Wood | Von Hans-Jürgen Schaal

Wardell Gray – der beste Bopper am Tenor

Saxofon

Er futterte wie ein Scheunendrescher, blieb aber immer dünn, knochig und hager. Sein Kollege Clark Terry nannte ihn schlicht “Bones”. Der Tenorsaxofonist Wardell Gray schenkte dem nervösen Bebop-Stil einst eine elegante, kalifornische Note. Am 13. Februar wäre er 100 Jahre alt geworden.

Was in New York nach dem Krieg die 52nd Street war, das war in Los Angeles die Central Avenue. Ein Jazzclub reihte sich dort an den anderen: Club Alabam, The Down Beat, Jack’s Basket, Lovejoy’s usw. Die Jamsessions in diesen Clubs gingen manchmal die ganze Nacht, und die besten Bläsersolisten der Stadt standen auf der Bühne: Sonny Criss, Benny Bailey, Art Farmer. “Aber am Ende”, erzählt der Tenorsaxofonist Dexter Gordon, “waren immer nur Wardell Gray und ich übrig – und die Rhythm Section.“

Gordon und Gray lieferten sich damals legendäre Tenor-Battles – sie waren ebenbürtige Kombattanten, beide fast zwei Meter groß, beide inspiriert von Lester Young und Charlie Parker. Gordon hatte den kraftvolleren Klang, Gray die beweglichere Phrasierung. “Sein Spiel war sehr flüssig, sehr sauber”, sagte Gordon über Gray. “Obwohl sein Sound nicht übermächtig war, spielte er immer interessant, sehr musikalisch. Es machte mir Spaß mit ihm. Er hatte eine Menge Drive und einen Überfluss an Ideen.”

“The Chase” machte Gray bekannt

Die Tenorduelle zwischen Gordon und Gray wurden schnell zur Attraktion der Straße. Ross Russell, der Produzent des kleinen Labels Dial, war begeistert. Er überredete die beiden Saxofonhelden schon 1947, ihren Zweikampf auch in seinem Aufnahmestudio zu führen. Die Battle-Jam “The Chase” (Die Verfolgungsjagd), verteilt auf die beiden Seiten einer Schellackplatte, machte Gordon und Gray überall in den USA bekannt. Ein paar Monate vorher war Gray allerdings schon einmal im Dial-Studio gewesen – als Sideman des Bebop-Giganten Charlie Parker (Altsaxofon).

In Parkers Bop-Blues “Relaxin’ At Camarillo” und Howard McGhees “Cheers” schließt Gray sein Solo jeweils direkt an das von Parker an (24 bzw. 16 Takte lang) – als würde der Gedankenfluss einfach weiterströmen. Der Kritiker Mark Gardner schreibt: “Grays relaxter Einfallsreichtum ist der Schönheit von Parkers Soli ebenbürtig. Gray war wohl der versierteste Tenorspieler der Bop-Ära.” 

Sartre im Gepäck

Wie seine Vorbilder Lester Young und Charlie Parker hatte Wardell Gray Klarinette gelernt, bevor er zum Saxofon kam. Er besuchte die Cass Technical High School in Detroit, galt als sehr intelligent und ehrgeizig, hatte eine freundliche Art und einen etwas sarkastischen Humor. Seine zweite Ehefrau Dorothy beschrieb ihn später als witzig, bescheiden und warmherzig – Applaus für ihn im Konzert soll ihn immer ein wenig verlegen gemacht haben.

Außerdem, sagte sie, sei er ein guter Koch, großer Sportfan und fleißiger Leser gewesen. Seine Lektüre umfasste offenbar nicht nur die Tageszeitung, sondern auch Bücher von Sartre oder von Henry Wallace, dem Vizepräsidenten von Roosevelt. “Er war da unersättlich, las alles von Philosophie und östlicher Spiritualität bis hin zu Krimis”, sagte Ms. Gray. Der Saxofonist Pepper Adams erinnert sich: “Wir gaben uns gegenseitig Autorentipps, tauschten Notizen aus über Romanschriftsteller, Filme, Bühnenstücke. Wir schauten jeden Sonntag ‚Omnibus‘ [ein TV-Bildungsprogramm].”

Die Musiker schätzten den Kollegen sehr. Für den Pianisten Hampton Hawes war Wardell Gray wie ein großer Bruder: “Neben Bird war er der Musiker, den wir am meisten bewunderten.” Der Trompeter Art Farmer sagte: “Wardell war einer der nettesten Menschen, denen ich je begegnet bin.” Über Grays musikalisches Talent gab es keine zwei Meinungen. Der Kritiker Max Harrison bewunderte vor allem seine “unerschöpfliche melodische Erfindungskraft”. Pepper Adams, einer der wichtigsten Baritonsaxofonisten der Jazzgeschichte, erzählte: “Wenn wir mit einer Rhythm Section allein waren, haben wir oft die Instrumente getauscht. Wardell erwies sich dann als einer der besten Baritonspieler, die ich in meinem Leben je gehört habe. Wenn mich irgendjemand auf dem Bariton beeinflusst hat, dann Wardell Gray.”

