Orchestra | Von Klaus Härtel

Ulrich Menke und das Methoden-Navi

Methoden-Navi

Ulrich Menke spricht bisweilen vom “Umblätter-Unterricht”, wenn er an den “herkömmlichen” Musikunterricht denkt. Sein aktuelles Buch “Das Methoden-Navi” hingegen möchte dem Lernenden für einen ­bestimmten Wegabschnitt eine bestimmte Methode an die Hand geben. Das Methoden-Navi soll ein Routenplaner in die Musik sein. Wir sprachen mit dem Pädagogen über sein Buch. Das Gespräch ersetzt natürlich nicht das Studium des “Methoden-Navi”.

“Unser Gehirn liebt die Abwechslung”, weiß Ulrich Menke. “Wir wollen ja nicht dauernd immer dasselbe nochmal machen.” Bei einem sportlichen Zirkeltraining trainiere man schließlich auch an verschiedenen Instrumenten, weil es der Ermüdung der Muskelgruppen vorbeugt. In der Musik greift hier dann der “Methodenwechsel”. 

Herr Menke, wie sind Sie auf die Idee gekommen, ein Methoden-Navi zu schreiben? Was steckt dahinter?

Ich bin seit 57 Jahren ein übender Mensch und seit 40 Jahren unterrichte ich. Nicht zuletzt bin ich auch Vater von sieben Kindern, die alle musizieren. Von daher habe ich immer schon auch eine private Musikschule gehabt. Und der Begriff des Übens ist leider negativ konnotiert gewesen. “Üben” und “müssen” haben immer geheiratet. Das “musst” du aber nochmal üben. Es war ganz selten, dass aus einer positiven Situation heraus etwas geübt wurde. Ich habe für mich selbst den Begriff der “Achtsamkeit” entdeckt. Vor dem Begriff – und das machen viele heute noch – bin ich früher weggelaufen.

Ich habe mich gefragt: Welche Antwort gibt der Instrumentalunterricht auf seine entstehenden Baustellen? Ich bin überzeugt davon, dass es im Grunde einen Strategiewechsel benötigt. Wir brauchen eine Strategie, die davon wegkommt, dass ich als kompetenter Lehrer möglichst viel vormache und den Schüler motiviere. Wir brauchen eine Strategie in Richtung Selbstständigkeit der Schüler. Sie sollen eine Idee von dem Weg bekommen. Deshalb kam der Begriff des Navis auf. Ich sehe heute noch meinen Vater vor mir: Der fuhr das Auto und meine Mutter musste auf der Karte schauen, wo wir waren. Mit meinem Methoden-Navi sollen die Schülerinnen und Schüler nicht nur wissen, wie man jetzt diese eine Stelle »richtig« macht, sondern es soll dazu führen, dass ich selbst den Weg erkenne, wie ich dorthin komme. Und wie kann ich das dann übertragen auf andere Stücke? Selbstständig eben.

Ferner habe ich den Begriff des Übens durch Training ersetzen wollen. Meine Kinder sind auch sportlich unterwegs und die würden niemals sagen: Ich gehe jetzt zu meiner Fußball-Lehrerin und die guckt nach, ob ich geübt habe. Der Instrumentalunterricht hat nach wie vor zu wenig mit meinen Emotionen und mit meinen Wünschen zu tun, sondern es geht mehr um die Erfüllung der Wünsche des Lehrers. Wenn der zufrieden ist, dann bin ich auch zufrieden … 

Wie schaffe ich es denn, dass das Üben “aus eigenem Antrieb” passiert und nicht nur, um anderen den Gefallen zu tun? 

Natürlich könnte ich das Üben nun auf ein bestimmtes Trompetenkonzert reduzieren. Damit könnte ich glänzen – aber wie oft kommt es zu solch glanzvollen Aufführungen? Und es kann doch nicht sein, dass das der zentrale Punkt im Unterricht ist? Es geht um einen Selbstfindungsprozess junger Menschen. Wie kann Musikunterricht ein Teil dieses Selbstfindungsprozesses werden? Als Schüler soll ich merken: Ich mache das jetzt nicht nur wegen dieses Torelli-Werks, sondern es geht um Strategien, die mich dazu führen: Das ist mein Ding! 

