Der Bassist Charles Mingus (1922 bis 1979) gehörte zu den provokantesten und eindrucksvollsten Bandleadern der Jazzgeschichte. Was er von seinen Bläsern forderte, vor allem von den Saxofonisten, war nicht weniger als äußerste Leidenschaft und ekstatische Explosivität.
Seine Ambitionen waren immer gewaltig. Schon in jungen Jahren träumte er davon, Jazz in ganz neue Größenordnungen zu übersetzen. Eines seiner Frühwerke hieß „The Chill Of Death“ – es war inspiriert von Richard Strauss’ Tondichtung „Tod und Verklärung“. Ein anderes trug den Titel „Half-Mast Inhibition“ – für die Umsetzung (1960) brauchte es unter anderem 18 Bläser und einen Dirigenten. Alle paar Jahre versuchte Mingus, seine höchsten Ambitionen in besonderen Projekten zu verwirklichen. Da die Rahmenplanung ihn aber schon viel Energie kostete, litten diese Unternehmungen dann meist unter Zeit- und Personalmangel.
Mingus benötigte etliche Helfer für Arrangement, Orchestrierung und Dirigat
Für das hochfliegende „Town Hall Concert“ 1962 hatte Mingus 20 Stücke und mehr als 30 Musiker vorgesehen – er nannte das Gesamtpaket „Epitaph“. Die Stücke darin waren zum Teil über Jahrzehnte „angewachsen“, aber Mingus wünschte sich immer noch mehr Stimmen und Schichten dazu. Weil das Stimmenkopieren gar nicht mehr zu schaffen war, kam es sogar zu einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen Mingus und seinem Posaunisten Jimmy Knepper. Knepper verlor dabei einen Zahn und fiel als Posaunist damit aus. Noch beim Konzert saßen Kopisten auf der Bühne und stellten die letzten Stimmen fertig. Aber was heißt hier „Konzert“? Die Aufnahmesession war eine öffentliche Probe – und alles Mögliche ging schief. Erst rund 30 Jahre später hat der Dirigent Gunther Schuller dieses „opus maximum“ unter besseren Bedingungen eingespielt („Epitaph“).
Ein anderes von Mingus’ Großprojekten war das ambitionierte Studioalbum „Let My Children Hear Music“ von 1971. Auch bei diesem Unternehmen mit geradezu sinfonischer Besetzung benötigte Mingus etliche Helfer für Arrangement, Orchestrierung und Dirigat. Viele Motive mussten dabei von den Mitarbeitern erst erschlossen werden. Der Arrangeur Sy Johnson erzählt: „Mingus wollte, dass ich Schichten um Schichten über die Musik legte. Einen Part sang er mir vor, einige seiner Nebenmelodien legte ich in den Hintergrund und fürs Blech transkribierte ich eine Klavierstimme aus einer früheren Aufnahme.“ Einen Überblick über die Arbeitsvorgänge und die jeweiligen Besetzungen hatte am Ende niemand mehr. Mingus war aber ausnahmsweise zufrieden: „Das ist mir unter allen meinen Alben das liebste.“
Zornige Ausbrüche
Abgesehen von solchen Großprojekten standen Mingus im Normalfall nur eine Handvoll Musiker zur Verfügung. Um seine ehrgeizigen Absichten zu erreichen, hat der Bassist seine Mitspieler stets zu einem Maximum an Leistung, Verdichtung und Energie angetrieben. Seine ersten Bands (um 1954) trugen den Namen „Jazz Workshop“ – es waren polyphone Experimente, noch ganz im Stil des „coolen“ Westcoast-Jazz. „Wir werden keine Changes spielen, wir werden einfach Moods spielen“, sagte Mingus einmal zu seinen Musikern. „Folgt mir einfach und bringt eure Moods ein.“ Schon in diesem Workshop-Labor arbeitete er mit mehreren Bläsern, um komplexe Strukturen möglich zu machen. Zu seinen frühesten Mitstreitern gehörten die Holzbläser John LaPorta, Teo Macero und George Barrow sowie der Trompeter Thad Jones.
Als der Hardbop aufkam (um 1956), wurde Mingus’ Musik kraftvoller, geerdet in Blues, Gospel und Rhythmus. In relativ kurzer Zeit entwickelte er die für ihn typische, fast gewalttätige Ensemble-Sprache mit expressiver Bläserfront. Entfesselte Bläsersoli, plötzliche Rhythmuswechsel, zornige Ausbrüche, dynamische Kontraste, wilde Intensität und dramatische Kollektiv-Improvisationen wurden charakteristisch für seine Bands. Weil Mingus von den Bläsern Spontaneität und Ausdrucksstärke erwartete, verweigerte er ihnen häufig geschriebene Noten und oft auch Akkordvorgaben.
