Orchestra | Von Hendrik Reichardt

Beethoven in der Blasorchesterfassung

Beethoven
Foto: Jens Uhlig

Als eine “Wahnsinnszusammenarbeit” bezeichnete Marie-Luise Glahr zu Beginn des Konzerts Ende Mai in der restlos besetzten katholischen Kirche St. Peter und Paul in Potsdam in ihrer kurzen Begrüßungsrede das Projekt. Glahr sprach als Vorsitzende der Potsdamer Bürgerstiftung, die den Abend als Benefizkonzert unter der Schirmherrschaft der brandenburgischen Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kultur, Dr. Manja Schüle, veranstaltet hat. Schüle wiederum hob die Bedeutung der “kühnen Tat” dieser besonderen Aufführung hervor: Denn erstmals weltweit stand an diesem Abend die “Sinfonie Nr. 9 d-Moll Opus 125” von Ludwig van Beethoven in der Transkription für sinfonisches Blasorchester auf einem Programmzettel, realisiert von dem zur Aufführung anwesenden und gefeierten Berliner Komponisten Siegmund Goldhammer. 

Christian Köhler als Chefdirigent des Landespolizeiorchesters Brandenburg oblag die Gesamtleitung des Abends, bei dem außerdem der von Jan Olberg vorbereitete »Berliner Konzertchor« und der »Primaner-Jugendchor« des Georg-Friedrich-Händel-Gymnasiums Potsdam sowie vier Absolventen der Lotte-Lehmann-Stiftung Perleberg – Milena Knauss (Sopran), Weronika Lesniewska (Alt), Oleksandr Vozniuk (Tenor) und Kento Uchiyama (Bass) – als Vokalsolisten mitwirkten.

Mit äußerster Entschiedenheit und Präzision

Spürbare Spannung lag angesichts des besonderen Ereignisses nicht nur beim Publikum, sondern auch bei den Interpreten in der Luft. Als nach dem Auftritt des Dirigenten unmittelbar vor dem geplanten Stückbeginn ein Musiker des Orchesters noch schnell seinen Stuhl verschiebt, behält Christian Köhler die Nerven und wartet diesen für absolute Bereitschaft wichtigen Moment noch ab – und tut gut daran, denn ab da geht alles gut. Mit äußerster Entschiedenheit und Präzision startet Köhler die Aufführung, bei der das Landespolizeiorchester bereits nach wenigen Takten des ersten Satzes einen Vorbehalt gegenüber einer Blasorchester-Wiedergabe des Werkes aus dem Weg zu räumen versteht, nämlich den einer womöglich kleineren dynamischen Bandbreite gegenüber einem Sinfonieorchester. Homogen und klangschön spielen die Holzbläser die Kantilenen des ersten Satzes im Pianissimo genauso wie die lauten eruptiven Passagen des ersten Satzes punktgenau zusammen. 

Das Blech überzeugt bei souveräner Präsenz im Forte gerade dadurch, dass es den Nerv hat, nicht zu früh im Werk »aufzuwurzeln«. Das ist gerade bei der in dieser Kirche heiklen Akustik von äußerstem Vorteil. Im Dirigat zunächst ganz konzentriert und beherrscht, gelingen Köhler alle Tempoübergänge mühelos und formen eine große Harmoniemusik, die raumgreifend ist, aber niemals erdrückend wirkt. Hier wurde schon eine Stärke der Goldhammer’schen Bearbeitung hörbar: Ein unbedingt weitgehend am Original und am Ideal historischer Harmoniemusik der Wiener Klassik orientiertes Klangbild mit Kontrabässen und Instrumenten wie der Altposaune im Orchester, ergänzt durch alle Instrumente eines modernen sinfonischen Blasorchesters. Goldhammer ist darüber hinaus aber in der Verwendung insbesondere der Blechbläser mit Con-Sordino-Passagen im Interesse bestimmter Klangwirkungen selber ganz Kreator, formt aus dem Beethovenschen Streicherapparat blasorchesterspezifische, neufarbig wirkende Klangbilder.

Solopauker mit Prägnanz

Im zweiten Satz glänzt der Solopauker des Landespolizeiorchesters mit äußerster Prägnanz, die Solohornistin in den Cantilenen mit berührend schönen Soli. Christian Köhler zeigt ein sicheres Tempogespür und erzeugt so eine brillante Wirkung des Scherzos, die ohne Zweifel näher am Original dran ist als manche Interpretation auch berühmter Dirigenten, welche die Geschwindigkeit gerade dieses Satzes glauben bis ins Mickey-­Mouse-Hafte schrauben zu müssen. Es ist angenehm zu sehen und zu hören, dass Köhler derartige Mätzchen nicht nötig hat, wie er generell kein Showman am Pult ist, sondern inspirierender Sachwalter der Aufführung, dessen dezidiert einsatzgebende Pointen im Schlagbild daher besonders zünden. Ohne Zweifel setzt dies ein folgefreudiges Orchester voraus, das natürlich außerdem untereinander beim Spiel so gut kommunizieren muss, wie es die Potsdamer tun.

Im dritten, langsamen Satz entfaltet sich der Bläserklang zu einer einmaligen Wärme. Tiefe Hornsoli werden klangvoll dargeboten, und insbesondere die in die Medianten gehenden Blechbläserpassagen verwöhnen das Ohr. Als man Anfang des 20. Jahrhunderts die ersten Beethoven-Sinfonien auf Schellackplatte veröffentlichte, konnte die damalige Aufnahmetechnik die Kontrabässe noch nicht richtig erfassen, daher wurden sie durch Tuben verstärkt. Goldhammer wendet diese Technik auch hier an und erzielt kolossale Effekte: Es klingt stellenweise, als würde eine riesige Kontrabassgruppe spielen.

