Brass, Orchestra, Wood | Von Patrick Hinsberger

Was ist Dispokinesis, Frau Stockmann?

Dispokinesis
Angelika Stockmann (Foto: Katarzyna Salamon)

Angelika Stockmann studierte Cello an der Folkwang Hochschule in Essen. Seit über 30 Jahren arbeitet sie zudem auch als Dispokinesis-Trainerin mit eigener Praxis und hilft Musikerinnen und Musikern mit fokaler Dystonie, Ausdruckshemmungen oder anderen Formen von Überbelastungssyndromen. 2022 hat sie ein wunderbares Buch veröffentlicht, in dem sie ihre Erfahrungen zum Thema Üben ausführlich zu Papier gebracht hat. Es trägt den passenden Titel: “Üben hilft eben doch”.

Nach Ihrem Cello-Studium haben Sie eine Ausbildung in Dispokinesis begonnen und arbeiten seit mehr als 30 Jahren in eigener Praxis als Dispokinesis-Lehrerin. Über die Jahre haben Sie darüber hinaus auch einige Lehraufträge an deutschen Musikhochschulen wahrgenommen. Können Sie in ein paar Sätzen erklären, was Dispokinesis ist und wie sie Musikerinnen und Musikern helfen kann?

Gerrit Onne van de Klashorst, der Begründer der Dispokinesis, war Pianist und hat durch einen tragischen Unfall jung zwei Finger einer Hand verloren. Daraufhin begann er ein Studium der Physiotherapie. Wahrscheinlich auch motiviert durch seinen Vater, der Solo-Cellist am Concertgebouw Amsterdam war. Er interessierte sich stark dafür, was die Grundvoraussetzung dafür ist, dass man frei spielen kann. Gemeinsam mit einem befreundeten Neurologen, Carl Schröters, erdachten sie sich regelmäßig Übungen. 

Sie stellten dabei fest, was dem einen als sinnvoll erschien, auch den anderen jeweils weiterbrachte: Nämlich die Voraussetzung dafür zu schaffen, dass ich mich ungehemmt ausdrücken kann. Da wir als Menschen der Schwerkraft unterliegen, bedeutet dies, dass wir eine Stabilität von unten brauchen. Bei vielen Musikerinnen und Musikern habe ich allerdings manchmal das Gefühl, dass sie nicht wissen, dass sie Füße haben. Sie nutzen diese Stabilität also gar nicht. Sie fangen dann meist an, dies im Oberkörper zu kompensieren, was dazu führt, dass es sich nicht frei und leicht anfühlt. 

Das bedeutet, dass die Lösung oftmals nicht in den Details am Instrument zu finden ist, sondern in erster Linie im körperlichen Bereitstellen von Möglichkeiten. Erst dann lässt sich, in einem zweiten Schritt, der Oberkörper feinmotorisch bearbeiten. Dispokinesis bedeutet das Bereitstellen von Möglichkeiten. Sowohl für die Bühne, aber auch für mich als Künstlerin/Künstler, sodass ich meinen persönlichen Weg finden kann. Dies unterscheidet die Dispokinesis auch am meisten von allen anderen Körperarbeitsangeboten. Sie bearbeitet die konkreten Fragen immer auch am Instrument. 

Sie meinen im Gegensatz zu Feldenkrais und Alexander-Technik beispielsweise?

Genau. Auch in der Dispokinesis gibt es dieses Basis-Programm – die sogenannten Originals. Damit geht es immer los, um überhaupt die Voraussetzung dafür zu schaffen und die Sensomotorik zu schulen. Danach geht es dann in die Arbeit mit dem Instrument. Ich persönlich habe auch viel Erfahrung mit der Feldenkrais-Methode gesammelt, genauso wie der Begründer der Dispokinesis – bevor er seine eigene Methode entwickelte.

Können Sie uns eine Übung aus dem Basisprogramm demonstrieren?

