Orchestra | Von Klaus Härtel

Musiktherapie wirkt, wo Sprache aufhört

Musiktherapie

Mit Musik kann jede und jeder etwas an­fangen, findet Volker Bernius, Vorstandsmitglied der Deutschen Musiktherapeutischen Gesellschaft (DMtG). Und damit hat er völlig recht. Musik ist prädestiniert, Emotionen hervorzurufen, Erinnerungen zu reaktivieren, Entspannung zuzulassen. Auch auf diesen Tatsachen basiert deshalb die Musik­therapie. Die DMtG hat sich auf die Fahnen geschrieben, die starke Stimme aller sein zu wollen, die für den professionellen therapeutischen Einsatz von Musik in Deutschland eintreten.

Als der französische Schriftsteller und Philosoph Victor Hugo im 19. Jahrhundert sagte: Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist, hatte er vermutlich nicht primär die Musiktherapie im Sinn. Und doch hat er mit diesem berühmt gewordenen ­Zitat den Kern dieser getroffen. Volker Bernius konkretisiert: “Das große Kriterium der Musiktherapie ist: Sie richtet sich an Menschen die (noch) nicht sprechen oder nicht mehr sprechen können.” Dabei sind zwei grundlegende Pfeiler das Musikhören und das Musikmachen, die ak­tive und rezeptive Musiktherapie.

“Von der Wiege bis zur Bahre” entfalte die Musik­therapie ihre Wirkung, erklärt der Chefredakteur der “Musiktherapeutischen Umschau“, dem offiziellen Organ der DMtG. Und sie kann auch da ansetzen, wo die “her­kömm­liche” Psychotherapie nicht mehr weiterkommt. Denn diese funktioniere überwiegend über die Sprache. “Was aber mache ich, wenn ich mich sprachlich nicht verständigen kann?”

Musiktherapie hat viele Arbeitsfelder

Die Arbeitsfelder der Musiktherapie sind vielfältig und dementsprechend ist auch hier die Methodik von Arbeitsfeld zu Arbeitsfeld in Nuancen unterschiedlich. Während es bei Kleinkindern eher um die Verknüpfung von Gehirnströmen und um den Aufbau von Beziehungen geht, erfahren Menschen im Palliativbereich eine Verbesserung der Lebensqualität; vorhandene Ressourcen können als hilfreich erlebt werden. 

DMtG
Volker Bernius (Foto: Caleb Ridgeway)

Musiktherapeutinnen und Musiktherapeuten sind in kurativen, rehabilitativen, präventiven und palliativen Bereichen sowie in der Nachsorge tätig. Sie arbeiten mit Menschen aller Altersgruppen. Sie behandeln Patientinnen und Patienten mit somatischen, psychischen, psychosomatischen sowie psychiatrischen Erkrankungen und Menschen in Krisen- und Konfliktsituationen, mit Schädigungen, Behinderungen sowie physischen und psychosozialen Beeinträchtigungen sowie bei Entwicklungsstörungen.

Das Besondere an Musik ist ihre starke Wirkung auf Emotionen. Durch ihren Einfluss auf Körper und Motorik kann sie affektive Spannungs­zustände regulieren helfen. Hinzu kommt die nonverbale Kontakt- und Beziehungsgestaltung beim aktiven Musizieren. Diese Qualitäten sind ebenfalls eng mit den Besonderheiten und Einschränkungen von Menschen aus dem Autismus-Spektrum verknüpft und bieten hohes thera­peu­tisches Potenzial. Forschende haben die musikalischen Verarbeitungsmöglichkeiten von Menschen mit Autismus untersucht und her­aus­gefunden, dass bei eingeschränkten sprach­lichen und emotionalen Fähigkeiten Musik auf ähnliche Weise verarbeitet wird wie bei ­typisch entwickelten Menschen.

Musiktherapie bei Schlaganfall und Parkinson

Weitere Arbeitsfelder sind etwa die Onkologie, die Geriatrie, Traumatisierung, Neonatologie und forensische Psychiatrie. Aber auch in der Schmerztherapie und bei der Behandlung von Tinnitus wird Musik eingesetzt. Ein relativ neuer Bereich ist die Behandlung von Schlaganfall- ­sowie Parkinson-Patienten. So kann beispiels­weise mittels einfacher Lieder wie etwa “Fuchs, du hast die Gans gestohlen” Schritt für Schritt der Bewegungsapparat stimuliert werden. 

