Wood | Von Hans-Jürgen Schaal

Marcel Mule, Le Maître du Saxophone

Marcel Mule
Foto: www.selmer.fr

Der Aufstieg des Saxofons in der klassischen Musik wäre undenkbar ohne Marcel Mule (1901 bis 2001), den Begründer der “französischen” Schule. “Er gibt dem Saxofon jenen entschiedenen Adel, auf den das Instrument gewartet hat” (Le Monde, 1938).

Der Vater leitete eine Blaskapelle und war selbst Saxofonist. Von ihm bekam Marcel mit acht Jahren den ersten Saxofonunterricht – nach vier Monaten vorbereitender Solfeggio-Gesangsübungen. Vater Mule plante für seinen Sohn aber eine “seriöse” Karriere – als Musiklehrer. Marcel lernte daher auch ein traditionelles Instrument: die Violine. (Das Klavier kam noch dazu.) Doch seine Tätigkeit als junger Musiklehrer hatte er kaum begonnen, als er 1921 zum Militär einberufen wurde, und zwar in die Marschkapelle des 5. Infanterie-Regiments in Paris. Durch sein grandioses Saxofonspiel wurde der junge Marcel Mule damals in den Militärbands der Pariser Region schlagartig bekannt. Auch François Combelle wurde auf ihn aufmerksam und schlug ihm vor, sich nach dem Militärdienst bei der Republikanischen Garde zu bewerben – dort war Combelle der Solo-Saxofonist. Mule tat es und wurde 1924 Combelles Nachfolger in der “Musique de la Garde Républicaine”.

Dieses renommierte Blasorchester in Gala-Uniform (steifer Kragen, Metallknöpfe, Fangschnüre) bestand aus etwa 80 Musikern und trat in ganz Frankreich auf. Man hatte sogar Bearbeitungen von Orchesterwerken eines Richard Strauss, Nikolai Rimski-Korsakov oder Franz Liszt im Programm. “Ohne die Garde-Band wäre ich wahrscheinlich in den Schuldienst gegangen”, sagte Mule später. Geprobt wurde zweimal in der Woche – es gab also viel freie Zeit und Gelegenheit für Nebenjobs. Mule nutzte die Chance und nahm nebenbei Unterricht beim Violinisten Gabriel Willaume – ihm verdanke er seinen sanglichen Stil auf dem Saxofon, meinte Mule. Er schnupperte auch in die Nachtclubs von Paris hinein, wo damals die amerikanischen Jazz- und Charleston-Bands Erfolge feierten. In den Clubs übernahm Mule Feierabend-Jobs als Saxofonist und fing an, mit dem Vibrato zu experimentieren, das fürs Jazz-Saxofon typisch war. Tätig wurde er auch in der Pariser Oper, spielte die Altsaxofon-Parts in Massenets “Werther” oder Bizets “L’Arlésienne”-Suiten. Sein Vater war stolz auf ihn.

Das kontrollierte Vibrato

Während dieser Zeit begann Mule außerdem, mit drei Saxofon-Kollegen aus der Garde-Band (die ihn bewunderten) im Quartett zu spielen. Das Saxofonquartett war keine ganz neue Idee. Schon Jean-Baptiste Singelée, ein Freund von Adolphe Sax, hatte diese Besetzung propagiert und eine der ersten mehrsätzigen Kompositionen dafür geschrieben (1858). Der Saxofonist Edouard Lefèbre gründete 1874 in den USA den New York Saxophone Quartette Club, aus dem später das Conn Saxophone Quartette wurde. Doch in den 1920er Jahren war das Saxofonquartett-Repertoire des 19. Jahrhunderts weitgehend vergessen – es gab keine lebendige Tradition dieser Besetzung. Als Marcel Mule 1928 sein Quatuor de la Musique de la Garde Républicaine gründete, war das eine Pioniertat. 

Im gleichen Jahr hat Marcel Mule auch erstmals eine kleine Dosis vom Jazz-Vibrato in einem klassischen Kontext eingesetzt. (Es war beim Ballett “Évolution” des Komponisten Edouard L’Enfant.) Unerwarteterweise stieß er damit auf Begeisterung und begann daraufhin, ein “kontrolliertes Vibrato” zu entwickeln: “Ich kam zu einem Kompromiss zwischen dem freien Vibrato im Jazz und der Strenge meines bisherigen Spiels. Das Vorbild für den Saxofonton muss die menschliche Stimme sein – und kann man sich eine große Sängerin ganz ohne Vibrato vorstellen?” Als auch Mules Saxofonquartett 1932 dieses “sanfte Vibrato” in sein Spiel übernahm, war es sofort enorm erfolgreich.

“Das Saxofon klang nun nicht mehr wie eine Klarinette, aber auch nicht wie ein Jazz-Instrument”, sagte Mule. “Die jungen und die alten Komponisten interessierten sich plötzlich für das Saxofon.” 1932 entstanden die ersten Original-Kompositionen für Mules Quartett, etwa das Potpourri “Au jardin des bêtes sauvages” von Pierre Vellones, “Cache-Cache” von Robert Clérisse und das Saxofonquartett op. 109 von Alexander Glasunov. Daneben spielte Mules Quartett vor allem Transkriptionen von Streichquartetten sowie Bearbeitungen bekannter klassischer Melodien, etwa von Albeniz, Mendelssohn, Mozart, Schumann oder Tschaikowsky. 