Wir beide sitzen auf unseren Stühlen vor dem Bildschirm. Wenn ich beginne mit den Fußsohlen die Schuhsohle (wenn ich Schuhe trage) anzufassen und besonders mit den Großzehenballen die Sohle nach unten zu modellieren, dann merke ich, dass eine kleine Streckreaktion durch meinen Körper fährt und sich mein Oberkörper öffnet. Gleichzeitig senken sich meine Schultern und vielleicht fällt Ihnen auch auf, dass meine Stimme tiefer wird und ich etwas langsamer spreche.

Durch diese Aufmerksamkeit, die Sie mir gerade entlockt haben, hat sich meine muskuläre Verfassung verändert. Zusätzlich bin ich in meiner Selbstwahrnehmung etwas verlangsamt. Ich nenne das gerne die »Fühllupe«. 

Kann man sagen, dass die Dispokinesis lehrt, sehr genau auf den eigenen Körper zu hören und versucht zu ihm eine Verbindung herzustellen?

Ja, das stimmt. Denn nur wenn ich spüre, was ich tue, kann ich es beeinflussen. 

Ich möchte allerdings nochmal auf das sehr genau eingehen. Schließlich kann das auch manchmal zum Fallstrick werden. Viele Musikerinnen und Musiker würden über sich sagen, dass sie sehr genau darauf achten, was sie tun. Und die, die mit fokaler Dystonie in meine Praxis kommen, würden sogar sagen, dass sie in ihrer Karriere immer versucht haben, an alles zu denken. Wir merken hier bereits, dass einmal von Spüren und einmal von Denken die Rede ist. Vielleicht meinen wir jedoch, wenn wir »denken« sagen eher »kontrollieren«. 

Kontrollieren bedeutet sehr genau spüren. Und, wenn Sie jetzt auf dem Stuhl sitzend, sehr genau spüren, was sie da gerade tun und wie Sie sitzen, dann werden Sie feststellen, dass Sie einfrieren und versteifen. Gerade deshalb ist es so wichtig zu unterschieden: Spüren (und bewusst werden) heißt nicht, alles zu kontrollieren. Sondern es kann für Musikerinnen und Musiker auch heißen, sich weniger zu konzentrieren. Schließlich können wir uns sowieso nur auf eine Sache gleichzeitig konzentrieren. Der Rest wird dann sympathisierend mitlaufen.

Um diese Art der Selbstwahrnehmung zu schulen, hat der Gründer der Dispokinesis ein pädagogisches Besteck entwickelt, dass sich »Entlocken« nennt. Das bedeutet, dass ich etwa eine Geschichte erzähle, ein Bild gebrauche, damit unwillkürlich eine bestimme Reaktion entsteht. Anstelle, dass ich konkrete Arbeitsanweisungen à la »tu dies« gebe. Wenn ich in der Vorbereitung auf ein Konzert immer nur versuche, alles zu kontrollieren, wird die Musik auf der Bühne nicht ins Fließen kommen. 

Ich hänge noch an Ihrem Satz, dass es auch ein zu viel an Aufmerksamkeit geben kann und, dass es wichtig ist, auch das Loslassen zu trainieren. Dabei kam mir das Zitat aus Ihrem Buch in den Sinn: “Ziel des Üben ist Vergessen.”Wie schaffe ich es denn ganz konkret, dieses Loslassen im Übezimmer zu trainieren?
Üben
»Üben hilft eben doch!« ist im Wißner-Verlag erschienen (ISBN 9783957862822)

Im Buch schreibe ich, dass das gute Üben der Sonaten-Hauptsatzform gleicht: A B A

A: Ich liebe das Stück / Ich lasse mich lieben vom Stück. Damit meine ich, sich von der Musik begeistern zu lassen.

B: Ich organisiere das Stück. Das ist natürlich mit A verbunden, da ich bereits eine Vorstellung des Stücks habe. In dieser Phase bin ich sehr aufmerksam und picke mir konkrete Stellen heraus, mit denen ich etwas tun möchte. 

