Orchestra | Von Christina Hampp

Bayerische Kinder ohne Musikunterricht?

Musikunterricht

Wegen schlechter PISA-Ergebnisse reagieren Landespolitiker scheinbar reflexartig mit der Abschaffung musisch-kreativer Fächer, Musikunterricht entfällt. Zunächst Bayern, dann Thüringen… Mit diesem Beitrag, der ständig aktualisiert wird, wenn neue Reaktionen reinkommen, wollen wir aufmerksam machen, zur Diskussion anregen.

Als im Dezember 2023 die Ergebnisse der PISA-Studie auf den Schreibtischen der Schulen, Schulämter und Ministerien lagen, war der Schock groß: Noch nie hatten deutsche Schüler so schlecht abgeschnitten, wie in den letzten Erhebungen. Noch nie waren die Lücken der Grundschulkinder in Deutsch und Mathematik so groß wie heute. Auch die Lesekompetenz erschien besorgniserregend – vor allem im internationalen Vergleich sinkt Deutschland im Ranking der Studie immer weiter ab. 

Nun hat Kultusministerin Anna Stolz schnelles Handeln angekündigt. Mit der sogenannten „PISA-Offensive“ sollen nun mehr Stunden in Deutsch und Mathematik die Misere beheben. Laut des Kultusministeriums soll an bayerischen Grundschulen wieder mehr „Zeit und Raum für Lesen, Schreiben und Rechnen geschaffen“ werden. 

Um dies realisieren zu können, sollen die Stunden in den musisch-kreativen Fächern Kunst, Musik und Werken gekürzt werden. Zunächst schien es zudem so, dass Pläne bestehen, diese Fächer zudem in einem „Fächerverbund“ zu unterrichten. Diese Absichten hat das Kultusministerium jedoch inzwischen dementiert. Im Moment sieht es jedoch trotzdem so aus, als ob eine feste Stundenzahl für die Fächer Kunst, Musik und Werken und Gestalten nicht mehr vorgesehen wäre. Die Stunden können so innerhalb einer Schule flexibel gehandhabt werden. 

Was sagen eigentlich die Betroffenen an der Basis zur neuen PISA-Offensive des Bayerischen Kultusministeriums?

Sabine Graf ist seit vielen Jahren als Lehrerin an einer bayerischen Grundschule tätig. Auch sie kann die Ergebnisse der letzten PISA-Studie aus ihrer eigenen Erfahrung bestätigen. Viele Kinder hätten immer größere Probleme in kognitiven, motorischen und sozialen Bereichen. „Die Konzentrationsspanne ist in den letzten Jahren rapide gesunken, so dass viele Kinder dem Unterricht nur noch kurze Zeit mit Aufmerksamkeit schenken können. Die korrekte Lautbildung beim Lesen fällt auch deutschsprachig aufgewachsenen Kindern zunehmend schwer und auch in der 3. und 4. Klasse ist die Lesekompetenz in manchen Jahren so schlecht, dass viele Kinder auch einfache Texte nicht mehr ohne Hilfe verstehen können.“ Auch die verminderte Leistungsfähigkeit in Mathematik kann sie bestätigen. Und eben auch in sozialen Bereichen hätten viele Kinder große Defizite.

Graf hat deswegen Verständnis, dass Ministerin Stolz etwas an der Misere ändern will. „Ganz klar, da muss etwas unternommen werden.“ Aber die daraus gezogenen Schlüsse empfindet sie nicht als zielführend. Die zusätzlichen Stunden in Mathematik und Deutsch werden ihrer Ansicht nach nichts an den grundlegenden Problemen ändern.

„Meiner Meinung nach müssen wir uns grundlegende Gedanken darüber machen, wie sich die Lebenswelt von Grundschulkindern in den vergangenen Jahrzehnten verändert hat. Warum ist es so, dass Kinder sich sehr viel schlechter konzentrieren können als noch vor 20 Jahren? Und wie können wir dem entgegenwirken? Warum werden Kinder motorisch immer schwächer, so dass selbst das Halten eines Bleistiftes zur Herausforderung wird? Und woher kommen die sozialen Defizite bei unseren Kindern? An der Stundentafel kann es eigentlich nicht liegen, da diese sich in den vergangenen Jahrzehnten kaum verändert hat. Deswegen werden ein oder zwei Stunden mehr oder weniger in den Kernfächern keines dieser Probleme lösen.“ 

Problematische Entwicklung

Als problematisch empfindet die Lehrerin, die auch Musik unterrichtet, die nun angestrebte Entwicklung in den musischen und künstlerischen Fächern. 

