Orchestra | Von Hans-Jürgen Schaal

Carl Orff und sein Schulwerk

Orff

Berühmt ist Carl Orff vor allem für seine “Carmina Burana”. Doch noch einflussreicher sind sein Schulwerk und die darin vorgesehenen Percussion-Instrumente. Sie haben weltweit die Kindergärten, Schulen und Musikbühnen erobert.

In den ersten Jahren der Weimarer Republik kursierten viele neue Ideen im pädagogischen und künstlerischen Bereich. Rhythmische Gymnastik und ganzheitliches Denken, Jugendbewegung und Bauhaus, musische Erziehung und Ausdruckstanz, neue Sachlichkeit und Reformpädagogik – das sind nur ein paar Stichworte. Auch der damals junge Komponist Carl Orff (1895 bis 1982) fühlte sich von den aktuellen Strömungen angesprochen, etwa von der “Neuen Tanzbewegung”, die im Münchner Künstlerviertel Schwabing für Furore sorgte. Besonders aber die Ausdruckstänzerin Mary Wigman, die er wahrscheinlich 1923 bei einem Berlin-Besuch erlebte, hat Orff inspiriert: “Sie konnte mit ihrem Körper musizieren und Musik in Körperlichkeit umsetzen. Auch ich suchte das Elementare, die elementare Musik.” Damals fand Orff zu der Überzeugung, dass eine frühe Musikerziehung auf Rhythmik, Bewegung und Körperlichkeit basieren müsse. 

Elementare Musikübungen

1924 gründete er zusammen mit der Künstlerin und Gymnastiklehrerin Dorothee Günther in München die Günther-Schule für “angewandte und freie Bewegung”. Dort wurden – staatlich anerkannt und gefördert – angehende Pädagogen geschult, und zwar in Fächern wie Gymnastik, künstlerischem Tanz oder Atem- und Stimmtechnik. Carl Orff übernahm das Fach Musikerziehung. Dabei entwickelte er im Lauf der Jahre viele Ideen für elementare Bewegungs-, Rhythmus- und Musikübungen mit Kindern. Diese Musikstücke bildeten das sogenannte “Orff-Schulwerk”, das der Komponist zusammen mit seiner Assistentin Gunild Keetman von 1930 bis 1935 veröffentlicht hat. Doch die musikpädagogischen Ambitionen wurden damals von den NS-Machthabern jäh ausgebremst. Man hat den Begriff “Orff-Schulwerk” geächtet, auch die Tanzgruppe der Schule als “unerwünscht” gebrandmarkt – Orff zog sich auf eine beratende Funktion zurück. 1944 wurde das Schulgebäude beschlagnahmt und die Günther-Schule für ganz Bayern verboten.

Einer Initiative des Bayerischen Rundfunks ist es zu verdanken, dass das Orff-Schulwerk nach dem Krieg aber rasch “wiederentdeckt” wurde. Orffs Neufassung seines Schulwerks (wieder zusammen mit Gunild Keetman) erschien in fünf Bänden von 1950 bis 1954, nun unter dem Titel “Musik für Kinder”. In der Nachkriegszeit ist diese Sammlung zum wichtigsten Impuls der neueren Musikpädagogik und Musiktherapie geworden. Carl Orff selbst gründete 1961 in Salzburg das erste Orff-Institut – heute gibt es Schulwerk-Gesellschaften in mehr als 40 Ländern. Sie bieten Ausbildungen nicht nur für Erzieher(innen) und Lehrer(innen), sondern auch für Therapeut(inn)en und Pfleger(innen). Der Einsatz des Orff-Schulwerks in der Musiktherapie – etwa bei behinderten und entwicklungsgestörten Kindern – wurde vor allem von Gertrud Willert-Orff vorangetrieben, der zweiten Ehefrau des Komponisten. Ihr Hauptwerk “Die Orff-Musiktherapie” erschien 1974.  

Am Anfang war die Trommel

Orffs Idee war es, das rhythmisch-musikalische Gefühl der Kinder aus der körperlichen Bewegung heraus zu entwickeln. Dafür wollte er spezielle Kompositionen schaffen und spezielle Musikinstrumente einsetzen. Er und Gunhild Keetman schufen fürs Schulwerk zahlreiche Sprech- und Singstücke, Chor- und Instrumentalwerke. Sie verstanden sie als “Modelle”, um die Kinder zum Singen, Musizieren und Tanzen zu motivieren und sie auch zum Improvisieren, Verwandeln, Kombinieren und kreativen Gestalten anzuregen. Nach Orffs Überzeugung wirkten diese “Modelle” desto unmittelbarer und stärker, je reduzierter und elementarer sie waren.

Unter den Kompositionen sind rhythmische Übungen, Bordun- und Ostinatostücke oder Improvisationen in pentatonischen Skalen, aber auch kunstvollere Formen wie Kanons und Rondos für Blockflöten oder Geigen. Orff holte sich dabei Anregungen aus der mittelalterlichen Musik, die ihn ja auch bei der “Carmina Burana” beflügelt hat. Das Spektrum der “Modelle” reiche, so schreibt die Musikjournalistin Susanne Schmerda, “von der flüchtigen Miniatur bis zur großen ekstatischen Bewegungsmusik, vom trommelbegleiteten Spielaufzug bis zum poetischen Geigenstück, vom Kinder-, Volks- und Tanzlied bis zur Märchenerzählung”. Diese Musik sei “unmittelbar und gehaltvoll” – Orff nannte sie »erdnah, naturhaft, körperlich”. 