“Ode an die Freude” 

Im Finale überrascht Goldhammer in seiner In­strumentation noch einmal mit ganz neuen Farben: In der leisen Streicher-Passage mit dem Thema der als Europahymne bekannt gewordenen »Ode an die Freude« etwa exponiert Goldhammer anstelle der zu erwartenden Klarinetten zum ersten Mal am Abend einen reinen Saxofonsatz, der ganz zart und bezaubernd wirkt. Auch die Kombination von Bassklarinette und Kontrabässen beim Bassthema der Europahymne hat Goldhammer sich bis dahin aufgespart. Derart abwechslungsreich werden alle Register des Blasorchesters gezogen, bis dann der 120 Sänger starke Chor einsetzt und mühelos über das Orchester, das hier tatsächlich ähnlich einer riesigen Orgel klingt, hinwegkommt und gleichsam klanglich über ihm zu schweben scheint. 

Unter dem Alpha und Omega im Kirchenraum klingen Friedrich Schillers idealistische Worte in Vermischung mit dem Naturklang der Bläser wirklich, als sei ihre Realisierung nicht nur möglich, sondern zum Greifen nah. Der Bass-Solist Kento Uchiyama geht klanglich und dynamisch sofort in die Vollen, könnte in der tiefen Lage im Satz sogar noch etwas mehr geben. Wunderbar leicht der Tenor Oleksandr Vozniuks und der Alt Weronika Lesniewkas lyrisch schön; hell, aber nicht dominant über das Vokalquartett ist der Sopran von Milena Knauss. Ein Genuss waren auch die Colla-Parte-Soli der Alt- und der Bassposaune. Bei der Freuden-Fuge spätestens macht das Orchester vergessen, dass hier keine Streicher mitwirken und scheint sich ernsthaft in Richtung Elysium zu spielen. 

Blasmusikhauptstadt Deutschlands

Ohne jeden Zweifel ist Potsdam an diesem Tag die Blasmusikhauptstadt Deutschlands. Denn hier wurde nicht nur ein Experiment erfolgreich ausgeführt, das Viele für unmöglich gehalten haben und womöglich für Puritaner klassischer Musik ein Sakrileg bedeuten mag; hier wurde nicht nur der sportliche Beweis erbracht, dass ein hervorragender Klangkörper wie das Brandenburgische Landespolizeiorchester Potsdam unter einer professionellen Leitung mit absoluter Souveränität solch ein Werk ausführen kann, sondern es war im Grunde die Demonstration der bislang immer noch nicht wahrgenommenen, geschweige denn ausgeschöpften klanglichen und künstlerischen Potenz, die ein großbesetztes, sogenanntes sinfonisches Blasorchester hat. Und diese Demonstration hat Siegmund Goldhammer ermöglicht durch seine originalgetreue und gleichzeitig kreative Umsetzung des Originals, denn er weiß sich auch mit 91 Jahren immer noch wie kein Zweiter in die Denkweise und Instrumentation anderer Komponisten hineinzuversetzen und ist in der Lage, deren Vorstellungen – mögen sie Mozart, Bach, Ravel oder Beethoven heißen – auf das Medium Blasorchester zu übertragen. 

Der “Gold-Hammer”

Anders gesagt: Der »Gold-Hammer« erwies sich einmal mehr als das beste verfügbare Werkzeug, um klassische Orchestermusik in die Dimension eines Blasorchesters umzuformen – nicht etwa nur zu übertragen, sondern diese Fassung gegenüber dem Original zu einem zwar andersartigen, aber ebenfalls gültigen Kunstwerk werden zu lassen. Mit kompetenten Arbeitspartnern wie Christian Köhler am Pult, die den Wert von Goldhammers Arbeiten erkennen und den nachschaffenden Künstler schätzen, wird dies hörbar gemacht und zum Erlebnis. Tosender Applaus, Bravi und anhaltende stehende Ovationen waren die Reaktionen des begeisterten Publikums für alle Beteiligten, die mehrmals hervorgerufen und gefeiert wurden.

Dass unterdessen die GEMA zur Einstufung verwertungsfähiger, also in ihrem Sinne kreativer Bearbeitungen völlig aus der Zeit gefallene Maßstäbe anlegt, denen zufolge einer Komposition dazu unbedingt zusätzliche Kontrapunkte hinzugefügt werden müssen, ist bei einem Werk wie der 9. Sinfonie von Ludwig van Beethoven nicht nur lächerlich und wäre im Falle der Ausführung ein Vergehen, nein, es ist angesichts der Leistung dieser Arbeit, deren Kreativität im Innern der Partitur liegt, heutzutage nur schwer erträglich. Andererseits attestiert es solch einer Fassung damit unfreiwillig und auf zynische Weise eine Gleichstellung gegenüber dem Original. Der Abend jedenfalls wurde dadurch nicht im Mindesten getrübt, ganz im Gegenteil: Das Landespolizeiorchester Potsdam hat wieder unterstrichen, dass es zu den ersten Adressen für im Wortsinn sinfonische Blasmusik in Deutschland gehört. So konnte der Wunsch aufkommen, einmal einen gesamten Beethoven-Zyklus in Goldhammer-Fassungen zu hören. Mehr als der Anfang dazu ist gemacht.