Aber das Schwierige im Musikunterricht dürfte eben sein, dass ich nicht »Schema F« anwenden kann, oder? Jeder Schüler braucht seine eigene Strategie …

Genau. Der Instrumentallehrer sollte von dem einzelnen Schüler ausgehen. Im Schulunterricht ist das nicht immer möglich, aber es ist im In­strumentalunterricht eine Voraussetzung dafür, dass ich entdecke, wer mir da gegenübersteht. Ich arbeite zum Beispiel gerade mit einer Pianistin zusammen. Sie spielt fantastisch vom Blatt, hat aber das “Problem”, dass sie nie gelernt hat, auswendig zu spielen. Sie ist dermaßen auf diesen Anblick der Noten fixiert, dass sie Angst hat, sie aus der Hand zu geben.

Aber jetzt muss sie ein Ravel-Konzert auswendig lernen. Sie muss also lernen, einen Sinn, der besonders stark ist, aus- und einen anderen Dienst an dieser Stelle einzuschalten. Die Augen sind uns natürlich viel Vertrauter als die Nase und auch das Gehör. Weil die Augen so dominant sind – und bei dieser Pianistin ist stark spürbar – muss ich jetzt Vertrauen darin gewinnen, blind zu spielen. Sie muss also die Augen als Informationsquelle ausschalten und die anderen vier Sinne einschalten. 

Methoden-Navi

Ulrich Menke 

studierte zunächst Schulmusik an der Kölner Musikhochschule und schloss dann 1985 sein Violinstudium mit der künstlerischen Reifeprüfung ab. Neben seiner jahrzehntelangen Lehrtätigkeit an einem Brühler Gymnasium mit einem von ihm aufgebauten Musikzweig sowie mit großen Orchestern und einem Jazz-Pop-Chor arbeitet Ulrich Menke als Geiger und Bratschist regelmäßig in Ensembles, die sich der historischen Aufführungspraxis verbunden fühlen. Darüber hinaus ist er seit 2003 als Dozent an der Kölner Musikhochschule tätig in dem Bereich der Ensembleleitung aller Stilrichtungen, der Streicher-Ausbildung sowie in der Arrangier-Praxis. Als ein Ergebnis seiner Lehrtätigkeit erschien im März sein “Methoden-Navi” im Schott-Verlag, zudem beschäftigt er sich seit zehn Jahren in einer Geigenbauwerkstatt mit dem Neubau und der Restaurierung alter Streichinstrumente.

Sie ziehen den Vergleich zum Sport heran.

Musiker haben oft ganz hohe Ziele. Man möchte Mozart begreifen, möchten den noch viel musikalischer spielen. Aber wir bleiben oft im Vagen. Das sportliche Training ist oftmals viel konkreter, weil es mit Zahlen verbunden ist. Ich will unter 10,0 bleiben, ich will über 2,40 springen, ich will bis zur 90. Minute ein Tor mehr schießen als der Gegner. Da kann ich auch viel konkreter trainieren, als wenn ich sage: Das musst du bis zum nächsten Mal nochmal besser üben … und um diesen Unterschied geht es mir in meinem Methoden-Navi.

Der Lernende bekommt also auch konkrete Ziele an die Hand? Beziehungsweise der Lernende soll sich diese konkreten Ziele selbst erarbeiten?

