Orchestra | Von Klaus Härtel

Die Bläserklasse ist ein Gewinn für alle!

Bläserklasse
Fotos: Simon Heydorn Photography

Dass Kinder in einer Bläserklasse mit Musik in Kontakt kommen, ist selbstverständlich – sonst wäre es ja keine Bläserklasse. Und doch ist das nicht einmal das Wichtigste, findet Gernot Breitschuh, der bei der Firma Yamaha für die Bläserklassen verantwortlich ist. Denn wichtig sei es, dass man sich überhaupt um die Kinder kümmere. “Dem Kind ist ja erst einmal egal, was wir da machen.” Natürlich liegt Breitschuh und der Firma Yamaha daran, dass Kinder Musik machen und Freude daran haben. 

Und hier liegt die große Herausforderung einer Bläserklasse: “Ziel muss sein, dass 100 Prozent der Kinder einer Bläserklasse begeistert sind – also auch diejenigen, die von den Eltern ‘geschickt’ wurden.” Das sei eine sehr große Verantwortung und gleichzeitig auch der Grund, dass “Bläserklasse mal ausprobieren” keine gute Idee sei. “Wenn man mit einer Bläserklasse anfängt, dann muss es gut sein!” Chefredakteur Klaus Härtel hat sich mit Gernot Breitschuh unterhalten.

Vor mittlerweile 25 Jahren wurde man im deutschsprachigen Raum auf das aus den USA stammende Konzept des Erlernens von Musikinstrumenten im Klassenverband aufmerksam. Wie wird das in den USA praktiziert und wie wurde man hier darauf aufmerksam?

In den USA und in Kanada gibt es den “theoretischen” Musikunterricht nach unserer Art nicht. Musikunterricht ist hier »Bandmusic«. Man lernt eben ein Instrument in der Schule. Wolfgang Feuerborn, ein Musiklehrer aus Ostwestfalen, hatte nach diesem Vorbild selbst das Trompete spielen erlernt. Für seinen Musikunterricht an einem Gymnasium hat er ein Konzept entwickelt. 

Also hat er “die Zeichen der Zeit” erkannt? Welche Rolle spielt die Firma Yamaha dabei?

Ich würde sagen, Wolfgang Feuerborn und Michael Tankus haben die erkannt. Feuerborn kam Mitte der 90er-Jahre auf Yamaha zu und bat um Instrumentensponsoring für sein Konzept. In seinem Anschreiben deutete er zudem an, dass er sich sein Konzept als neue Form eines allgemeinen Musikunterrichtes sehr gut vorstellen könnte. Michael Tankus, selbst studierter Schulmusiker und wirklich sehr guter Gitarrist, war damals bei Yamaha für den Bereich “Schulmusik” bei Yamaha zuständig. Tankus ist ein visionärer Typ. Als er den Brief von Feuerborn las, muss er ganz hibbelig geworden sein. Es sah sofort, welches Potenzial in diesem Konzept lag. Dann ging alles sehr schnell, 1996 gab es bereits die erste Fortbildung und von da an wurden sehr viele Lehrerinnen und Lehrer darauf aufmerksam. Feuerborn und Tankus haben über viele Jahre her­vorragend zusammengearbeitet. Ein glück­licher Zufall für die Schulmusik! 

Yamaha ist ein Konzern mit entsprechenden Zielen, das darf man ja ruhig sagen. Das Besondere in diesem Fall ist aber, dass man Feuerborn und Tankus machen ließ. Man ließ den beiden weitgehend freie Hand, ließ sie ausprobieren und scheitern und wieder etwas ausprobieren. Yamaha hatte Vertrauen und Geduld. Vielleicht muss man erwähnen, dass Michael Tankus sehr sprach- und redegewandt ist. Er kann unglaublich gut überzeugen, bleibt immer sachlich und ist dabei humorvoll. Vielleicht war das sogar mehr wert als die eigentliche Idee. 

Bläserklasse

kurz&knapp 

Yamaha hat anlässlich des 25-jährigen Jubiläums viele Aktionen geplant. Dazu gehören auch drei neue Auftragswerke der Komponisten Thomas Doss, Gerald Oswald und Marc Jeanbourquin sowie eine Best of-Ausgabe mit den beliebtesten Titeln der bestehenden Bläserklasse-­Ausgaben. Diese Werke werden in diesem Jahr eine besondere Rolle spielen: Sie wurden kürzlich unter anderem auf dem diesjährigen Bläserklassen-Kongress, der erstmalig in Kooperation mit dem Bundeskongress Musikunterricht in Mannheim stattfand, von Yamaha und Hal Leonard Europe vorgestellt.

www.blaeserklasse.de

Welche didaktische oder pädagogische Philosophie steckt hinter der Bläserklassenidee?

