Orchestra | Von Redaktion

Mathias Wehr über das Komponieren und Earthen Echoes Unveiled

Mathias Wehr

Eines der zahlreichen Highlights der geplanten Reise nach Südkorea des Landesblasorchesters Baden-Württemberg anlässlich der WASBE-Konferenz 2024 ist sicherlich die Uraufführung des Werkes Earthen Echoes Unveiled. Mathias Wehr, mit seinen zahlreichen Veröffentlichungen ein Rising Star unter den Blasorchesterkomponisten, schrieb es eigens für diesen Anlass.  Alexandra Zinßer hatte die Gelegenheit, Mathias Wehr in einem Videointerview einige Fragen zu seiner Arbeit zu stellen.

Mathias, als wir uns bei unserem Klarinettenstudium in Nürnberg kennengelernt haben, bist du mir zwar schon als echtes “Käpsele” aufgefallen, deine kompositorischen Ambitionen sind mir dort aber noch verborgen geblieben. Dabei hast du auch in diesem Bereich schon sehr jung begonnen, oder?

Mein erstes Erlebnis war etwa mit zwölf, als ich in meinem Klarinettenunterricht das Stamitz-Konzert gespielt habe, in dem es auch eine kleine Kadenz gibt. Mein damaliger Lehrer hat mir erklärt, was eine Kadenz ist und hat zu mir gesagt, du kannst entweder spielen, was da steht, oder du kannst auch was Eigenes erfinden. Und für mich war eigentlich sofort klar, dass ich was Eigenes erfinden möchte und habe selbst eine Kadenz geschrieben. Ich habe das damals nicht für so etwas Besonderes gehalten, mein Lehrer fand das aber schon bemerkenswert. Da hatte ich das erste Mal das Gefühl, dass da was kommen könnte.

So richtig eingestiegen bin ich erst während meines Studiums für Blasorchesterdirigat in Augsburg, dort hatte ich Unterricht in Instrumentation, Komposition und Arrangement bei Eduard de Boer. Er hat mich sehr ermutigt, neben den kleinen Kompositionsaufgaben auch mal ein komplettes Stück zu schreiben. So entstand mein erstes Stück »Phönix«, das dann auch gleich sehr gut in meinem Blasorchester ankam. Weil dort die Begeisterung so groß war, habe ich mich entschlossen, bei einem Kompositionswettbewerb des Nordbayerischen Musikbundes teilzunehmen. Mein eingereichtes Stück »Infinity« hat dann direkt auch den Wettbewerb gewonnen. Das war für mich eine so große Bestätigung, dass ich dann auch weiter drangeblieben bin. Nach einem weiteren Stück kam dann der Anruf von Peter Frank aus der Schweiz, der auf mich aufmerksam geworden war und mir das Angebot machte, meine Stücke zu verlegen und europaweit anzubieten.

Ab da kam eins zum anderen, Aufträge für ein Wettbewerbsstück, ein weiteres Auftragswerk, es wurde immer mehr und ich habe gemerkt: Jetzt bist du mittendrin, jetzt bist du eigentlich Komponist.

Earthen Echoes Unveiled
Foto: Stephan Spangenberg
Was würdest du sagen, wie viel am Kom­ponistsein ist Berufung und wie viel ist Handwerk?

Ich glaube, dass Berufung und Leidenschaft für das, was man tut, immer eine ganz wichtige Rolle spielen. Das Handwerk, das kann man immer irgendwie erlernen. Aber wenn man sich nicht wirklich berufen fühlt, dann wird das nichts. Ich würde mal sagen, 70 Prozent sind Berufung, 30 Prozent kann man sich aneignen. Mir wird das immer besonders deutlich, wenn ich mit Musikern spreche, die nicht verstehen können, wie man Stücke komponieren kann. Das wäre ja klar und normal bei Nichtmusikern, aber selbst Profimusikern fehlt da oft vollkommen die Vorstellung, wie das gehen soll. Mittlerweile ist mir klar geworden, dass es eben nicht so eine Selbstverständlichkeit ist.