A: Ich liebe das Stück. Das bedeutet, dass ich meine Aufmerksamkeit wieder etwas herunterschrauben kann. Wenn ich das tue, werde ich feststellen, dass ich in meinem Blick sofort de­fokussiere (mein Blick ist nicht mehr so scharf gestellt). Ich beginne dann anders zu denken: ich fühle beispielsweise eher wie ich spreche/singe/spiele. Allerdings kontrolliere ich mich dabei nicht, sondern spüre/ beobachte es lediglich.

Sie schreiben auch, dass man mit dem Üben dann aufhören sollte, wenn es sprichwörtlich am Schönsten ist. Wieso ist das so?

Üben hat mit Wiederholungen zu tun. Wir wissen, dass unser Gehirn eine gewisse Anzahl an Wiederholungen benötigt, um zu merken, dass es sich um eine wichtige Information handelt. Wenn wir also etwas Neues lernen, bilden sich zunächst vorübergehende Synapse-Verbindungen, die sich auch wieder lösen können – sofern wir nicht dranbleiben. 

Gleichzeitig hat die Wissenschaft festgestellt, dass sich unser Gehirn schnell beginnt zu langweilen. Bereits nach wenigen Wiederholungen verliert es »das Interesse«. Das bedeutet, dass ich den »Geschmack« der Tätigkeit von Mal zu Mal weniger intensiv wahrnehme. Meine Ausführung wird mechanischer und der Fühl-Input, den ich eigentlich brauche, wird weniger deutlich. Das ist der Grund, warum wir nicht zu lange an etwas bleiben sollen. Im Übrigen sollten wir spätestens nach 25 Minuten sowieso eine Pause machen. Das lernt heutzutage jeder Studierende in der Embodiement-Vorlesung. Wenn ich viel zu arbeiten habe, ist es gut, oft zu wechseln. Dazu ist es wichtig zu wissen, dass unser Gehirn weiter mit unseren Erfahrungen arbeitet, auch wenn wir die Tätigkeit nicht mehr ausüben und uns beispielsweise mit Freunden treffen. Wenn es dann zu wenig Pausen gibt, verpassen wir die Chance dieses »Einspeicher-Vorgangs«.

Demnach wäre sinnvoll, weiterhin die Dinge zu wiederholen, die ich bereits kann? Dann könnte unser Gehirn kontinuierlich die Synapsen-Verbindungen stärken…

Genau. Das ist zum Beispiel auch genau das, was Kinder im Anfänger-Unterricht oft tun. Besonders, wenn sie sehr jung sind. Sie kommen dann nach einer Woche wieder in den Unterricht und haben alles gespielt, was sie bereits können – nur das, was noch nicht gut lief, wurde ausgelassen. Allerdings tut das Kind intuitiv genau das Richtige. Nämlich die Grundlagen seines Spiels – das was leicht ist und Freude macht – weiter verfestigen. 

In Ihrem Buch stellen Sie am Anfang Ihren Leserinnen und Lesern die Fragen, wann sie bereit zum Üben sind. Also welche Rahmenbedingungen müssen erfüllt sein, damit gutes Üben möglich ist. Welche Antwort haben Sie für sich hier gefunden?

Sicherlich Ruhe und ein guter Aufmerksamkeitsmodus. In Erschöpfung und Müdigkeit können wir nicht gut üben. Im gegenteiligen Fall, wenn wir übererregt sind, allerdings auch nicht. Es gibt zudem das Phänomen von Morgen- und Abendmenschen. Darauf sollten wir, sofern es uns möglich ist, Rücksicht nehmen. 

