Als Belgierin ist Annelien Van Wauwe inmitten prachtvoller Jugendstil-Architektur aufgewachsen. Diese Ära lässt die Klarinettistin in ihrem Debütalbum „Belle époque“ aufleben, das ihr einen „Opus Klassik“ einbrachte. Antje Rößler traf Annelien Van Wauwe in Berlin.
Von ihrer tollen Atemtechnik, die sie nicht zuletzt dem Yoga verdankt, kann man sich auch auf YouTube überzeugen: Dort präsentiert sie Yoga-inspirierte Aufwärmübungen für Musiker. Derzeit komponiert Wim Henderickx ihr ein Konzert auf den Leib, das Mediation und Atemübungen einbezieht. Außerdem widmet sich die Klarinettistin ihrem eigenen Kammermusik-Ensemble „Carousel“, das elf Musiker aus sechs Ländern vereint.
Frau Van Wauwe, 2020 ist von der Pandemie überschattet. Wie erleben Sie dieses ungewöhnliche Jahr?
Zum Glück hatte ich im Januar und Februar etliche große Auftritte mit Orchester. Da passte es mit der Zwangspause zeitlich ganz gut. Während des Lockdown im Frühjahr habe ich geübt, neue Stücke einstudiert, aber auch online unterrichtet. Ich wollte unbedingt für meine Studenten da sein. Ich hatte eigentlich noch viel mehr Pläne; aber dann war der Lockdown schon vorbei…
Sind Sie als Künstlerin in den sozialen Medien sehr aktiv?
Bis vor zwei Jahren war ich eher skeptisch, mich dort zu präsentieren. Aber dann habe ich es einfach mal ausprobiert mit Instagram. Man kann da sehr kreativ und individuell sein. Ich merke, wie sehr das Publikum dies schätzt. Gerade in der Corona-Krise ist es so schön zu erleben, wie die Zuhörer uns treu bleiben.
Haben Sie in den vergangenen Monaten auch Streaming-Konzerte gegeben?
Ja, aber das ist für mich eher ein fauler Kompromiss. Die Verbindung zum Publikum fehlt. Und die Ton- und Bildqualität sind meist auch nicht so toll. Ich habe allerdings auf YouTube eine Reihe von Videos mit Übungen zum Aufwärmen und Einspielen unter dem Titel „Wauw! Warm up“ veröffentlicht. Dafür bekam ich ein tolles Feedback.
Diese Übungen beinhalten auch Yoga-Elemente. Wie sind Sie dazu gekommen?
Die ersten Yoga-Kurse habe ich als Studentin besucht. Zuerst in Lübeck, dann in Berlin, wo die Hochschule mit dem Centrum für Musikermedizin zusammenarbeitet. Die haben ein tolles Kursangebot: von Alexandertechnik bis zu Atemübungen, und eben auch Yoga; das habe ich alles ausprobiert.
Jetzt habe ich in Brüssel gerade eine Ausbildung zur Yogalehrerin abgeschlossen. Da ging es auch um Anatomie. Für Bläser ist es sehr hilfreich, zu wissen, wie die Atmung funktioniert, welche Muskeln man dazu braucht und wie man die Atemtechnik verbessern kann. Im Musikstudium wird dieses Thema ziemlich vernachlässigt. Ich kann es kaum erwarten, dass ich Musikern oder meinen Studenten wieder Live-Yoga-Stunden geben kann.
Wie hat die Yoga-Praxis Ihr Spiel beeinflusst?
Da haben sich viele Dinge verändert. Das Dehnen macht Platz im Körper, mein Körperbewusstsein hat sich verbessert, mein Ton hat sich entwickelt. Vor großen Auftritten kann ich mich besser konzentrieren. Lampenfieber ist natürlich immer da, aber ich kann körperlich gut damit umgehen. Ich übe auch effizienter als früher. Vielleicht sogar weniger, weil sich das richtige instrumentale Gefühl schneller einstellt.
Yoga und Konkurrenzgedanken passen nicht zusammen. Nehmen Sie trotzdem an Musikwettbewerben teil?
Das habe ich lange nicht mehr gemacht. Der ARD-Musikwettbewerb 2012 in München war mein letzter. Da hatte ich mir aber schon vorgenommen, mit den Wettbewerben aufzuhören, wenn ich einen Preis gewinne. Damals hat mich die Konkurrenz durchaus belastet. Heute würde ich wahrscheinlich anders rangehen: dass es um die Musik geht, und nicht um den Erfolg.
Wo wohnen Sie eigentlich?
