bereits als normal empfunden. Der Bläsersatz wurde dann von zwei auf vier Hörner kontinuierlich erweitert, die Posaunen etablierten sich ebenfalls im Orchester. Natürlich hat das Mozart schon in der „Zauberflöte“ und im Requiem gehabt, aber Beethoven hat die Posaune zunehmend ernster genommen und auch den vollen Holzbläsersatz mit Verdopplungen als Standard eingeführt.
Er hat also nicht nur zwischen Klarinette und Oboe hin und her gewechselt, sondern wirklich das Quartett der Holzbläser verwendet. Beethoven hat durchaus den modernen Bläsersatz im Sinfonieorchester etabliert – mit Ausnahme von Saxofon und Tuba, die erst später erfunden wurden. Dieser Standard ist bis heute geblieben.
Er hat sich auch mit Militärmusik beschäftigt und einige Kompositionen für Blasorchester geschrieben. Dies hat sicherlich dazu beigetragen, dass sich die Harmoniemusik über Mendelsohn hinaus bis in die Romantik hinein gehalten hat und noch heute in der Form des sinfonischen Blasorchesters im musikalischen Leben des 21. Jahrhunderts eine so wichtige Rolle spielt.
Sind das bei Beethoven musikalische Gründe, die Bläser so hervorzuheben? Mozart hat ja auch etwa für die Klarinette komponiert, weil er mit Anton Stadler bekannt war.
Beethoven hat wahrscheinlich seinen Beitrag zur Instrumentenentwicklung nicht in dem Sinne geleistet, wie Mozart für die Klarinette. Aber er hat die Bläser voll im Orchester etabliert, ihre Möglichkeiten erkannt und das Potenzial der neuen Klangfarben wahrgenommen. Er hat dadurch auch die dynamischen Expansionsmöglichkeiten seiner eigenen Kompositionen besser repräsentiert gesehen. Deshalb ist der Bläsersatz ein substanzieller Gegenpart zum Streichorchester geworden und bis heute geblieben.
Übrigens, Johann de Meij hat mit seiner Collage „Extreme Beethoven“ einen wichtigen Beitrag geleistet, dass auch im Blasorchester die Menschen mit Beethoven in Kontakt gekommen sind. Das ist ein legitimer Ansatz dieser Komposition. De Meij hat es verstanden, die Beethoven’schen Klangfarben orchestral darzustellen. Instrumentatorisch eine fantastische Leistung.
Gibt es denn sonst gute Bearbeitungen von den Werken Beethovens für Blasorchester?
Ich persönlich habe solche kaum kennengelernt. Wenn man sich etwa mit dem zweiten Satz der 7. Sinfonie beschäftigt, ist das kritisch bei Beethoven, weil wir nur einen Satz aus dem formalen musikalischen Kontext herausnehmen. Denn so versteht man das Gesamtwerk nicht. Allerdings: Abwegig finde ich die Idee von Bearbeitungen für Blasorchester gerade bei Beethoven nicht.
Dann bedanke ich mich für das Gespräch und beende es mit der Aufforderung an die Lest, Repertoire-Vorschläge zu machen! Gibt es gute Bearbeitungen von Beethoven für Blasorchester?
Markus Theinert war Dirigent der Mannheimer Bläserphilharmonie und in Mannheim auch Professor für Dirigieren. Heute ist er – nachdem er 23 Jahre bei der Firma tätig Miraphone war – Vice President-Marketing beim US-amerikanischen Instrumentenbauer Conn-Selmer. Für CLARINO hat er viele Jahre lang Theinert Thema beigesteuert. Er ist unter theinert@brawoo.de erreichbar.