Die Playlist im Smartphone, die CD-Sammlung oder regelmäßiges Musizieren können einen ganzen Medikamentenschrank ersetzen. Denn Musik verbessert unser Wohlbefinden, unsere Stimmung, unsere Konzentration, unsere Widerstandskraft. Über Musik als Selbsttherapie.
Ständig werden wir von Musik emotional beeinflusst und manipuliert. Ob im Supermarkt, im Einkaufszentrum, im Café oder im Flughafen – die Beschallung mit Musik soll uns bei Laune halten, zum Konsum animieren, unseren Ärger vertreiben, unsere Nervosität dämpfen, uns das Gespräch erleichtern oder allgemein unseren Aufenthalt angenehm machen. Musik in Werbespots will unsere Aufmerksamkeit bannen und die Kraft der Bilder verstärken. Musik in der Warteschleife will uns das Warten verkürzen oder dem Warten zumindest einen Inhalt geben. In der Adventszeit bringen uns die Melodien der Weihnachtslieder in festliche Stimmung. Bei der olympischen Siegerehrung erhöhen die Nationalhymnen unsere Ergriffenheit. In Spielfilmen führt uns der Soundtrack durch ein Wechselbad von Romantik, Fröhlichkeit und Spannung.
Doch wir werden nicht nur manipuliert – wir manipulieren uns auch selbst. Bei vielen Tätigkeiten wünschen wir uns Musik, um uns abzulenken, uns die Zeit zu verkürzen, uns in Stimmung zu bringen oder uns besser konzentrieren zu können. Im Auto schalten wir das Radio an, damit uns nicht langweilig wird. Auf dem Fitness-Trainer hören wir unsere Lieblingsmusik, um uns zu motivieren. Beim Candlelight-Dinner wollen wir mit Musik in festliche oder romantische Stimmung kommen. Bei der Hausarbeit reagieren sich manche mit Heavy-Metal-Musik ab. Andere können sich vor dem Computer mit Barockklängen besser fokussieren. Viele Musiker beginnen den Tag mit einer Übungs-Routine, um sich wohlzufühlen. Durch Musik können wir uns entspannen oder unsere Aufmerksamkeit steigern, etwas Unangenehmes verdrängen oder uns in einen kleinen Rausch steigern. So wie wir morgens eine Dusche brauchen, um richtig wach zu werden, oder nachmittags eine Tasse Kaffee, um nochmals durchzustarten, so setzen wir auch Musik für unser physisches und psychisches Wohlergehen ein.
Die akustische Prothese
Der britische Musikwissenschaftler Michael Spitzer vergleicht uns daher mit DJs, die den Soundtrack des eigenen Lebens zusammenstellen. “In unseren Köpfen regelt Musik unsere Stimmungen, Erinnerungen und Identitäten”, sagt Spitzer. “Von dem Augenblick an, da uns unser Smartphone mit einer kuratierten Playlist weckt, hat jeder Augenblick des Tages – die Fahrt zur Arbeit, die Arbeit selbst, ebenso wie Einkaufen, Essen, Spiel und Sport – einen Soundtrack. Diesen können wir selbst wählen, um zu regulieren, wie wir uns fühlen, wie wir wirken und andere wahrnehmen, wie wir gehen und sogar, wie wir denken – wie ein rezeptfreies Medikament. […] Wir können sein, wer immer wir auch wollen, und die Musik hilft uns dabei wie eine akustische Prothese oder ein hautenges Exoskelett. […] Selbst im eigenen Heim ist die Musik geschäftig. Sie kann ein Werkzeug der Innenarchitektur sein, indem sie wie Duftkerzen oder eine atmosphärische Beleuchtung die Stimmung beeinflusst.”
Diese emotionale “Selbstregulierung” durch Musik wurde erstmals ausführlich von der Musiksoziologin Tia DeNora beschrieben. Sie nennt die Art, wie wir Musik für unser physisches und psychisches Wohlergehen einsetzen, eine “Technologie des Selbst”. Die meisten von uns wissen nämlich ganz genau, welche Musik ihnen in welcher Situation gut tut. Im Grunde sind wir – bewusst oder unbewusst – unsere eigenen Musiktherapeuten und Musikheiler. Der Musikphilosoph Matthias Vogel schreibt: “Musik kann sich als etwas herausstellen, das energetisierende, beruhigende, fokussierende oder euphorisierende Effekte zeigt; und wir Rezipienten [oder auch Musikausübende], die wir ein Wissen über ebensolche Effekte auf uns selbst erworben haben, können Musik instrumentell zur erneuten Herstellung dieser Effekte nutzen.” Vogel nennt dies ein “quasi-pharmakologisches Wissen”, also vergleichbar mit dem gezielten Einsatz von Medikamenten.