Ich pendle zwischen Berlin und Brüssel, reise aber auch sonst normalerweise extrem viel. Alle zehn Tage unterrichte ich in Den Haag, alle zwei Wochen in Antwerpen. Eigentlich hätte ich vor kurzem auch anfangen sollen, in Madrid zu unterrichten. Das ist mir aber in der derzeitigen Situation zu kompliziert. Bei meinen Konzert-Auftritten versuche ich immer, etwas länger zu bleiben, damit ich vor Ort auch etwas sehen kann. Es beeinträchtigt mich sehr in der Corona-Krise, dass ich nicht problemlos reisen kann.
Das Unterrichten ist also für Sie nicht nur Plan B?
Absolut. Ich freue mich sehr, dass ich das Unterrichten für mich gefunden habe. Dabei lerne ich selbst sehr viel. Und ich mag den engen zwischenmenschlichen Kontakt.
Wie haben Sie die Klarinette für sich entdeckt?
In Belgien gibt es tolle Musikschulen, die auch nicht teuer sind. Ich habe immer gern gesungen und wollte ein Instrument spielen, das der menschlichen Stimme ähnelt. An der Klarinette hat mich auch das Aussehen fasziniert. Als ich damit anfing, war ich sieben. Als Kind habe ich gern geübt, weil ich mich damit vor dem Abwaschen drücken konnte. Meine Mutter hat immer gesagt: „Entweder spülen oder spielen!“
Wann wussten Sie, dass Sie Profi-Musikerin werden wollen?
Das war mir schon mit 14 klar. Ich habe auch viel Leistungssport gemacht, Leichtathletik. Dann hatte ich Verletzungen und konnte nicht mehr an Wettkämpfen teilnehmen. Aus Frust habe ich umso mehr Klarinette geübt und dachte mir: Damit kann ich doch auch an Wettbewerben teilnehmen.
Inwiefern hat die Teilnahme an Wettbewerben zu Ihrer Karriere beigetragen?
Der Preis beim ARD-Musikwettbewerb führte zu viel Aufmerksamkeit und zahlreichen Auftritten. Danach wurde ich »BBC New Generation Artist« in London. Ich war sehr oft in England und konnte mit vielen wichtigen Orchestern spielen. Dabei habe ich wahnsinnig viel gelernt; zum Beispiel, wie man gute Tonaufnahmen macht. Als Sahnehäubchen kam dann 2018 der „Borletti Buitoni Trust Award“ in London obendrauf. Dessen Stiftung hat bei dem belgischen Komponisten Wim Henderickx ein Klarinettenkonzert für mich in Auftrag gegeben. Es trägt den Titel „Sutra“.
Das klingt nach Yoga.
Es werden Elemente aus Meditation, Yoga-Philosophie und sogar Pranayama, den Atemübungen, integriert. Zum Beispiel wird man die Orchestermusiker atmen hören. Es gibt aber auch viel Electronics. Genau weiß ich das aber nicht; das Werk entsteht ja gerade erst. Es soll Mitte nächsten Jahres fertig sein. Dann ist eine Einspielung mit der NDR Radiophilharmonie Hannover unter Andrew Manze geplant, in Kombination mit Mozarts Klarinettenkonzert. Der Komponist will sicherheitshalber eine Corona-Version schreiben, damit wir das Stück notfalls in kleinerer Besetzung aufnehmen können.
Im Herbst wurden Sie als „Nachwuchskünstlerin des Jahres“ mit einem „Opus Klassik“ für das Album „Belle époque“ ausgezeichnet. Haben Sie selbst die Stücke dafür ausgewählt?
Ja. Als Belgierin bin ich in einem Land voller traumhafter Jugendstil-Häuser aufgewachsen. Auf der CD wollte ich die Musik aus dieser Periode in ihrem goldenen Glanz erstrahlen lassen. Als erstes habe ich mich für die „Rhapsodie“ von Debussy entschieden, eines meiner Lieblingsstücke, das ich schon oft gespielt habe. Dann suchte ich nach Werken, die dazu passen.
Dabei handelt es sich um Kammermusik, die für Orchester bearbeitet wurde.

Ich habe das Album zusammen mit dem Orchester aus Lille unter Alexandre Bloch eingespielt. Gabriel Piernés „Canzonetta“ ist eigentlich ein Stück für Klarinette und Klavier, das ich vom jungen flämischen Komponisten Jelle Tassyns bearbeiten ließ. Jelle hat auch das Rondo von Charles-Marie Widor bearbeitet. Das Album enthält außerdem die Erste Klarinettensonate von Brahms in einer tollen Orchesterfassung von Luciano Berio. All das kombiniere ich mit zeitgenössischer Musik, einer traumhaft schönen und unglaublich schwer zu spielenden Rhapsodie von Manfred Trojahn. Der Anfang dieses Stücks ähnelt Debussys Rhapsodie wirklich sehr.