Sie sollen vor allem die Trainingsgeräte kennen. Das eine Gerät heißt »Koffer packen«, das andere heißt “Slow Motion”, weitere “Looping”, “Time­out”, “Auswärtsspiel” und so weiter. Ich habe versucht, Begriffe aus dem sportlichen und medialen Bereich zu übernehmen, unter denen man sich etwas vorstellen kann. Nehmen wir zum Beispiel mal das Thema “Timeout”. Das kennt man aus dem Sport. Der Trainer macht ein “Timeout”-Zeichen, die Partie gestoppt und meistens werden die Spieler taktisch neu aufgestellt. Ich benutze das “Timeout” als Konsolidierung. Die Hirnforschung hat belegt, dass wir die Pause – und das ist bei Bläsern noch viel wichtiger als bei den bei den Streichern – brauchen. Das Gelernte muss sich konsolidieren, indem ich mir eine Pause gebe. Das wird bei »Timeout« systematisch gemacht. Ich mache beispielsweise jeden zweiten Takt eine Pause. Diese kann ich dann nutzen, um nachzuhören. Waren die Töne richtig? War der Rhythmus richtig? 

Es geht nicht primär um die Kompetenz, ein Stück gut zu können, sondern darum, den Weg und die Route zu finden. Ich brauche den grundsätzlichen Weg, um eine schnelle oder eine hohe oder eine synkopierte Passage zu erarbeiten. Und diesen Weg möchte ich nicht nur immer vom Lehrer erfahren, sondern ich möchte ihn selbst finden. Das Trainingsgerät ist zuhause. 

Das Methoden-Navi ist aber kein Buch, das man von vorne bis hinten durcharbeitet und dann fertig ist, richtig?

Das Navi beinhaltet 18 verschiedene Methoden. Die erste heißt “Slow Motion”. Das ist das Grundprinzip der Achtsamkeit: Ich nehme das Tempo raus, um Zeit zu gewinnen für meine Entscheidung. Bei geringerem Tempo macht man weniger Fehler. Und die letzte Methode heißt “Auftritt!” Hier habe ich über 20 Punkte zusammengetragen, was alles schiefgehen kann. Und das muss eben vorher trainiert werden.

Das ist wie bei der Produktion des Ford Fiesta. Der wird ja nicht in Köln auf der Hohen Straße ausprobiert, sondern im Gebirge, in der Wüste unter ­erschwerten Bedingungen. Ich nehme also alle Ausreden dieser Welt her, rede mich heraus, um meine Haut zu retten. “Der Notenständer war falsch eingestellt!” Ja, dann stellt ihn ganz weit weg und versucht, das Stück so zu spielen! Dann wird nämlich die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, die Noten zu erkennen und ich bekomme heraus, ob diese Stelle sitzt oder nicht … “Es war zu dunkel!” Licht aus! “Meine Hände waren feucht!” Nass machen!

Mein System bietet von der ersten Note bis zum Auftritt eine oder mehrere Methoden an. Es hilft mir nämlich überhaupt nichts, wenn ich 90 Prozent des Weges hinbekommen habe aber letztlich das Ziel nicht finde. 

Sie haben die Prinzipien der Achtsamkeit erwähnt. Was sind denn diese Prinzipien?

Das erste Prinzip ist “Tun ist absichtsvoll.” Das überschneidet sich genau mit dem Trainingsziel, das ich habe. Das zweite ist “Fokussiert die Sinne!” Man soll die fünf Sinne einzeln ins Spiel bringen und dann konkret miteinander kombinieren. Diese Maßnahme erfordert eine totale Wachheit, weil ich Entscheidungen treffen muss, von welchem Sinn ich zum anderen wechsle. Und dann sind wir schon bei “Slow Motion”. Achtsamkeit und Zeitdruck schließen sich aus. Das Tempo muss raus, was dann trotzdem einer “Zeitgewinnungsmaschine” gleichkommt. Denn in dieser Zeitdehnung gelingt es mir überhaupt erst, die konkrete Beobachtung überhaupt erst in den Blick zu nehmen.

Wenn ich souverän darin bin, zu entscheiden, welcher Sinn gerade aktiviert ist, dann kann ich auch gelassen werden. Und diese Gelassenheit führt letztendlich zu einem ganz wichtigen Aspekt, der Wertfreiheit. Ich will davon wegkommen, alles bewerten zu wollen. Wenn ich Gelassenheit habe, komme ich weg von einer “Fehlerver­meidungsstrategie” und nutze den Fehler völlig wertfrei als Informationsquelle.