Emotionen kanalisieren
Die “pharmakologische” Wirkung von Musik setzen wir besonders dann ein, wenn wir melancholisch oder depressiv sind. Der Musikpsychologe Stefan Kölsch empfiehlt, bei negativen Stimmungen aufmunternde Musik zu hören. Doch häufig ist uns in melancholischer Stimmung überhaupt nicht nach fröhlichen Klängen zumute. Denn im Grunde wollen wir unsere Niedergeschlagenheit gründlich »durchleben« und »abarbeiten« – wir suchen daher traurige Musik als eine Art Ableitung oder Kanalisierung unserer Emotionen. Die Erfahrung lehrt, dass uns jede Art von Musik glücklich(er) macht, weil sie sich unsere Aufmerksamkeit »krallt« und uns etwas anderes erleben lässt. Sind wir niedergeschlagen und antriebslos, bietet uns Musik eine innere Aktivität, einen Ersatz-Antrieb. Oft wählen wir in solchen Situationen auch Musikstücke, die mit Erinnerungen verbunden sind. Und es ist ziemlich gleichgültig, ob es sich um fröhliche oder um wehmütige Erinnerungen handelt. In jedem Fall relativieren und schwächen solche Erinnerungen unseren niedergeschlagenen Jetzt-Zustand.
Eine große Bedeutung hat dieser “psychohygienische” Effekt von Musik in den emotionalen Wirren der Pubertät. Familiäre Konflikte, Stress in der Schule, Probleme mit der Peer Group, erster Liebeskummer – dieser Wust von Gefühlen ist von Jugendlichen rational und verbal kaum zu bewältigen. Psychosomatische Beschwerden oder Verhaltensauffälligkeiten sind dann oft die Folge. Die Beschäftigung mit Musik – aktiv am Instrument oder aktiv als Fan und Zuhörer – kann hier helfen, eine Traumatisierung zu vermeiden. Unbewältigte Emotionen, Verständnislosigkeit und Wut werden in die Musik projiziert und über sie abgeleitet. Viele Jugendliche, so schreibt Stefan Kölsch, “fühlen sich in der Musik verstanden, können mit eigener Musik bzw. eigenen Songs Probleme bearbeiten, sich ablenken oder einfach Trost finden. Die Musik, die in jener schwierigen Zeit geholfen hat, kann später im Leben besonders gut trösten.”
Positive Gedanken
Manchen unter uns hilft es schon, wenn sie sich konzentriert mit Musik beschäftigen können, ein Musikstück einüben oder es gründlich studieren und hören. Der Mitvollzug von Musik kann manchmal so intensiv sein, dass er alle Emotionalität und Erlebniskraft bindet und keinen Raum lässt für Melancholie oder Verzagtheit – der Tag ist gerettet. Stefan Kölsch nennt das eine Konzentration auf die musikalische Struktur. Er rät: “Hören Sie bewusst, wie Phrasen anfangen, weitergesponnen werden und zu Ende gehen. Hören Sie dabei auch, wie erwartet oder unerwartet sich die musikalischen Ereignisse anhören; dies geht oft besonders gut, wenn man die Melodie innerlich mitsingt – selbst wenn man das Stück gar nicht kennt! Folgen Sie dem Spannungsbogen der Musik und erspüren Sie Ihre emotionalen Reaktionen darauf. Wenn Ihre Gedanken von der Musik abschweifen, lenken Sie sie zurück auf die Musik. So können Sie Ihren Geist auch für eine Weile von negativen Gedanken bzw. negativen Gedankenschleifen befreien. Genießen Sie die Entspannung und innere Ruhe, die bei einer solchen Konzentration auf Musik entsteht.”
Aber auch ohne solchen Enthusiasmus für die musikalische Struktur lässt sich Musik als therapeutisches oder heilendes Werkzeug einsetzen. In seinem Buch “Good Vibrations” hält Stefan Kölsch dafür viele gute Ideen bereit. Er schlägt etwa vor, Musikstücke, die uns beflügeln, immer parat zu haben – zum Beispiel als Playlist im Smartphone. Kölsch rät: “Bringen Sie sich durch emotionale Ansteckung von Musik in eine positive Stimmung bzw. stärken Sie dadurch Ihre positive Stimmung. Nutzen Sie etwa Musik morgens regelmäßig gleich zum bzw. nach dem Aufstehen und mehrere Male über den Tag.” Kölsch glaubt an die Kraft des positiven Denkens – daher sollte man positive Musik und positive Gedanken am besten miteinander kombinieren. Dafür empfiehlt es sich, auf einem Zettel gute Erinnerungen und eigene Stärken aufzulisten, die man dann bei aufmunternder Musik (laut) lesen und bedenken kann.