Für die häufigsten psychischen bzw. psychiatrischen Erkrankungen im Alter – Depression und Altersdemenz – bietet Musiktherapie grund­legende Hilfen. Für an Demenz Erkrankte ist an erster Stelle eine Funktion der Musik zu nennen: positive Erinnerungen wecken und die Selbstwirksamkeit stärken. Menschen mit Demenz tauchen im Verlauf ihrer Erkrankung in die Rea­litä­ten ihrer Kindheit und Jugend. In dieser Lebensphase werden die prägenden musikalischen Erfahrungen gemacht. Die Musik und die therapeutische Arbeit knüpfen hier also an schwergewichtige Ressourcen an, sie können aktivieren oder auch Unruhe vermindern helfen. “Wenn alles andere geht, die Musik bleibt”, weiß Volker Bernius. Ein altersdementer Patient, der die Orientierung zu sich selbst verloren hat und seinen eigenen Namen nicht mehr aussprechen kann, ist aber in der Lage, mühelos ein vier­strophiges Volkslied zu singen. Die Erfahrung, dies noch zu können, trage zum Identitätserhalt, zum Angstabbau und somit zu einem großen Stück Lebensqualität bei, aber auch zur Bewunderung durch die soziale Umwelt. 

In der Kinder- und Jugendpsychiatrie

Ein weiteres Arbeitsfeld ist die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Auch und vor allem die Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs spielt hier eine Rolle. Vor nunmehr elf Jahren ver­öffentlichte Dr. Christine Bergmann den Abschlussbericht der unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung. Darin heißt es im Vorwort zunächst plakativ “Das Sprechen hat begonnen”, weil seit Anfang 2010 viele Berichte von Menschen, die in ihrer Kindheit und Jugend sexuellen Missbrauch erlitten haben durch Priester, Lehrer und Familienangehörige, an die Öffentlichkeit gelangt waren. Weil das Sprechen aber eben schwerfiel, schreibt Bergmann: “Kreativtherapien bieten mit ihren vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten der Gestaltung hilfreiche Praktiken der Verarbeitung an, insbesondere dann, wenn Worte versagen. Hierzu zählen beispielsweise die (auch biografische) Schreibtherapie, Kunsttherapie und Musiktherapie. Ein Großteil der Betroffenen beschreibt die genannten kreativ- und körperorientierten Behandlungsverfahren als unersetzbar und effizient.”

DMtG-Vorstandsmitglied Volker Bernius fasst zusammen: “Kreativtherapien, künstlerische Therapien, sind hilfreich, weil sie Türen zu den tiefliegenden Problemen öffnen können.”

Der Gesetzgeber tut sich schwer, die Musiktherapie anzuerkennen

Dass die Arbeitsfelder in der Musiktherapie dermaßen vielfältig sind, ist gewiss ein positiver ­Aspekt. Und doch ist das womöglich auch die Krux. Denn nach wie vor tut sich der Gesetz­geber schwer, den Berufszweig Musiktherapie vollständig anzuerkennen. Es gibt zwar sogar eine akademische Ausbildung – an mittlerweile sieben Hochschulen in Deutschland – , doch jemand, der ein Wochenendseminar belegt, kann sich genauso Musiktherapeut nennen wie einer, der mehrere Semester studiert hat und einen Master-Abschluss hat.

Volker Bernius findet, dass Musiktherapie “immer noch nicht so bekannt ist, wie sie es sein müsste”. Und er gibt zu, dass die Frage “Was ist Musiktherapie?” von einer breiten Öffentlichkeit wohl nur sehr schwer zu beantworten ist – obwohl “Musik an sich eine hohe Anerkennung” habe. Bernius ist aber optimistisch, weil die Entwicklung in den vergangenen zwei Dekaden durchaus positiv sei. Ein Wissensdefizit sei zwar nach wie vor vorhanden – doch “die Musik­therapie ist in der Gesellschaft anerkannt”. Hier sieht die DMtG eine weitere Aufgabe: die Aufklärung. “Ich denke zudem«, fügt das Vorstandsmitglied hinzu, »dass psychische Probleme in der jüngeren Vergangenheit ein wenig entstigmatisiert worden sind.”

Nicht an der falschen Stelle sparen!

Im Oktober 2021 sah sich die Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft gemeinsam mit dem Verband deutscher Musikschulen genötigt, Kommunen aufzufordern, kulturelle Bildung und therapeutische Angebote zu verstärken, “um die durch die Pandemie entstandenen Belastungen von Kindern und Jugendlichen zu verringern”. Bernius und seine Kolleginnen und Kollegen befürchten nämlich, dass Kommunen Geld sparen wollen und dies “an der falschen Stelle” tun. Etwa 100 der insgesamt 950 kommunal finanzierten Musikschulen haben einen musiktherapeutischen Zweig. 

Und Musik, weiß Bernius, hat einen unschätz­baren Wert auch in der Prävention. Mit Musiktherapie kann man sehr gut arbeiten, “bevor sich Krankheitsbilder zeigen”. Er denkt da neben der Coronakrise beispielsweise auch an die Flüchtlingsproblematik – die sich nach Syrien gerade mitten in Europa wiederholt. Auch, wenn man mit der Sprache nicht mehr weiterkommt – mit Musik kann jeder etwas anfangen. 

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