„In Musik kann ich beobachten, wie Kinder, die sonst große Konzentrationsprobleme aufweisen, plötzlich begeistert alle Strophen eines Liedes auswendig lernen. Sie vertiefen sich in das Spiel der Instrumente und Rhythmen. In Musik kann jedes Kind etwas Tolles leisten. Auch wenn es vielleicht in Mathematik und Deutsch gerade nicht so gut läuft.“ 

Nach einer Musikstunde erlebt sie häufig, dass unruhige Kinder sich besser einordnen, konzentrieren und im Team arbeiten können. „Macht es da Sinn, dass wir den Kindern genau diese Stunden kürzen, die ihnen so viele positive Erlebnisse bescheren und so wichtig für ihre Entwicklung sind?“

Auch dass die Musikstunden eventuell nur noch auf freiwilliger Basis unterrichtet werden und nicht mehr in vollem Umfang in der Stundentafel festgelegt werden, sieht sie sehr kritisch. „Viele meiner Kollegen unterrichten Musik fachfremd, nachdem es an Fachlehrern mangelt. Sie haben oft gewisse Hemmungen, mit den Kindern zu Singen oder auf Instrumenten zu musizieren. Vielleicht fällt in diesen Klassen dann Musik komplett unter den Tisch. Das wäre ein riesiger Verlust!“

Können wir uns das leisten?

Können wir es uns in Zeiten, in denen es laut PISA um die Bildung der bayerischen Schülerinnen und Schüler schlecht bestellt ist, leisten, ein Unterrichtsfach zu kürzen, das Sprachentwicklung und Konzentrationsfähigkeit nachweislich fördert? Ist es sinnvoll Musik nur noch dann zu unterrichten, wenn der Stundenplan zufällig eine kleine Lücke lässt, obwohl das Musizieren das phonologische Gedächtnis schult, das beim Spracherwerb der Mutter- oder einer Fremdsprache so wichtig ist? Sollten wir nicht die Sozialkompetenz und Disziplin nutzen, die durch gemeinsames Singen entsteht?

Vor nur wenigen Tagen konnten wir den Medien entnehmen, dass Gewaltdelikte an Schulen von Jahr zu Jahr zunehmen. Brauchen wir deswegen nicht gerade Konzepte, die unsere Kinder ausgeglichener, großzügiger und kooperativer machen? Und sind wir nach solchen Erkenntnissen nicht geradezu verpflichtet, den Musikunterricht, die Chöre und Instrumentalgruppen in den Grundschulen zu stärken, anstatt ihnen den Raum zu entziehen?

Der Bayerische Musikrat ist erschüttert

Der Bayerische Musikrat zeigt sich von dieser Entwicklung erschüttert. Bereits in seiner ersten Reaktion auf die Meldung aus München befürchtet dieser, dass der Musikunterricht deswegen mancherorts komplett entfallen könnte. Nun könne man nur noch auf eine Verbesserung der musikalischen Ausbildung der zukünftigen Lehrkräfte setzen, damit Musik in der Grundschule nicht untergehe. Obwohl Forschende aus alle Bildungsbereichen immer wieder aufgefordert werden, ihre Forschungsergebnisse zu teilen und somit dem lange angestrebten Wandel im Bildungssystem ein wissenschaftliches Fundament zu verleihen, kamen bei der Planung der neuen Stundentafel im Fach Musik weder Fachdidaktiker noch Musikverbände zu Wort, so Dr. Helmut Kaltenhauser, Präsident des Bayerischen Musikrates. „Musik hat einen Wert an sich! Aber Musik und das gemeinsame Musizieren fördern auch Konzentration, Lern- und Sprachvermögen und Werteerziehung.“ Deshalb fordert er weiterhin zwei Stunden konstanten und durchgängigen Musikunterricht in der 3. und 4. Klasse. 

Auch der Deutsche Musikrat und die vier bayerischen Chorverbände wendeten sich bereits nach kurzer Zeit in einem offenen Brief an die Ministerin. Keinesfalls solle die Erweiterung der Stundentafel zu Lasten des Musikunterrichts gehen, der großen Anteil an der sozial-emotionalen Bildung unserer Kinder habe. 

Den Musikunterricht abschaffen?

Während Ministerin Stolz nun nicht müde wird kundzutun, das Fach Musik keinesfalls abschaffen zu wollen, haben in den letzten Wochen nicht nur Eltern und Verbände protestiert. Immer wieder haben sich bekannte Musikschaffende zu Wort gemeldet. So zum Beispiel der international bekannte Bariton Christian Gerhaher. Er befürchtet in einem Interview mit dem Merkur, dass Bayern seiner Verantwortung für den Kulturauftrag, der in der Verfassung verankert ist, nicht mehr zuverlässig nachkommen werde. Er sieht darin auch die generelle Haltung der bayerischen Landesregierung „Kompetenzen auf Kosten der Kreativität zu vermitteln“ und einen „Versuch der Bayerischen Staatsregierung seit Jahrzehnten, Kultur als etwas Obsoletes….zu charakterisieren.“ 

In einem offenen Brief haben auch zahlreiche andere Künstler die Ministerin und den Ministerpräsidenten Dr. Markus Söder aufgefordert, eine andere Lösung für das Pisa-Problem anzustreben. Unterzeichnet ist dieser Brief mit vielen bekannten Namen: den Violinistinnen Julia Fischer und Anne-Sophie Mutter, Wladimir Jurowski, Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper und Sir Simon Rattle, Chefdirigent des Chores und des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks. Besonders wichtig sei es, so Fischer, dass alle Kinder die Möglichkeit bekommen, mit Musik und Kunst in Berührung zu kommen. Wo sollte das am ehesten möglich sein, als in der Grundschule, wo alle Kinder gemeinsam unterrichtet werden. Man dürfe laut Fischer und Gerhaher, die „Pflege der Künste“ nicht allein „den Museen, Theatern, Orchestern und Gymnasien“ überlassen.