Der Casals des Saxofons

1932 kam es auch zu den ersten Umbesetzungen im Quartett. Auf René Chaligné am Altsaxofon folgte Paul Romby (1932), später Marcel Josse (1945), dann André Bauchy (1948), schließlich Georges Gourdet (1960), der zuvor im Quartett das Tenor gespielt hatte und außerdem für seine fachmännischen Konzertansagen bekannt war. Am Tenorsaxofon übergab Hippolyte Poimboeuf an Fernand Lhomme (1932), dann kam Georges Charron (1936), nach dessen Tod Georges Gourdet (1951), endlich Guy Lacour (1960).

Der Baritonsaxofonist hieß 20 Jahre lang Georges Chauvet – er war für das Quartett auch enorm wichtig als Stimmenkopist und Konzertbooker. Ihm folgte Marcel Josse (1948), zuvor am Alt, der bis zur Auflösung des Quartetts (1968) dabei blieb. Nachdem Mule 1936 aus der Republikanischen Garde ausgeschieden war, hatte er das Quartett umbenannt – in Quatuor de Saxophones de Paris. Weil es aber in Paris zunehmend mehr Saxofonquartette gab, schlug Georges Gourdet 1951 eine weitere Umbenennung vor – in Quatuor de Saxophones de Marcel Mule. Dabei blieb es dann.

Über die Jahre haben zahlreiche Komponisten für das Mule-Quartett geschrieben. Gabriel Pierné lieferte die “Introduction et variations sur un thème populaire” (1936), für deren Einspielung das Quartett einen “Grand Prix de Disque” gewann. Eugène Bozza komponierte “Andante et Scherzo” (1938), Jean Rivier “Grave et Presto” (1938), Florent Schmitt das Quatuor, op. 102 (1941) – das sind heute Klassiker im Repertoire für Saxofonquartett. Die Musikprofessorin Nadia Boulanger konnte auch Jean Françaix als Komponisten fürs Quartett gewinnen (Petit Quatuor, 1935). 40 Jahre lang war das Mule-Ensemble das führende Saxofonquartett der Welt und setzte stilistische Maßstäbe.

Der Musikkritiker Robert Bernard schrieb 1938: “Vier Virtuosen erster Güte formen ein Ensemble, dessen Qualität es neben die berühmtesten Streichquartette stellt. Das Saxofon hat in Marcel Mule ein Äquivalent gefunden zu Pablo Casals am Cello und Wanda Landowska am Cembalo.” Das gefeierte Quartett gab Konzerte in vielen europäischen Ländern und hatte einmal sogar eine Zwei-Monats-Tournee durch Kanada. Auch als Paris von den Deutschen besetzt war, spielte das Mule-Quartett weiter Konzerte im Radio. Mule bekam sogar das Angebot, in Nazi-Berlin eine Saxofonklasse zu eröffnen – er lehnte dankend ab. 

Professor Marcel Mule

Neben dem Quartett, in dem er stets das Sopransaxofon spielte, erlebte Marcel Mule auch eine große Karriere als klassischer Solist – hauptsächlich am Altsaxofon. Seine eigentliche Solisten-Laufbahn mit Orchester begann 1935 mit der Aufführung der Saxofonkonzerte von Pierre Vellones, Jacques Ibert und Alexander Glasunow. Bei Letzterem war Henri Tomasi der Dirigent, der später für Mule auch eine “Ballade” (1938) und ein “Concerto” (1949) schrieb. Als Höhepunkt von Mules Solisten-Laufbahn gilt eine USA-Tournee 1958 mit dem Boston Symphony Orchestra unter Charles Munch – auf dem Programm standen Ibert und Tomasi.

Marcel Mule war es auch, der 1928 bei der Uraufführung von Ravels “Bolero” das Sopransaxofon spielte. 1950 hat er (unter Pablo Casals) auf dem Sopran sogar den Trompeten-Part in Bachs 2. Brandenburgisches Konzert übernommen. Mit den Dirigenten Richard Strauss, Herbert von Karajan oder Otto Klemperer hat Mule ebenfalls gearbeitet. In der Kammermusik waren seine liebsten Stücke fürs Solo-Saxofon die Sonate von Paul Creston, die Sonatine von Claude Pascal und die “Sonatine sportive” von Alexander Tscherepnin. (Das war ursprünglich ein Stück für Fagott, das Tscherepnin selbst für Mule umgearbeitet hat.)  

Großen Einfluss auf die Saxofonwelt nahm Marcel Mule zudem als Professor am Pariser Konservatorium. 1942 wurde dort für ihn eine Saxofonklasse eingerichtet – die erste seit 1870, seit Adolphe Sax. 25 Jahre lang konnte Mule, der ja ursprünglich Musikpädagoge werden wollte, junge Saxofonisten zum Examen führen. 87 seiner Absolventen schlossen mit einem Ersten Preis ab, darunter Georges Gourdet (1947) und Guy Lacour (1952), die Mitglieder im Mule-Quartett wurden, oder Daniel Deffayet (1943), Mules Nachfolger am Konservatorium.

Stücke für den Abschlusswettbewerb komponierten unter anderem Henri Tomasi, Ida Gotkowsky, Alfred Desenclos und Marius Constant. Mule selbst fertigte für seine Studenten mehr als 100 Übungs­stücke an, die er größtenteils aus Flöten-, Violin- und Oboen-Etüden adaptierte. Am geeignetsten fürs Saxofon fand er die Oboen-Etüden von Ferling, denen er noch 12 weitere hinzugefügt hat. Übrigens war Marcel Mule auch führend an der Entwicklung des Selmer-Saxofons Mark VI beteiligt. Er hat auch fast 30 Jahre lang ein Metall-Mundstück von Selmer verwendet – obwohl er fand, dass ein hartes Kautschuk-Mundstück den “rundesten Klang” erlaube.