Ich kann mir jedoch vorstellen, dass der Permanentanspruch von Musikerinnen und Musikern ständig üben zu müssen, dazu führt, dass sie glauben »viel helfe viel«. Das führt dazu, dass sie Zeit in der Übekabine vergeuden, weil sie sich nicht bewusst machen, ob sie bereit zum Üben sind. Wahrscheinlich würde es sogar reichen, von einem Zwei-Stunden-Zeitfenster, das ihnen zur Verfügung steht, die ersten fünf bis zehn Minuten mit einer Körperübung zu verbringen und lediglich die übrige Zeit zum Üben zu nutzen. Das kann bedeuten, dass ich mich sammle und etwas wacher werde oder meine Erregung herunter regle, sodass die verbleibende Zeit wirklich zur Verfügung steht. 

Das betrifft natürlich auch die Dauer des Übens. Es gibt Musikerinnen und Musiker, die sagen, wenn ich nur 20 Minuten zur Verfügung habe, fange ich gar nicht erst an. Jedoch können 20 Minuten ein wunderbares Zeitfenster sein, um etwas – »Slow-Food-mäßig« – durchzufühlen. Wir alle kennen das auch, dass wir nach einer solchen Sequenz hochzufrieden sein können.

Wir haben jetzt sehr viel gehört über die Möglichkeiten der Dispokinesis. Hat die Dispokinesis Grenzen? Wenn Forschung sehr viel über das Üben zusammengetragen hat und die Dispokinesis das Üben weiter verbessern kann, dann sollte der erfolgreichen Karriere nichts mehr im Wege stehen, oder?

Die Entwicklung in der Musikwelt zeigt uns, dass immer bessere Unterrichtsmethoden und Techniken dazu führen, dass Musikerinnen und Musiker sich schneller weiterentwickeln können. Und das ist schön. Gleichzeitig müssen wir sagen, dass Musik ein menschliches Ausdrucksmittel ist – damit zitiere ich Heinrich Jacoby. Er meinte damit, dass Musik in diesem Sinne erst einmal keine Kunst und keine Profession ist.

Natürlich spielt auch Begabung eine Rolle. Das habe ich im Studium ebenfalls erlebt. Es gab Kommilitonen, die mit einer großen Leichtigkeit und wenig Aufwand ihre Ziele erreicht haben. Ob ich das nun Begabung nenne, oder die Summe meiner Möglichkeiten ist dabei zweitrangig.

Die Frage, die Sie mir hier nun zum Schluss stellen ist symptomatisch und sie berührt mich. Sie berührt mich in dem Sinne, weil ich hier oft Musikerinnen und Musiker sitzen habe, die mit einer Vorstellung von dem, was sie erreichen wollen, unterwegs sind, die sie jeden Tag deprimiert. Mit der Vorstellung in eine Ausbildung zu gehen – oder gar in ein Leben –, es sei alles erreichbar, wenn ich mich nur genug anstrenge und optimiere, ist etwas ganz Schwieriges. Das Einzige was hilft, ist zu schauen, was aktuell gerade ansteht. Es kann ungeheuer lähmend sein, sich jeden Abend an dieser Messlatte zu messen. Meine Erfahrung ist die, dass es hilft, herauszufinden, welcher Typ man eigentlich ist und wohin es mit einem geht. Dort, wo ich mit Freude übe und spiele, werde ich mich schnell entwickeln. Mit Sicherheit! Aber das ist etwas anderes als zu sagen, es gibt optimale Bedingungen und es muss dann das optimale Ergebnis dabei herauskommen.

Hinsberger

Der Podcast “Wie übt eigentlich?”

Patrick Hinsberger studierte Jazz-Trompete an der Hochschule der Künste in Bern. In seiner Podcast-Reihe “Wie übt eigentlich..?” spricht er einmal im Monat mit Musikerinnen und Musikern aller Genres über das Intimste und Geheimnisvollste in ihrem Alltag: das Üben. Die Folgen kann man auf allen bekannten Streamingdiensten, wie Spotify, Apple Podcast & Co., kostenlos anhören. 

www.what-is-practice.de