Mit berühmten Bandleadern 

Die erste namhafte Band, bei der er unterkam, war das Orchester des legendären Earl Hines. Dort hatten Charlie Parker und Dizzy Gillespie ein paar Jahre vorher die Grundlagen des Bebop ausgebrütet. Als Hines 1942 in Detroit gastierte und einen Altsaxofonisten brauchte, wurde ihm Gray empfohlen. Der gerade erst 21-Jährige machte seinen Job hervorragend und durfte in der Band bald auf sein Stamminstrument umsteigen, das Tenor. “Er war ein ausgezeichneter Musiker”, sagte Hines. “Viele Tenoristen bewunderten ihn.” Einige Jahre später wurde Gray auch von Benny Goodman engagiert. Der Swing-König experimentierte damals (gegen seine Instinkte) mit dem neuen Bebop-Stil. “Wenn Wardell Gray Bop ist”, soll Goodman gesagt haben, “dann ist Bop großartig.” Als zweiten Klarinettisten hatte Goodman den Schweden Stan Hasselgard an seiner Seite. Der beschrieb Gray als den heimlichen Star der Band: “Er ist der beste Tenorspieler in den USA heute.”

Mit der Goodman-Band kam Gray an die Ostküste, wo er mit Bebop-Musikern wie Tadd Dameron und Fats Navarro arbeitete. 1950 holte ihn Count Basie in seine Combo, später auch in seine Bigband. Um diese Zeit herum nahm Wardell Gray einige seiner bekanntesten Studio-Soli auf, darunter “Little Pony” und “Every Tub” (beide bei Basie) sowie “Twisted”, “Farmer’s Market” oder “Jackie” (als Bandleader mit eigener Combo). Seine Improvisationen waren so logisch und zündend, dass sie bald von Vokalisten nachgesungen wurden. Annie Ross (1930 bis 2020) und Jon Hendricks (1921 bis 2017) schrieben zu mehreren der Themen und Soli eigene Texte. Dann stieg Gray bei Basie aus und kehrte nach Los Angeles zurück, um bei seiner neuen Familie zu leben. Er hatte im Januar 1951 zum zweiten Mal geheiratet und war nun auch Stiefvater. Clark Terry und Freddie Green, zwei Kollegen aus der Basie-Band, fungierten als Trauzeugen.

Das mysteriöse Ende von Wardell Gray

1955 war Wardell Gray Mitglied im Orchester von Benny Carter. Die Carter-Band spielte damals in Las Vegas zur Eröffnung eines neuen Hotelcasinos namens “Moulin Rouge”. Am 25. Mai gab es drei Shows – doch der sonst so verlässliche Wardell Gray tauchte nach der ersten Show nicht mehr auf. Am nächsten Tag fand man seine Leiche draußen in der Wüste von Nevada, am Rand des Highways. Offenbar hatte man ihn tot aus einem Auto geworfen. Sein Genick war zwischen dem fünften und sechsten Halswirbel gebrochen, sein Gehirn durch einen Schlag auf den Schädel gequetscht.

In einem Autopsie-Bericht stand angeblich, der Tod sei durch einen Sturz auf Zementboden eingetreten. Offiziell war die Todesursache aber eine Überdosis Heroin. Die ihn gekannt hatten, meinten jedoch, er habe zu dieser Zeit gar keine Drogen genommen. Wardell Grays Tod wurde nie abschließend geklärt. Sein Bebop-Idol Charlie Parker war übrigens nur zwei Monate vorher gestorben – ebenfalls mit 34 Jahren.

Mit Wardell Gray verlor die Jazzwelt auf eine tragische und mysteriöse Weise einen ihrer talentiertesten Saxofonisten. Kein Wunder, dass Wardell Gray, der leidenschaftliche Leser, bis heute auch die Fantasie der Literaten beschäftigt. Schon der Beat-Dichter Jack Kerouac setzte ihm 1957 in seinem Buch “On The Road” (dt. “Unterwegs”) ein kleines Denkmal. In seinem Kriminalroman “The Cold Six Thousand” (dt. “Ein amerikanischer Albtraum”) machte James Ellroy aus Grays mysteriösem Tod einen rassistisch motivierten Mord. Und in Bill Moodys Krimi “Death Of A Tenor Man” (dt. “Moulin Rouge, Las Vegas”) versucht der Jazz-Detektiv Evan Horne, den lange zurückliegenden Tod Wardell Grays doch noch aufzuklären. Am Ende ist Evan Horne nicht viel klüger als vorher – aber es gibt zwei neue Leichen.

Wardell Gray

CD-Tipps:

  • One For Prez (Black Lion, 1946)
  • Way Out Wardell (Modern, 1947)
  • Classics (Chronological, 1946-50)
  • Stoned (Noble, 1947-52)
  • Memorial Vol. 2 (Prestige, 1950-52)

Filmdokumentation:

  • Forgotten Tenor (1994, 138 min.)