„Vergiss Harmoniewechsel und Tonart! Alle Töne sind richtig!“ Oft spielte er seinen Musikern ihre Stimme nur vor und verlangte dann kreatives Ausgestalten. Während des Spiels redete und schrie er ständig hinein und spornte seine Solisten an. Weil die Performance durch seine Anfeuerung einen besonders dichten, explosiven Charakter bekam, hieß es unter den Musikern: „Ohne Mingus am Bass ist es nicht Mingus’ Musik.“ Als der Saxofonist Pepper Adams 1963 einmal ein eigenes Mingus-Album aufnahm, mischte sich Mingus persönlich ein. „Er rannte herum, raunte uns zu, was wir tun sollten. Er kam zu den Saxofonisten herüber und summte uns leise etwas vor: ‚Und das spielt ihr hier hinter der Posaune.'“
Mingus war ein anspruchsvoller Bandleader
Charles Mingus war ein anspruchsvoller Bandleader. Sein heftiges, zuweilen cholerisches Temperament bekamen nicht nur Produzenten, Veranstalter und Journalisten zu spüren, sondern auch seine Mitmusiker. Er provozierte und beleidigte seine Solisten, um sie emotional aufzupushen, und brüllte sie zu ekstatischen Höhepunkten. Seinen Altsaxofonisten Jackie McLean soll er sogar einmal beim Solo mit einem Revolver bedroht haben. Die Spannung in der Band entlud sich nicht selten in einer besonders prickelnden Performance. Als Mingus einmal nach längerer Krankheit zurückkam, hieß es: „Er ist wieder ganz der Alte. Eben hat er die Band angeschrien.“ Auf Tournee kündigte manchmal das halbe Personal der Band. Der Trompeter Ted Curson sagte: „Ich habe keinen Musiker erlebt, der keinen Ärger mit Mingus bekam. Ich war froh, als ich aus seiner Band raus war.“
Schreie auf dem Saxofon
Die Alben der Jahre 1956 bis 1961 gelten als die „Klassiker“ des reifen Mingus-Stils, darunter „Pithecanthropus Erectus“, „The Clown“, „Tijuana Moods“, „Blues & Roots“, „Ah Um“, „Mingus Dynasty“, „Oh Yeah“ oder „Tonight At Noon“. Zu Mingus’ Bläsern gehörten in dieser Zeit zum Beispiel die Trompeter Clarence Shaw und Bill Hardman, die Posaunisten Jimmy Knepper und Willie Dennis sowie die Saxofonisten J.R. Monterose, Shafi Hadi und John Handy. Starke Saxofonsolisten spielten bei Mingus stets die wichtigste Rolle. Von ihnen erwartete er äußerste Expressivität, ekstatische Höhepunkte, kreischende Extreme, spontane Einzigartigkeit. Der junge Jackie McLean, der das Altsaxofon mit einer bis dahin ungekannten Attacke und Härte blies, wurde von Mingus besonders „gefördert“. McLeans „Schreie“ auf dem Saxofon, etwa auf dem Album „Pithecanthropus Erectus“ (1956), wurden legendär. „Mingus wollte meine Persönlichkeit in meinem Spiel hören“, sagte McLean später. „Er gab mir das Gefühl, dass ich hinausgehen und auf der Bühne explodieren konnte.“
Auch „Rahsaan“ Roland Kirk oder Booker Ervin waren Saxofonisten von großer Kraft und ungebremster Vitalität. Von Kirk sagte man später, er trage sein eigenes spirituelles Kraftfeld auf der Bühne. Ervin wiederum besaß den robusten Sound der Texas-Shouter. Eine besondere Beziehung hatte Mingus zum Altsaxofonisten Eric Dolphy, den er seit seiner Jugend kannte. Dolphy spielte stets tonal provokant und außerdem mit berstender Intensität – er war der ideale Mingus-Solist. Von 1960 bis 1964 war Dolphy an mehreren Mingus-Alben beteiligt, aber auch er geriet immer wieder mit dem Bandleader aneinander. Dass Dolphy nach der legendären Sextett-Tournee 1964 die Band verließ und in Europa blieb, machte Mingus ausgesprochen zornig. Als Dolphy kurze Zeit später starb, fiel der Bassist aber in eine mehrere Jahre dauernde Depression: „Ich dachte, meine Karriere sei vorbei.“
Mingus und seine Saxofonisten
- Mit Jackie McLean (Altsaxofon)
- Pithecanthropus Erectus (1956)
- Blues & Roots (1959)
- Mit Shafi Hadi (Altsaxofon):
- The Clown (1957)
- Tijuana Moods (1957)
- Ah Um (1959)
- Mit John Handy (Altsaxofon):
- Jazz Portraits (1959)
- Blues & Roots (1959)
- AhUm (1959)
- Mingus Dynasty (1959)
- Mit Eric Dolphy (Altsaxofon u. a.):
- Pre-Bird (1960)
- Mingus (1960)
- At Antibes (1960)
- Mingus Presents Mingus (1960)
- Mingus Mingus Mingus Mingus Mingus (1963)
- Mit Booker Ervin (Tenorsaxofon):
- Jazz Portraits (1959)
- Blues & Roots (1959)
- Ah Um (1959)
- Mingus Dynasty (1959)
- Pre-Bird (1960)
- Mingus (1960)
- Oh Yeah (1961)
- Tonight At Noon (1961)
- Mit Roland Kirk (Tenorsaxofon u. a.):
- Oh Yeah (1961)
- Tonight At Noon (1961)
- Mit Charlie Mariano (Altsaxofon):
- The Black Saint And The Sinner Lady (1963)
- Mingus Mingus Mingus Mingus Mingus (1963)