Gruppenunterricht in den Registern und progressiver Musikunterricht in der Schule arbeiten Hand in Hand. Die Schülerinnen und Schüler werden im Instrumentalunterricht so vorbereitet, dass sie das im Orchesterunterricht Geforderte bereits können. Dann können die Musiklehrerinnen- und -lehrer darauf aufbauend ihren Musikunterricht gestalten. Eine enge Zusammenarbeit und gegenseitige Akzeptanz der beteiligten Lehrpersonen sind also sehr wichtig. Kurz gesagt: Ein Trompetenlehrer macht aus seiner Schülerin keine Trompeterin, sondern er bringt ihr bei, auf der Trompete zu können, was sie im Musikunterricht in der Schule bzw. der Bläserklasse können muss. Das ist ein anderer Ansatz und ein völlig anderes Unterrichtsziel. Da sind einige Kompromisse nötig und es knirscht so mancher Zahn, wie ich weiß. Als Instrumental­pädagogin oder Instrumentalpädagoge muss man sich daran gewöhnen. 

Und doch würde ich vermuten, dass man das US-amerikanische System nicht 1 zu 1 auf Deutschland übertragen kann. Oder doch? Was wurde angepasst?

Vielleicht muss man die Frage vom eingesetzten Lehrwerk aus beantworten. “Essential Elements” von Hal Leonard, immer noch das am häufigsten eingesetzte Lehrwerk, kommt aus Amerika und ist tatsächlich 1 zu 1 übersetzt worden. Natürlich wird nicht nur das Konzept von Herrn Feuerborn, sondern auch der persönliche Musikunterricht jeder einzelnen Schule und jeder Lehrerperson den örtlichen Möglichkeiten und Ansprüchen angepasst. Es wäre ja auch schlimm, wenn das nicht so wäre! Seit ein paar Jahren gibt es aus dem Helbling Verlag den “Leitfaden Bläserklasse”. Ein ausgezeichnetes Lehrwerk von deutschen Schulmusikern für den hiesigen Musikunterricht! Eine unglaubliche Fleißarbeit und ein fantastisch gelungenes Werk für den Musikunterricht! Beide Lehrwerke haben aber das gleiche, schier unlösbare Problem: Zeit. Es sind leider nur 90 Minuten pro ­Woche im Normalfall. Nimmst du die Essential Elements, “spielen die ja nur”. Nimmst du den Leitfaden, “spielen wir ja nie”. 

Wenn Sie ein kurzes Resümee nach 25 Jahren ziehen müssen: Wie fällt es aus? 

Mein Resümee? Für alle Beteiligten ein Gewinn. Für alle! Schule, Musikschule, alle Lehrerinnen und Lehrer, die Schülerinnen und Schüler, Eltern, Instrumentenhersteller, Händler, Werkstätten…soll ich weiter aufzählen? Ich kann guten Gewissens behaupten, dass jährlich 30 000 Kinder in einer Bläserklasse mit dem Musizieren beginnen. Wow! Und es sind ganz sicher viele mehr, denn ich kann nur über die Schulen sprechen, die irgendwann unsere Yamaha-Instrumente gekauft haben und darauf zum Teil seit 25 Jahren spielen. Ich glaube, man kann inzwischen von einer Millionen Menschen ausgehen, die irgendwann in einer Bläserklasse gespielt haben. Alles positiv also? Wie viele von denen, die angefangen haben, spielen heute noch? Ist es uns gelungen, jeden Einzelnen für viele Jahre zu begeistern? Konnten wir Talente erkennen und entsprechend fördern? Ich persönlich bleibe kritisch. Trotzdem: Wir haben viel gut gemacht und ich bin immer noch überzeugt davon, dass die Teilnahme an einer Bläserklasse ein fantastischer Weg in die Welt der Musik sein kann. 

Ist denn das Bläserklassen-System überhaupt ein wirkliches System? Also ein starres Gebilde, in dem man nicht links und rechts schaut? 

Ja, es gibt ein System. Und man sollte es kennen, bevor man nach links und rechts schaut. Viele sehr gute Schulmusikerinnen und Schulmusiker haben aus der Erfahrung heraus Arbeitsmaterialien erstellt und Schulkonzepte für diverse Schulformen entwickelt. Teil des Systems ist eine Ausbildung der Unterrichtenden. Viele fangen leider an, eine Bläserklasse zu leiten, ohne vorher eine Fortbildung besucht zu haben. Das halte ich für schwierig. 

Wichtig ist ja, dass Kinder zunächst einmal überhaupt mit Musik in Kontakt kommen, oder? Wie kann die Bläserklasse hier helfen und vor allem nachhaltig agieren?

Warum ist das wichtig? Für wen? Ist aktives ­Musizieren wirklich wichtig? Es ist schön, keine Frage. Aber wichtig? Bläserklasse kann aus sich heraus nicht helfen, das können nur die handelnden Personen. Und diese Personen zu unterstützen ist mein Job für Yamaha und für die Bläserklasse. Herauszufinden, was gebraucht wird und dafür sorgen, dass es bald nicht mehr fehlt. 

Aber wenn man sich in manchem Musik­verein umhört, gilt eine Bläserklasse immer als das Top-Instrument zur Nachwuchs­gewinnung. Ist dieser Ansatz falsch? 