Ich denke, ein großes Hemmnis für die meisten ist, einfach mal anzufangen. Oft hört man Aussagen wie “Ich weiß gar nicht, was ich schreiben soll. Und wenn ich was schreibe, habe ich immer das Gefühl, das ist schon mal da gewesen.” Über diese Hürde muss man erst mal drüber kommen.

Das führt mich zu meiner nächsten Frage: Wie gehst du beim Komponieren vor? Gehst du von einem musikalischen Gedanken aus, einer Melodie oder Harmonie oder besonderen Thematik?

Das ist meist gar kein Handwerk, sondern Inspiration! Das ist, auf etwas zu hören, bei dem man gar nicht genau weiß, auf was man eigentlich hört – vielleicht eine Art innere Stimme. Wenn man handwerklich an die Sache herangehen würde, dann hätte man ein Schema, nach dem man immer gleich vorgehen könnte. Aber die vergangenen Jahre haben mir gezeigt: Es ist immer wieder etwas anderes. Auch die Inspiration kommt immer wieder von etwas anderem, ein zu vertonendes Bild, eine zu vertonende Geschichte oder ein Gefühl. Der Zugangsweg ist jedes Mal ein anderer und genau so komplex ist eigentlich das Komponieren. Und natürlich ist es ein Prozess. So kann es passieren, dass eine Melodie, von der ich mir zu Beginn sicher war, dass sie der Hauptgedanke des Werkes ist, im Laufe der Entstehung immer mehr an Bedeutung verliert oder auch umgekehrt.

Das Werk entsteht und man weiß selbst nicht genau, wohin die Reise geht. Das Werk entwickelt sich und findet sich selbst. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, das bin gar nicht ich, sondern ich schreibe das nur auf.

Wachst du manchmal nachts auf und hast eine Melodie im Kopf? Singst du die dann in dein Smartphone, damit du sie nicht wieder vergisst?

Ja, genau so! Es gibt tatsächlich manchmal Momente, in denen mir eine tolle Idee kommt. Das kann ein Rhythmus sein, das kann aber auch eine fertige Melodie sein, manchmal klingt sogar schon ein spezifisches Instrument in meiner Vorstellung mit. Und wenn das dann nachts ist oder bei einer Autofahrt, dann bleibt nichts anderes übrig, als schnell das Handy zu nehmen und das einzusingen mit den Ideen, die man schon hat, Instrumentierung oder Begleitrhythmen. Und dann hoffe ich, dass das so lange vorhält, dass ich das dann später am Klavier reproduzieren kann.

Wie ist der Tagesablauf eines Komponisten? Hast du feste Zeiten oder wartest du, bis dich die Muse küsst?

Es ist eine Mischung aus beidem. Natürlich muss man als Komponist in der Lage sein, das Ganze ordentlich zu organisieren, denn man hat nun mal einen Abgabetermin. Deshalb muss ich mir meine Klavier- und Komponierzeiten in der Woche einteilen. Aber Kreativität und Inspiration funktionieren nicht auf Knopfdruck. So vergehen auch manchmal zwei, drei Stunden und ich habe keine Note aufs Papier gebracht. Manchmal braucht es dann nur eine kleine Ablenkung, wie ein kurzer Spaziergang und dann sprudeln auf einmal die Ideen und ich weiß: Jetzt muss ich schnell ans Klavier. Man kann diesen Strom nicht unterbrechen, da es nicht sicher ist, dass er sich so wieder einstellt. Man muss das nutzen!

Ich habe dich als jemanden kennengelernt, der das “Rampensau-Gen” hat. Wird das als Komponist genügend befriedigt? Oder ist das mit ein Grund, dass du doch auch weiterhin als Dirigent gerne vor dem Publikum stehst?

Ja, das stimmt. Das Dirigieren möchte ich wirklich nicht aufhören, egal, wie viel ich noch komponieren darf, denn das Dirigieren macht einfach Spaß. Die Synergien zwischen dem Komponieren und dem Dirigieren sind wie eine Einheit für mich. Ich bin so froh, dass ich durch das Dirigieren oft auch direkt vermitteln kann, was ich mir bei einem Stück gedacht habe. Deshalb geht das für mich Hand in Hand und ich finde beides ganz toll.