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Um die Kinder unmittelbar und haptisch anzusprechen, sollten die Einstiegs-Instrumente eine einladende Direktheit besitzen und kein langes Üben verlangen. Für diesen Zweck entstand das spezielle Orff-Instrumentarium – ein großes Sortiment an Perkussions-Instrumenten vom Trogxylofon im Bassregister bis hin zur Triangel. Orff war dabei von dem Perkussion-Ensemble inspiriert, von dem sich Mary Wigman bei ihren Tanzvorstellungen begleiten ließ. Beraten wurde der Komponist zudem vom Berliner Musikethnologen Curt Sachs, einem Kenner des indonesischen Gamelan und der afrikanischen Trommel- und Balafonmusik. Sachs’ Leitspruch lautete: »Am Anfang war die Trommel.« Der Münchner Klavierbauer Karl Maendler war es schließlich, der die ersten Orff-Instrumente entwickelt und gefertigt hat. Nach dem Krieg übernahm Klaus Becker-Ehmck, ein ehemaliger Schüler Maendlers, die Fertigung. Seine Werkstatt, Studio 49 in Gräfelfing bei München, ist noch heute einer der führenden Hersteller von Orff-Instrumenten.

Drachenmaul und Ratschgurke

Den Kern des typischen Orff-Instrumentariums bilden besondere Metallofone, Xylofone und Glockenspiele in verschiedenen Größen und mit Schlägeln verschiedener Härte. Hinzu kommen Klangstäbe aus Holz oder Metall, die “Orff-Pauke” mit offenem Holzzylinder, außerdem Rahmentrommeln, Schellentrommeln und Holzblocktrommeln, ergänzend auch verschiedene Rasseln und Schellen, Becken, Fingerzimbeln, Triangel, Glockenkranz, Drachenmaul, Gong und allerlei weitere Krach- und Effektinstrumente. Im heutigen Orff-Instrumentarium gibt es viele weitere Klangerzeuger mit “globalen” Wurzeln, darunter Bongos (doppelte Röhrentrommel), Conga (Fasstrommel), Djembé (Bechertrommel), Afuche Cabasa (Gefäßrassel), Agogo (Glockenpaar), Cajon (Kistentrommel zum Sitzen), Kastagnetten (Klappern), Cencerro (Kuhglocke), Caxixi (Flechtrassel), Claves (Klangstäbe), Guiro (Ratschgurke), Palo de Lluvía (Regenstab) oder Maracas (Rasseln). Neuere Erfindungen wie Eggshaker, Boomwhacker und Wah-Wah Tube finden ebenfalls Verwendung.

Die haptisch einladenden Orffinstrumente sind in Schulen, Therapiepraxen und Kindertagesstätten weltweit zu finden und haben seit den 1950er Jahren auch die professionelle Musikpraxis verändert. Die Bedeutung der kinetischen »Perkussivität« in unserer immer virtueller werdenden (Klang-)Umgebung ist dabei kaum hoch genug einzuschätzen. Viele Musiker haben für das Instrumentarium komponiert, darunter Sigrid Abel-Struth, Günter Bialas, Cesar Bresgen, Günther Kretzschmar oder Pierre van Hauwe. In den 1920er Jahren aber, als Orff und Keetman die Idee dazu hatten, war diese perkussive Klangwelt in Deutschland noch sehr ungewöhnlich.

Maendler, der Instrumentemacher, musste das Orff-Xylofon mit Resonanz-Trog praktisch von Grund auf entwickeln. Orffs Assistentin Keetman hat damals selbstständig eine Spieltechnik dafür ausgearbeitet (sie hat auch das Blockflötenspiel autodidaktisch erlernt). Die perkussiven Schulwerk-Musiken – zum Beispiel Stücke für zwei Xylofone, Kastagnetten, Schellentrommel, kleine Trommel und Pauke – brachten in westliche Ohren damals eine ganz neue Klangerfahrung – eine Klangerfahrung, die sich später in Begegnungen mit Latin Music, Worldmusic oder Minimal Music bewähren sollte.

Berühmte Aufnahmen 

1936 (erste Einspielung): Schellackplatte (78 rpm), Jugendorchester der Günther-Schule, München; Leitung: Gunild Keetman

1963-1975 (offizielle Klangdokumentation): “Musica Poetica”, 10 Schallplatten (Harmonia Mundi) bzw. 6-CD-Box (Sony Music); Künstlerische Leitung: Carl Orff & Gunild Keetman; Instrumental-Ensemble, Tölzer Knabenchor, Kammerchor der Staatl. Hochschule für Musik, München, Stuttgarter Sprechchor, Godela Orff (Sprechstimme)

1995 (erste digitale Einspielung): Orff-Schulwerk, Vol. 1 – Musica Poetica; Orff-Schulwerk, Vol. 2 – Musik für Kinder; Orff-Schulwerk, Vol. 3 – Piano Music ((Celestial Harmonies); Künstlerischer Leiter: Wilfried Hiller; Karl Peinkofer Percussion Ensemble, Between mit Godela O (Sprechstimme), Martina Koppelstetter (Mezzosopran), Carolin Widmann (Violine), Sonja Korkeala (Violine), Sabina Lehrmann (Violoncello), Markus Zahnhausen (Blockflöten), Nikolaus Lahusen und Wilfried Hiller (Piano)

Foto: Orff-Zentrum München – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=79623589

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