Der Ansatz ist nicht grundsätzlich falsch. Ein ­Musikverein hat Strukturen und meist ein, zwei oder mehrere Jugendorchester. Da kann man sich als Kind wunderbar entwickeln. Für falsch halte ich zu glauben, dass die Bläserklasse kurzfristig ein über Jahre gewachsenes Problem ­lösen kann. Vielleicht hilft eine Bläserklasse für Erwachsene? 

Und: Nachwuchsmangel bedeutet ja zuerst einmal, dass man nicht genug Musiker hat. Warum ist das so? Eine ehrliche Analyse wäre zunächst vielleicht wichtiger, als eine Bläserklasse zu gründen. Gerade Musikvereine fragen zurzeit sehr häufig nach Rat. Mit denen gehe ich einen strengen Fragenkatalog durch und empfehle manch schmerzhaften Weg. Heute eine Bläserklasse in der dritten Klasse einer Grundschule zur Rettung des Vereins zu gründen bringt, wenn es gut läuft, in sechs bis acht Jahren die ersten neuen Musiker ins Hauptorchester. Kann man so lange warten? 

Und wie sollte man als Vereinsverantwort­licher an “die Sache” herangehen?

Mich anrufen! (lacht

Man muss das Kind und dessen Vorstellung von Hobby und Freizeit in den Mittelpunkt stellen. Nicht das Nachwuchsproblem des Vereins. Wichtig ist, dass sich die örtlichen Vereine nicht im Weg stehen, die Kinder nicht zum Spielball der diversen Vereine werden. Auch Sportverein und Feuerwehr sehen die Kinder als “ihren” Nachwuchs. Oft finden die Übungsabende am gleichen Tag statt, damit sich die Kinder entscheiden. Was für ein Unsinn! Man glaubt, dass die Kinder aufgrund der Belastung durch die Schule nur zu einem Hobby Lust und Zeit haben. Innerhalb der Musik sollte man das Musizieren mehr als Spiel verstehen. 

Gernot Breitschuh 

“Mich anrufen!” ruft Gernot Breitschuh im Interview scheinbar scherzhaft aus, als er gefragt wird, wie man an “die Sache” herangehen soll. Aber: Der Bläserklassen-Macher meint das ernst! Hier sind seine Kontaktdaten:

Nach 25 Jahren gibt es natürlich – wie bei vielen Erfolgsgeschichten – Nachahmer. Und Kritik wird gelegentlich dahingehend ge­äußert, dass “die Firmen” ja hauptsächlich Instrumente verkaufen wollen. Wie berechtigt ist die Kritik und wie gehen Sie damit um?

Ich stimme zunächst zu, denn es stimmt ja, dass wir unsere Instrumente verkaufen wollen. Soll man daraus ableiten, besser keine Bläserklasse zu gründen, damit kein Instrumentenhersteller daran Geld verdient? Hauptsächlich hat wohl jede Firma das Interesse, ihre Ware oder Dienstleistung zu verkaufen. Unsere Ware heißt zum Beispiel “Bläserklasse”. Darin enthalten ist vor dem Kauf der Instrumente sehr viel Unterstützung in allen organisatorischen Belangen. Durch mich persönlich – ich fahre etliche 1000 Kilo­meter pro Jahr quer durch Deutschland, Österreich und die Schweiz –, durch zertifizierte Fachhändler, sogenannte System-Partner, und durch viele freie Mitarbeiter. Das passiert kostenlos und selbstverständlich ohne “Kaufzwang”, selbst wenn eine Bläserklasse gegründet wird. Mein Ziel ist es immer, dass “es” so gut wie möglich gemacht wird. Nur wenn wir alle das Beste ­geben, kommen und bleiben die Kinder bei der Musik. 

25 Jahre sind eine ordentliche Zahl. Und diese spricht auch für sich. Wie sieht die Zukunft für die Bläserklasse aus? Muss das Konzept nicht ohnehin immer angepasst werden – an die jeweiligen Umstände und vor allem an die Menschen?

Seit 25 Jahren passt sich das Konzept an und bleibt im Kern doch gleich. Natürlich muss man modern bleiben und sich anpassen. Aber nicht anbiedern. DIE Bläserklasse gibt es ja nicht. Es gibt etwa 1500 Schulen und Vereine, die wir “Yamaha BläserKlasse” nennen. Jede einzelne hat ihre eigene Zukunft. Ist vielleicht die Gegenwart auch die Zukunft, da man jedes Jahr wieder neu anfängt? Mit gesundem Selbstbewusstsein und maßvoller Selbstkritik, mit der richtigen Mischung aus Freude und Ernsthaftigkeit und dem Gespür für das, was in der jeweiligen Bläserklasse möglich ist, wird die Bläserklasse als Musikunterricht der Schule und Nachwuchs­orchester im Musikverein mehr und mehr zu einem üb­lichen Weg, ein Instrument zu lernen. 

Herr Breitschuh, vielen Dank für das Gespräch!