Dann kommen wir jetzt konkret zu “unserem” Stück “Earthen Echoes Unveiled”. Wie lange hat es gedauert, es zu schreiben? Was hat dich konkret dazu inspiriert?

Man kann schon sagen, etwa ein halbes Jahr mit allem Drum und Dran, wobei man sich das nicht so vorstellen kann, dass man jeden Tag acht Stunden dran sitzt.

Ich habe am Ende des Jahres 2023 daran gearbeitet. Inspiriert durch den Jahreswechsel kam bei mir der Gedanke auf: Worauf laufen wir da die ganze Zeit hin? Die Welt ist auch im Jahr 2024 noch mit sehr alten Konflikten beschäftigt, für die wir dauerhaft keine Lösung finden. Wir haben den Klimawandel, bei dem die Meinungen so weit auseinandergehen, dass darüber die Lösung des Problems aus den Augen gerät. Wenn man sich die Frage nach einer perfekten Welt stellt, stellt man fest, dass jeder eine andere Meinung hat, wie diese perfekte Welt eigentlich aussehen soll. Auch wenn man denkt, dass hier eigentlich ein Konsens herrschen sollte, hat doch jeder Mensch eine individuelle Meinung, ein individuelles Bild.

Deshalb habe ich das Stück “Earthen Echoes Unveiled” genannt, also die irdischen Echos ausgepackt, gleichsam offengelegt. Auch ich habe mir dazu Gedanken gemacht, wie eine perfekte Welt aussehen soll. Ich habe die Ouvertüre so komponiert, dass sie freundlich und motivierend ist. Sie soll Freude und Spaß auf das Konzert, und im übertragenen Sinn auch Freude und Spaß auf das Leben machen und ebenso auf die Zukunft, auch wenn wir einige Probleme lösen müssen. Dafür soll sie uns allen Mut und vor allem Energie bringen, diese Herausforderungen zu bewältigen. 

Dem Ganzen liegt ein Zitat von Heraklit zugrunde:

Nichts ist so beständig wie der Wandel.
Alle Dinge sind im ewigen Fluss, im Werden.
Ihr Beharren ist nur Schein.

Heraklit
Ist dir das ein persönliches Anliegen? Bist du der Meinung, dass Kunst auf Zeitgeschehen reagieren oder sogar Einfluss nehmen muss?

Ja, ich finde schon, dass wir einen Teil dazu beitragen können. Es gibt mehrere Möglichkeiten, etwas zum Ausdruck zu bringen. Man kann mit der Musik schlechte Gefühle, Hass, Depression zum Ausdruck bringen. Wenn ich meine Gefühle mit einfließen lasse, ist es gewinnbringender, wenn man ein Werk spielt, das Mut macht und Freude und Hoffnung schenkt. Die Energie überträgt sich auf die Musiker, die sich wochenlang mit dem Stück beschäftigen und diese Energie trägt man dann auch wieder weiter ins Publikum. So kann man die Hoffnung haben, dass man vielleicht auch zu einem ganz kleinen Teil dazu beitragen kann, wie die Stimmung in unserer Gesellschaft ist.

Earthen Echoes Unveiled
Foto: Stephan Spangenberg
Was wusstest du schon über das LBO? Hatte das einen Einfluss auf deine Arbeit?

Natürlich habe ich mit Björn Bus lange über Besetzung und Schwierigkeitsgrad gesprochen. Er hat zu mir gesagt: »Tob’ dich aus, du hast da freie Hand. Schreib, was du willst, wir spielen das.« Das ist für einen Komponisten das Schönste, was passieren kann. Je weniger Einschränkungen man hat, desto freier kann man sich entfalten und das ist genau das, was bei dem Stück für das LBO jetzt tatsächlich passiert ist.

Welche Erwartungen hast du bezüglich der WASBE-Konferenz in Südkorea?

Generell bin ich ein Mensch, der sich gerne überraschen lässt. Ich freue mich einfach riesig auf das Projekt. Ich freue mich auf das Orchester, auf Südkorea, auf die Konferenz. Ich freue mich darauf, neue Menschen kennen zu lernen, neue Kontakte zu knüpfen. Also eigentlich kann man sagen, ich erwarte nur Gutes!

Alexandra Zinßer