Rücknahme des Beschlusses unwahrscheinlich?

Eine Rücknahme des Beschlusses halten die meisten Beteiligten für äußerst Unwahrscheinlich, obwohl ähnliche Maßnahmen in Baden-Württemberg 12 Jahre getestet und danach wegen Untauglichkeit verworfen wurden. Die Diskussion wird also mit viel Emotion weitergeführt werden. Jeder, der selbst musiziert, ob als Laie oder Profi, hat selbst bereits erfahren, wie viel positiven Effekt diese Beschäftigung auf intellektuelle und soziale Strukturen hat. Doch haben wir für diese Gefühle und Erfahrungen auch handfeste Beweise?

Ein gefragter Gesprächspartner, wann immer es um das Thema „Lernen“ geht, ist der Neurowissenschaftler Dr. med. phil. Manfred Spitzer. Seit Jahrzehnten beschäftigt er sich am Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen in Ulm unter anderem mit den Auswirkungen des Musizierens auf die menschliche Gehirnentwicklung. 

Positive Effekte von Musik

So wurde von 2017 bis 2022 unter seiner Leitungen eine großangelegte Studie durchgeführt, die empirisch untersuchen sollte, ob positive Effekte von Musik auf das Lernen von Kindern nachzuweisen seien. Zahlreiche Kindergärten in Oberösterreich beteiligten sich daran. Während in ausgewählten Einrichtungen vermehrt Musikstunden und musikalische Projekte durch Musikpädagogen durchgeführt wurden, wurde in anderen Kindergärten vermehrt vorgelesen. In den Kontrollgruppen wurde keines der beiden Angebote durchgeführt.

So kamen zahlreiche oberösterreichische Kinder mehrmals in der Woche in den Genuss des Singens und gemeinsamen Musizierens. In den begleitenden Untersuchungen stellte sich nach 6, 12 und 18 Monaten heraus, dass diese Kinder ihr phonologisches Gedächtnis, das entscheidend am Erlernen einer Sprache beteiligt ist, deutlich verbessert hatten. Zudem war deutlich zu erkennen, dass die Kinder deutliche Fortschritte im Verstehen von Sätzen und in der gesamten Sprachentwicklung gemacht hatten. Die Kinder zeigten sich insgesamt kognitiv flexibler und wesentlich gefestigter in ihrer Impuls- und Emotionskontrolle. 

Kinder, welche mehr vorgelesen bekamen, konnten im selben Zeitraum ihre Sprachkompetenz ebenfalls ein wenig verbessen, wurden von der Musikgruppe jedoch deutlich übertroffen. In allen anderen Bereichen zeigten sich in den Lesegruppen keinerlei Effekte. Die Kinder der Kontrollgruppe ohne vermehrten Musikunterricht und ohne Vorlesekonzepte konnten verständlicherweise von keinem der Fortschritte profitieren. 

Freundlicher, kooperativer und großzügiger

Eine andere Studie, welche vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig durchgeführt wurde, zeigte eindrucksvoll, dass gemeinsames Singen Probanden in anschließenden Überprüfungen deutlich freundlicher, kooperativer und großzügiger machte. 

Bereits früher haben kanadische Forschende bewiesen, das Musizieren das Denken in allen Bereichen verbessert, Sprachentwicklung und Sozialverhalten fördert und Selbstregulation und Disziplin verbessert.

Wer sich für die Themenfelder Musik, Entwicklung, Lernen und Bildung im Allgemeinen interessiert, kennt mit Sicherheit die ein oder andere der Studien zu diesem Thema. Auch Ministerin Stolz dürften Sie bekannt sein. Trotzdem wird das Fach Musik in der Grundschule eine Abwertung erfahren – ob durch Stundenkürzung oder das Auflösen der festgelegten Stunden in der Stundentafel. 

Mit einer echten, lange ersehnten Bildungswende haben wir es hier keinesfalls zu tun. Vielleicht ist es ein „Weiter so“ mit mehr vom „Alten“, viel eher vielleicht sogar ein Rückschritt in die genau falsche Richtung. Dem Schreiben des Bayerischen Musikrats lässt sich kaum etwas hinzufügen: „Ein Kürzen von Musikstunden ist kontraproduktiv zu den vom Ministerium angestrebten Zielen.“