Orchestra | Von Klaus Härtel

Das LYRIQ Ensemble und Alice im Wunderland

Lyriq
Foto: Luise Heinig

Das musikalische Antiquariat “LYRIQ-Ensem­ble” hat es sich zur Aufgabe gemacht, bekannte Schlüsselszenen aus Lewis Carrols Klassiker “Alice im Wunderland” zu vertonen. Auf der aktuellen EP werden fünf bekannte Stellen des Buches vorgetragen und danach vom siebenköpfigen Ensemble musikalisch nacherzählt. Die Stücke aus der Feder des Saxofonisten Sebastian Wagner fangen die verrückte Stimmung des Buches in einer breitgefächerten Stilvielfalt ein. Wir sprachen mit dem Komponisten und Saxofonisten Sebastian Wagner.

Sie wollten mit dem Projekt ein Konzertformat auf die Bühne bringen, “welches sich von anderen unterscheidet”. Was war der ausschlaggebende Grund?

Die Idee für das Projekt hatte ich im Laufe meines Studiums. Da muss man im dritten Jahr eine Prüfung machen, für die man ein Konzert auf die Beine stellen muss. Mir ging es damals schon darum, das ein bisschen anders zu machen als alle anderen meiner Studienkolleginnen und -kollegen. Ich wollte ein Alleinstellungsmerkmal haben. Ich hatte dann die Idee, literarische Werke zu vertonen. Als ich mir das Konzert dann so vorgestellt habe, dachte ich, ich würde wahrscheinlich viel auf der Bühne erklären müssen, was ich mir dabei gedacht habe. Und bevor ich Buchstellen und Szenen beschreibe, dachte ich, man kann das dann aber auch eigentlich einfach gleich vorlesen. So entstand ein Konzert mit Lesung.

Vor der aktuellen EP “Alice im Wunderland” haben Sie schon Sherlock Holmes, Moby Dick und Harry Potter auf die Bühne gebracht. Welche ersten Erinnerungen verbinden Sie mit der Literatur Lewis Carrols, Arthur Conan Doyles, Herman Melvilles und Joanne K. Rowlings?

Meine erste Erinnerung an “Alice im Wunderland” ist mit dem Zeichentrickfilm von Disney aus dem Jahr 1951 verbunden. Den habe ich als Kind sehr oft mit meiner Mutter gesehen. Mich hat damals schon die Musik sehr beeindruckt und auch beeinflusst. Es gibt da ein paar Stücke, die ich als Kind immer beim Malen oder im Kindergarten vor mich hin geträllert habe. 

Das allererste Buch, das ich alleine gelesen habe, war dann Harry Potter: “Die Kammer des Schreckens”, der 2. Band. Ich weiß noch, wie ich damals auf der Rückbank im Auto saß und das quasi verschlungen habe. 

Wenn man diese Bücher liest, gerade in Vorbereitung auf die Projekte, erklingt dann währenddessen schon so eine Art Filmmusik im Kopf?

Ja, genau so ist es. Da entsteht eine filmmusikalische Atmosphäre, die ein bisschen vor sich hin wabert. Manche Kapitel habe ich dann auch öfter gelesen – denn Alice im Wunderland ist nicht immer ganz einfach zu lesen. Man hat ein bisschen das Gefühl, dass der Autor manchmal mit seinen Gedanken abschweift, wie die Figur Alice auch. Da kann es dann schon mal vorkommen, dass sich eine Figur oder eine Szene auch musikalisch noch einmal verändert.

Lyriq
Sebastian Wagner (Foto: Luise Heinig)
Gerade weil es bekannte Werke sind, gibt es auch schon Verfilmungen – mit Filmmusik. Inwieweit ist diese Filmmusik Inspiration? Oder kann sie, ganz im Gegenteil, bei Kompositionen sogar eher hinderlich sein?

Es ist beides. Es ist sehr viel Inspiration dabei aber auch oft ein Hindernis. Um beim Beispiel von Harry Potter zu bleiben: Ich habe eine dreiteilige Voldemort-Suite geschrieben, in der ich den Bösewicht beleuchte. Hier habe ich drei Stufen seines Lebens vertont: seine Kindheit im Waisenhaus, seine Zeit als Schüler in Hogwarts und schließlich sein Versuch als Erwachsener, Hogwarts einzunehmen. Hier ist der zweite Teil eigentlich nur eine Bearbeitung der John-Williams-Melodien geworden, weil ich mich einfach nicht davon lösen konnte. Das war wirklich zu schwer. So ist es aber jetzt gleichzeitig auch ein Stück weit eine Hommage an John Williams

Bei Alice im Wunderland hat mich die Musik aus dem Zeichentrickfilm von Disney schon inspiriert und trotzdem habe ich manche Dinge komplett anders gemacht. Es gibt da Musik, die für den Film schön ist, aber nicht wirklich zum Buch passt. Ich habe mich auch nicht zu sehr auf die Gesangstitel konzentriert, sondern mehr auf das Underscoring – also die untermalende Musik zum Bild. Zum Beispiel erklingt ganz viel Musik bei der Teeparty, wenn die Maus über den Tisch hüpft. “Mickey-Mousing” bezeichnet diese Filmmusiktechnik, bei der Geschehnisse im Film punktgenau von Musik begleitet werden.