Spielen Sie eine Klarinette mit dem französischen Boehm-System?
Im Prinzip ja, aber im Detail wähle ich immer, was für mich am besten passt. Ich habe mir Klappen anbauen lassen, die von der deutschen Klarinette kommen. Meine Birne und der Becher wurden in Deutschland hergestellt, das Mundstück kommt aus Amerika. Das Ergebnis ist eine Mischform. Mir ist es wichtig, meinen eigenen Sound zu finden. Ich habe auch historische Klarinette studiert und kenne dadurch viele Griffe aus dem deutschen System.
Wie behauptet man sich mit der französischen Klarinette im deutschsprachigen Raum?
Nur in den österreichischen und deutschen Orchestern verwendet man das deutsche System. Es ist schon absurd: Ich darf als Solistin mit einem deutschen Ensemble auftreten, nicht aber als Orchestermusikerin. Professoren in Deutschland spielen mit dem deutschen System, obwohl fast alle ihre ausländischen Studenten das französische System verwenden. Die ausländischen Klarinettisten können zwar in Deutschland studieren, haben hier aber als Orchestermusiker keine Zukunft.
Aber deutsche und französische Klarinette unterscheiden sich doch auch im Klang.
Das wird überbewertet. Man hat Blind-Tests durchgeführt und Klarinettisten nach ihren Höreindrücken gefragt. Da haben sich viele geirrt. Es gibt auf beiden Seiten manchmal Vorurteile: in Deutschland gegenüber der französischen Klarinette, im Ausland gegenüber der deutschen Klarinette.
Dabei verstehe ich es vollkommen, dass man die Tradition der deutschen Klarinette erhalten will, zumal es hier sehr gute Instrumentenbauer gibt. Ich selbst gehe immer zu einem deutschen Instrumentenbauer. Holland schottet sich zum Glück nicht ganz ab. Dort gibt es die Reform-Boehm-Klarinette mit deutscher Bohrung, deutschem Mundstück, deutschem Blatt, aber Boehm-Griffsystem.
Was sollte sich Ihrer Meinung nach ändern?
Ich würde mir wünschen, dass man mit den Unterschieden weniger pedantisch umgeht, auch für meine eigenen Studenten. Es sind doch alles Klarinetten! Der Klang wird vor allem von der Persönlichkeit des Musikers geprägt. Die Grenzen sind sowieso fließend, das ist doch wunderbar. So habe ich neulich erfahren, dass die jüngere Generation deutscher Klarinettisten gern auf französischen Mundstücken spielt.
Könnte man umlernen und das System wechseln?
Das ist ein riesiger Aufwand und dauert mindestens ein Jahr. Es gibt etliche Klarinettisten, die das schafften und heute gute Stellen in Deutschland haben. Ich habe das selbst mal in Erwägung gezogen. Vor dem ARD-Wettbewerb sagte ich mir: Wenn ich einen Preis gewinne, bleibe ich bei der französischen Klarinette. Anderenfalls hätte ich umgelernt und mich bei deutschen Orchestern beworben.
Dann wurden Sie doch Solistin, aber Sie leiten auch das eigene Kammermusik-Ensemble „Carousel“.
Wir sind elf Leute und können als gemischtes Ensemble jede Besetzung zwischen Trio und Oktett anbieten. Neulich ist mir aufgefallen, dass wir fünf ARD-Preisträger in unseren Reihen haben. Schuberts Oktett steht natürlich oft auf dem Programm; das kombinieren wir gern mit dem Oktett von Jörg Widmann. Wir haben auch ein sehr schönes Septett-Programm mit impressionistischer und Neuer Musik zusammengestellt – für Harfe, Flöte, Klarinette und Streichquartett.
Wie steht es um Ihr Ensemble in Zeiten der Pandemie?
Im Sommer haben wir uns zusammen in Belgien ein Ferienhaus gemietet, um zu proben. Das war etwas ganz Besonderes, weil die meisten von uns seit März keine Auftritte mehr hatten. Im Herbst haben wir dann eine Tournee gemacht; alle sieben Konzerte konnten stattfinden. Wenn Veranstalter absagten, haben wir uns einfach selbst eine Kirche gemietet. Ich übernehme bei „Carousel“ auch das Management. Die anderen nennen mich „Chefin“. (lacht) Es gefällt mir, mit Veranstaltern direkt in Kontakt zu sein. Das geht schneller und ist irgendwie auch menschlicher.
Sie sind wirklich sehr vielseitig!
Das Musik-Management interessiert mich sehr. Wenn ich nicht mehr musizieren könnte, würde ich das vielleicht machen – oder Yoga-Lehrerin werden. Mode-Design oder Innenarchitektur fände ich aber auch spannend.