Wie sind Sie ganz konkret bei “Alice im Wunderland” vorgegangen?

Erst einmal habe ich mir überlegt, wie viele Stücke es überhaupt werden sollen. Mit den Lesungen hat man dann bei acht Stücken ein abendfüllendes Konzert. Wir spielen zwei Mal 45 Minuten und das geht sich auch ganz gut aus. Dann habe ich natürlich versucht, Kapitel zu finden, die die meisten Leute aus den Filmen kennen können. Dann war die Herangehensweise ganz unterschiedlich. Beim ersten Stück etwa habe ich mich einfach ans Klavier gesetzt und mir die Akkorde zurechtgelegt.

Alice im Wunderland

Es passiert tatsächlich relativ oft bei meinen Kompositionen, dass ich erst einmal am Klavier lande, dann eine Bassfigur spiele und dann Akkorde dazu. Im 1. Kapitel bearbeiten wir die Szene, in der Alice mit ihrer Schwester am Ufer sitzt und sie dann einen Schlüssel im Kaninchenbau findet. Wir stellen den langen Fall durch den Kaninchenbau dar. Ich habe versucht, dies ein bisschen “karikaturmäßig” nachzuspielen. Es gibt auch ein Stück über die Grinsekatze, an das ich eher kognitiv herangegangen bin. Im Disney-Film ist die Katze pink, und von da ist der Weg zum Pink Panther Song auch nicht mehr weit. Also habe ich den hergenommen und ein paar Akkorde, schrille Klänge und einen langsamen Swing eingebaut. 

Ist das Hauptauswahlkriterium der Wiedererkennungswert des jeweiligen Kapitels?

Ja, sicherlich. Weitere Kriterien sind darüber hinaus aber auch die Frage, wie spannend oder lustig eine Szene ist. Macht diese Szene das ganze Bild bunter oder ist sie eher uninteressant? Erzählt sie die Geschichte weiter? Ich habe nach den Kapiteln Ausschau gehalten, bei denen man wirklich das Gefühl hat: Alice geht durch das Wunderland. 

Bei Ihren bisherigen Projekten handelt es sich ausschließlich um britische beziehungsweise amerikanische Literatur. Ist das Zufall? Oder anders gefragt: Würden auch deutsche Klassiker funktionieren? Winnetou vielleicht?

Witzigerweise hat mich kürzlich eine Freundin, die ein sehr großer Winnetou-Fan ist, darauf angesprochen. Ich schließe das überhaupt nicht aus und es ist tatsächlich mehr oder weniger Zufall. Neben Winnetou wurde auch schon über Jules Verne gesprochen. 

Das Genre ist dabei aber vielleicht sogar entscheidender als die Herkunft, oder? Denn die Romane gehen alle eher in Richtung Abenteuer oder Krimi. Ist das leichter zu vertonen als Dramen und Tragödien? 

Das ist eine gute Frage. Es ist bisher nicht so wirklich zu etwas anderem gekommen. Wobei: Wir haben ein Stück in unserer Sherlock Holmes Suite, in dem wir Irene Adler thematisieren, die tragische Romanze des genialsten Detektivs der Literaturgeschichte. Das funktioniert also schon, es wirkt musikalisch dann eher wie ein Gemälde. Es entsteht ein Klangeindruck, eine Atmosphäre und wirkt nicht so erzählerisch wie etwa die Stücke bei Alice im Wunderland. 

Die Release-Tour der EP ist jetzt gerade vorbei. Was sind die weiteren Pläne von LYRIQ?

Der Plan ist, dass wir im Herbst 2024 ein neues Thema an die Öffentlichkeit bringen. Bis dahin wollen wir Alice im Wunderland aufführen. Was wir dann ab Herbst machen, wissen wir noch nicht genau. “Die unendliche Geschichte” steht im Raum, Jules Vernes “20000 Meilen unter dem Meer” oder “In 80 Tagen um die Welt” fände ich auch schön. 

Was gerade noch passiert: Wir wollen ein paar Kooperationen mit Lyrikern anleiern. Kürzlich wurden wir eingeladen, lyrische Texte zu ver­tonen. Vier Lyrikerinnen und Lyriker haben aus ihren Texten vorgelesen und wir haben dazu improvisiert. Das hat uns Spaß gemacht, den Lyrikern und auch dem Publikum.